Unterwegs im Magicbus

Monat: Juli 2024 (Seite 1 von 3)

Zum Polarmeer mit der letzten Mitternachtssonne des Jahres

Mit quietschendem Keilriemen geht’s weiter.
Erster Einkauf im finnischen Supermarkt Sale. Mit uns ist auch die Journalie des „Artic press photos“ da: hochstylish mit Rauschbart, Melone und gemusterter Rentierstrumpfhose über orangenen Gartencloqus. Die Globetrottels sind schockverliebt noch vor dem Frühstück: in so viel unerwarteten Stil hoch über dem Polarkreis!

Für uns liegen heute Kurkkusalaatti (schätzungsweise Gurkensalat?), Leipäjuusto (schätzungsweise etwas Käseartiges in Crepeform) und „inländisches Ohrholz, geschmolzene“ (laut Übersetzer) in der Auslage. Chaga gibt es leider nicht.

Hinter Inari wird das Land schnell weiter und die Bäume kleiner. Die Autoschlange in unserem Schlepptau biegt nach 20 Kilometern links ab: noch 343km für sie bis ans Nordkapp, wir fahren ziemlich alleine weiter geradeaus.

Weites, weites Land im einsamen Norden Finnlands. Diese Straße fühlt sich verlassener an als der Alaskahighway – dort fährt ja wenigstens noch irgendwer.

Kurz vor Utsjoki –Grenzstadt zu Norwegen—halten wir an einem Kirchendorf. Wie Gammelstad, nur kleiner, wurden auch hier Häuschen für die Samen errichtet, damit sie als brave Neuchristen regelmäßig in den Gottesdiensten erscheinen konnten.

In Utsjoki könnten wir nun rüber nach Norwegen hopsen, wir wollen aber noch nicht. Also wieder rechts ab: die letzte finnische Straße 970 immer am Fluss entlang fahren. Bis ins wirklich allerletzte finnische Dorf Nuorgam. Von hier aus geht es wahrlich nun nur noch nach Norwegen weiter.

Es ist vollkommen verrückt, wie schnell eine sich Szene ändern kann; lediglich dadurch, dass man eine Grenze passiert. Links fließt noch immer der gleiche Fluss, noch immer die gleichen Hügel blicken rechts und links stumm. Hinter dem verlassenen Zollhäuschen aber explodieren plötzlich die Farben. Die schmallippigen Weidenröschen sind zurück. In Scharen.

Die Uhren drehen sich eine Stunde rückwärts – obwohl wir weiter gen Osten fahren. Vielleicht wird es ja auch deshalb heller!? 😉

Im ersten Dorf hinter der Grenze wollen wir eigentlich die Nacht bleiben. Bis wir den Campingplatz sehen.
Grundsätzlich würde ich behaupten, dass wir nicht allzu zimperlich sind, wenn es um praktische Übernachtungsplätze geht. Auf einer Baustelle neben der Hauptstraße zu campieren aber passt nun so gar nicht zu dem lebensfrohen Pink, mit dem uns dieses Land mal wieder empfangen hat.
Da wir eine Stunde geschenkt bekommen haben, ist es noch sehr früh am Tag. An der monströsen Brücke ums Eck (auch hier wollen wir nicht bleiben) bekommt der Magicbus Öl und planen wir also um. Nächster Stopp: Polarmeer.

Zu der Strecke, die uns nun erwartet, gibt es keine treffenden Worte.
Nur so viel: Für Norwegen muss es im Himmel einen Sonderbeauftragten geben. Anders kann es gar nicht sein.

130 Kilometer rollen wir durch Welt im Urzustand. Sattgrüne Wiesen auf weichen Hügeln, schroffnackte Felswände im Hintergrund. Baumlos, alpin auf 300 Meter über Meeresspiegel. Mit Hochgebirgswind. Die Seen und Flüsschen lapislazuliblau.
Unverwässert und ohne menschlichen Unfug. Eine endlose Weite, die vergewissert, dass es für jedes Wesen auf der Welt, einen passenden Ort gibt. Immer und zweifellos!
Eine wilde, gnadenlose Schönheit, die zu Tränen rührt.

Als wir am Ende der Straße in Kongsfjord auf das Polarmeer stoßen, haben wir keinen Atem mehr.

Dass hier ein paar Rentiere am Polarstrand rasten, muss eigentlich nicht besonders erwähnt werden: es war vollkommen klar.
Sehr wahrscheinlich besitzen auch Rentiere –genauso wie Bären—einen Sinn für Schönheit.
Wenn ich schon äsen muss, dann mach ich´s doch am Nordpolarmeer. Gemeinsam mit den Kumpels.

Auf dem kleinen Campingplatz am Ende der Welt –ach, ich mag´s ja kaum noch schreiben—haben wir wie immer Glück.
Auf dem schönsten Fleckchen am Platz –einem der letzten—parkt gerade ein Norweger aus. Also parken wir ein…

Die Möwen kreischen, die Sonne scheint.
12 Grad in „land´s end“ Berlevåg, Norwegen. Der arktische Wind sorgt für den entsprechenden Polarchill, ich lege mir eine Decke über die Schultern.
Pünktlich zum letzten Tag des Jahres, da die Sonne weder auf- noch untergeht, sind wir angekommen: an unserem nördlichsten Punkt dieser Reise.
Es ist die allerletzte Nacht, die allerletzte Mitternachtssonne.

Bevor hier – im hohen Norden– die Tage sich langsam wieder neigen.
Hinein, in einen ewig dunklen Winter, der uns als Lichtkinder nie erhaschen kann…

Das Volk der Sonne und des Windes…

Kurz vor Sonnenuntergang – kurz vor Mitternacht—piepst plötzlich Chouchous Aurora-App:
Achtung, Achtung! Um Sie herum besteht eine 25%tige Wahrscheinlichkeit Nordlichter zu sehen.
Ein Witzbold – in einem Land, in dem die Sonne nicht untergeht. Aber schön ist´s trotzdem: dieses Gefühl, sich mit einer Viertel-Nordlichtswahrscheinlichkeit ins Bett zu kuscheln.

Der Wind bläst uns heute weiter gen Norden. Erstaunlich, dass das noch immer geht.
Vorbei an Huskyfarmen und –natürlich!—einem Albino-Rentier.
Die Geister, die ich rief…
Manchmal glaube ich selbst, dass wir in einer „scripted reality“ leben.

Bis nach Inari, ins Zentrum der samischen Kultur, sind es läppische 80 Kilometer (inklusive Wortwitz für die ganz Findigen).
Die Sami, das indigene Volk des Nordens; Volk der Sonne und des Windes, dem ähnlich viel Unrecht getan wurde wie den Indigenen Nordamerikas.

Nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Christianisierung gibt es heutzutage immerhin ein samisches Parlament im Norden Finnlands. Das klingt unabhängiger und einflussreicher als es tatsächlich ist: das „Sameting“ bleibt dem finnischen Justizministerium unterstellt. Seine Hauptaufgabe besteht darin, für Sprache, Kultur und der Stellung der Indigenen einzutreten.
Ein Anfang.

Das imposante Gebäude im Herzen des kleinen Dorfes Inari beherbergt eine große Bibliothek (leider geschlossen), den Parlamentssaal (heute nicht aktiv), samische Kunstausstellungen und Mode (hinter Glasvitrinen), einen Handwerksladen (sündhaft teuer), einen Infopoint (nicht besetzt, da sehr wahrscheinlich verkatert wegen des bis gestern dauernden Festivals) und die Mensa. Da dackeln wir rein.

Unter samischen Klängen, die auf eine durchdringende Art berühren (unergründliches Menschenherz), stehen wir mit großen Augen unter der modernen Karte.

Neben perfektem Blaubeerkuchen (nehmen wir!) gibt’s Cappuccino, Yogitee, alle Arten diverser Lattes. Und Chaga.
Da wir keinerlei Ahnung haben, was das sein soll und die Kellnerin es kaum übersetzen kann (irgendein Pilz!?) bestellen wir: Einen Chaga, bitte. Den „dirty pakurilatte“.

Wie sich später –dank Tante Google- herausstellt, ist der Chaga ein Birkenpilz: ein „Schiefer Schillerporling“, der lediglich im hohen Norden wächst. Mehrere Jahre muss er an einer Birke reifen, bevor sich die „Pilzbrocken“ von der Rinde ernten lassen.

Volksmedizinisch wird dem Pilz eine krebshemmende, immunstimulierende und entzündungshemmende Wirkung nachgesagt. Toll. Und schmecken tut er auch noch: ganz und gar nicht nach Pilz, sondern irgendwie erdig, holzig, mit einem Hauch von Vanille.
Beim nächsten Supermarktbesuch heißt es also: Augen auf. Denn ein magischer Birkenpilzbrocken, der heilen kann, gehört eigentlich in jedes gute Frühstück.

Dem Campingplatz in Inari eilt sein Ruf voraus. Im Internet finden sich zahlreiche Rezessionen, die von einem knurrigen Platzvater berichten. Beinahe ein investigativer Spaß, so etwas abgleichen zu können.
Der Knurrpapa ist scheinbar nicht vor Ort. Stattdessen seine wortkarge Frau, die auf den ersten Blick auch keine naturtalentierte Robinsonclub-Animateuse abgegeben würde. Trotzdem ringen wir ihr nach fünf Minuten ein Lächeln ab, das uns glücklich macht.
Beim gemeinsamen Gang über das Camp weist sie uns schönsten Platz von allen zu.

Nun stehen wir also direkt am Inarisee, unserem Heiligen Ort Nr. 188.
Den Sami ist dieses zerklüftete Wasser heilig – als Pforte in andere Welten.

Bei Wind und Sonne hören wir nun den raschelnden Birkenblättern zu, die eine detaillierte, samische Geschichte über diesen See flüstern. Und die geht so:

Ein Mann, 2000 Jahre alt, bunkerte sich vermeidliche Unsterblichkeit, indem er drei Strahlen des Nordlichts in einer Lampe gefangen hielt.
(Exkurs = Das Nordlicht: in der Welt der Sami die Seele der Verstorbenen. Diese drei kamen der Erde in einem unbedachten Moment zu nahe, der Alte angelte sie einfach weg und pferchte sie in die Lampe ein.)
Die Strahlen fanden ihre unerwartete Gefangenschaft so semi, rangen dem Alten aber einen Deal ab: So lange wir hier drin sind, bekommst du von uns Unsterblichkeit. Aber du musst uns junge Seelen bringen.
Der Alte fand´s ein gutes Geschäft, schlug siegesgewiss ein und lud einen jungen, unbedarften Kerl aus dem Dorf in seine Höhle ein – scharf auf dessen Seele.
In diesem Hinterhalt aber zerbrach plötzlich die Lampe und die drei Strahlen konnten mit dem Nordlicht, das durchs Höhlenfenster schien, entwischen – zurück in den Himmel, ins Jenseits, wo sie herkamen.
Der Deal platzte, die Seele des Jungen ward gerettet. Der Alte aber zerfiel zu Staub – für immer.

Es gibt vieles, was wir nicht verstehen. Zwischen Himmel und Erde, zwischen Feuer und Wasser, zwischen Nordlichtern und Lampen, die Unendlichkeit bunkern können.
Vielleicht sollten wir mehr der Sonne hinterher lauschen und den Wind beobachten!? Im Land des Volks der Sonne und des Windes.
Sie könnten es uns vielleicht erklären!? Wenn wir die Ohren spitzen, die Sinne schärfen, die Augen öffnen. Für Alltägliches und die kleinen Wunder.
An diesem heiligen See, dem Inari.
Der eine der allerersten Schöpfungen der Nordgötter war.

Albino-Ren kurz vor Russland und Konfettikanone auf der Haut

Der Wecker hat an diesem Sonntagmorgen keine Chance. Möge er bimmeln, wie er will: der überglückliche Körper will liegenbleiben – mit der Erinnerung des vollen Herzens von gestern. Darf er. Heute, am finnischen „Sunnuntai“ (=Sonntag), wird ausgeschlafen. So lange, bis alle Träume durchgeträumt sind.

Frühstücksei gibt’s um halb elf, zwei Stunden lang. Danach schnüren wir die Wanderschuhe, um den Weg auf den Gipfel des Kiliiopääs in Watschelangriff zu nehmen.
Das Infozettelchen neben der Holzsauna informiert uns, dass in dieser Gegend Braunbären, Luchse, Wolfe und Vielfraße leben. Wo auch immer diese sich in der weiten Tundra (die sich von hier bis in die Mongolei zieht) verstecken wollten. Einen Vielfraß aber wollten wir schon immer einmal treffen.

220 Höhenmeter geht es stramm bergan. Vorbei am letzten Baum und Gestrüpp, das dunkle Beeren trägt.
Der Kiliiopää ist lediglich 546m hoch, trotzdem liegt der Gipfel oberhalb der Baumgrenze.

Oben angekommen blicken wir auf endlose Weite des Nationalparks, den Blick gen Russland gerichtet, dessen Grenze in nur 40 Kilometern Entfernung liegt. Hinter den Wellen der Berge.

Wie auch in westlichen Zeitungen zu lesen, zieht von dort leider eine Regenfront steil auf uns zu. Entsprechend bleiben wir nicht allzu lang –den Gipfelsturm genießend.

Der große Regen aber bleibt aus. Lediglich ein freundlicher Erfrischungssprüh aus Osten – wie schön, wenn´s politisch doch ähnlich wäre.

Auf dem Abstieg explodiert eine dunkle Beere bei ihrer Examination in der Hand und verteilt ihren Saft in unserem Auge.

Vielleicht nehmen wir deshalb die Welt danach noch etwas bunter wahr!? Halluzinogener Beerensaft über die Glupscher aufgenommen?!
Oder aber: es ist einfach magisch schön hier!?

Rentiere grasen in der Weite und kreuzen unseren Weg. Mit Geweihen wie aus dem Märchenbuch. Es kann niemals genug davon sein — weil ihr Anblick einfach glücklich macht.

Der perfekte Pilz im Heidenkraut.

Ein Ast, der sich für einen Kranich hält: Kunstwerk der Natur.

Farbexplosion der Moose.

Über Stock und Bach. Durch eine unglaubliche Landschaft.

Und am Schluss steht ein Albino-Rentier am Horizont: zweifelsohne ein Tier aus der Fabelwelt. Ein Cousin des Einhorns …

Nach sechs Kilometern Spaziergang darf der Sport für heute reichen. Außerdem wartet ab vier die Sauna auf mich. Chouchou kann sich für ein eng-an-eng schwitzen mit Fremden leider gar nicht begeistern und bleibt daher lesend im Magicbus zurück: Ruhe genießen.

Mein Ausflug trägt mich für einen kurzen Augenblick mitten in die finnische Seele.
Denn mit mir schwitzen noch Nele, zwei Frauen, deren Name ich nicht erfrage, sowie eine Mama mit Kleinkind – beide mit lustigen Saunahüten auf. Allesamt Finninnen.
Aufguss für Aufguss wird´s immer lustiger im Schwitzhüttchen. Und lauter. Und lebendiger.
Falls jemand behaupten sollte, Finninnen seien maulfaul, dem darf gesagt sein: in der Sauna sind sie es ganz gewiss nicht!
In den nächsten zwei Stunden werde ich nicht nur all meine finnischen Fragezeichen im Kopf los, sondern lerne obendrein zum Thema: Rauchsauna und dem meditativen Atmen beim Eisbad. Etwas, das sofort ausprobiert werden muss.

Der Eiskreisel hat heute 13 Grad Wassertemperatur. Das sind schlappe vier Grad weniger als gestern.

Nach dem zweiten Saunagang bin ich bereit –sehr tief atmend, wie Nele mich gelehrt hat– die Runde in Angriff zu nehmen. Es ist eines von diesen „bereit seins“, das genau zwei Schwimmzüge überdauert.
„Breathe!“ sagt Nele – nur in meinem Kopf. Denn Gott sei Dank atmete ich mich komplett alleine durch den Kreisel.
Die Finninnen hätten ansonsten sicherlich direkt den Sanitär gerufen: Kommen Sie schnell. Ein nicht-finnischer Eiszapfen treibt asthmatisch auf der Wasseroberfläche, die Zehen sind ihm leider schon abgefallen.

Ich habe keine Ahnung, wie ich es durch den Eiskreisel schaffe. Ich habe keine Ahnung, warum meine Füße mich zitternd die Leiter wieder hochtragen – ich hab sie gänzlich abgeschrieben und fühle den Kontakt zu den Stufen nicht mehr. Schleppe mich auf die Bank, noch immer alleine und atme. Und atme und atme.
Bis plötzlich –von einem Moment auf den anderen– jede meiner Zellen euphorisch zu kribbeln beginnt. Ein entrücktes Feuerwerk der Lebendigkeit, wie Selbstentzündung im Kalten. Als hätte jede einzelne Pore plötzlich eine Partytröte. Konfettikanonen auf der Hautoberfläche.
Unfassbar. Ein so wild-verrücktes und erhebendes Gefühl, das sich einfach nicht beschreiben lässt…

Zurück in der Sauna schaut Nele mich ungläubig an: „You did the whole circle?“
Ja, Du hast ja gesagt, das Atmen da durch hilft.
Anscheinend aber hat Nele das nur theoretisch gemeint: “That´s way to cold for me.“ Und die anderen nicken stumm.
Ach Nele, Du verrückter Hund. Ich danke Dir trotzdem so sehr, dass Du mich mit dem Tipp „Just breathe!“ einmal durch den Eiskreisel getragen hast. Alleine hätte ich das nicht geschafft.
Und das Feuerwerk danach war es mehr als wert…

Rot wie ein Feuermelder und entspannt wie ein dösendes Lama dackele ich nach Stunden beseelt-entrückt zurück zum Magicbus.
Innerlich bereit für eine zweite Runde Albino-Ren. Oder meinetwegen erste Runde Einhorn.
Auf einem „state of mind“ wie diesem wurden finnische Fabeln geboren.
Ich bin mir ziemlich sicher.

Über den Polarkreis zum Weihnachtsmann, an den Rentieren vorbei in die Finnsauna — und das alles als Auringopaistepossus!

Seit Wochen warte ich auf diesen Moment: ein Samstag der Highlights. Denn heute ist es so weit: wir kreuzen den Polarkreis. Und: wir treffen den Weihnachtsmann in seiner Residenz. Tatsächlich. Aber ganz in Ruhe und von vorne…

Über unserem Flüsschen steht um halb sieben dichter Nebel. Ein guter Grund, sich nochmal umzudrehen, denn für uns ist ja eigentlich erst halb sechs. Der Sonne ist das natürlich vollkommen wumpe: hier oben geht sie –obwohl Mittsommer bereits fünf Wochen her ist—eh kaum unter: strahlt bis kurz vor Mitternacht, macht ein flottes Nickerchen und dämmert dann bereits wieder um drei.

Zwei Stunden später ist die Luft klar – als sei außer Spesen nichts gewesen. Ein weiterer Hochsommertag in Skandinavien bricht jetzt auch für uns an.

Beim Frühstück beschäftigen wir uns mit der finnischen Sprache, einer der angeblich schwersten Sprachen der Welt; einer mit den längsten Wörtern – nicht nur wegen der ganzen Doppelbuchstaben.
Beginnen wir mit den Basics: Danke heißt „Kiitos“.
„Sonnenscheinschwein“ ist schon schwieriger: „Auringopaistepossu“. Als solche sitzen wir beim ersten Kaffee: Auringopaistepossus mit Flussblick.
Mehr Vokabeln können wir uns für heute nicht merken.
Doch! Eine noch: „Joulupukki“, finnisch für: Weihnachtsmann.

Sechs Kilometer nördlich von uns liegt der Polarkreis. Mit erwartungsvollem Tuckern eiern wir um zehn Uhr los.
10:10h: riesiger Tusch und Freudentränchen in den Augenwinkeln:
Der Magicbus hat uns tatsächlich bis an den Polarkreis gefahren. Unglaublich!
Der Polarkreis, finnisch: Napapiiri!

Und das nächste Highlight lässt nicht lange auf sich warten.
Breitengradgleich liegt es auch hier: der originale Heimatort des Weihnachtsmanns.
Im Santa Claus Village kann man ihn das ganze Jahr besuchen: den echten Joulupukki.

Natürlich ist dies ein wahres Globetrottelshighlight: aufzudecken, dass es ihn doch gibt! (Auch wenn wir nie daran gezweifelt haben.)

Neben zahlreichen Souvenirshops –fest in der Hand der Weihnachtselfen– und einem Postamt, dass alle Kinderbriefe an den Weihnachtsmann sicher aufbewahrt…

…geht es in einen dunklen Schneckengang mit ungefähr siebzehn Wirbeln.
Siebzehn düstere Wirbel aufgeregt schleichen, siebzehn Mal gespannt um die Ecke gucken, ob er endlich schon da ist.
Mit jeder Umdrehung verliere ich im Schnitt drei Lebensjahre. 44 – 41 – 38 – 35 – 32 ….
Als wir endlich, endlich da sind –im Inneren der Schnecke, ganz alleine—bin ich vier und falle dem dicken Mann, der auf dem Sessel sitzt, fröhlich-erleichtert in die Arme.
In diesem Moment weiß ich: die Weihnachtsmagie ist echt. Und meine Freude aufrichtig. Ich wusste, dass es Dich gibt.
Denn ein Kinderherz kann nicht trügen…

Beseelt wanken wir aus dem Weihnachtshaus. Die Elfen haben ein Foto von dem Weihnachtsmann und uns geschossen und wollen es uns nun verkaufen. Es ist herzzerreißend schön und leider auch budgetzerreißend teuer. Daher muss es –schweren Herzens– am Polarkreis bleiben.
Wie gut aber, dass Chouchou immer so lieb war und der Joulupukki ihm ganz, ganz ausnahmsweise erlaubt hat, ganz, ganz kurz zu filmen…

Hinterm Polarkreis sind wir –genau genommen—in der Arktis. Bei 26 Grad.
Wir rollen über grünbewaldete Straße, die irgendwann zu Militärlandeplatz wird (NATO lässt grüßen) und dann wieder zu Waldstraße. Entzückende Bushaltestellen in kleinen Orten, die aus zwei Häusern bestehen, ein Albinorentier am Straßenrand, finnspezielle Werbungen, die Seen polarblau wie mein Kleid.

Als die Gegend hügeliger wird biegen wir rechts ab in Richtung des Bergs Kiliiopää im Urho Kekkosen kansallispuisto Nationalpark. (Ortsnamen wie immer bitte merken – werden später abgefragt).
Am paradiesisch mäandernden Flüsschen hat die freundliche Dame an der Rezeption noch ein Plätzchen für uns.

Die Sauna sei inklusive, sagt sie. Welche Sauna? Die finnische natürlich.
Auf meine verschämte Frage, wie man die denn hier so nutzt (mit oder ohne Badekleidung?), lacht sie laut: Wie auch immer Du möchtest! Wichtig sei nur, eine finnische Geisteshaltung vorab tief zu verinnerlichen: An der Bushaltestelle immer fünf Meter Abstand – in der Sauna nackt Haut an Haut. „This is finnish mind,“ sagt sie. Ich glaub, ich mag sie. Die Finnen.

Keine zwanzig Minuten später sitze ich mit laut schwatzenden Finninnen in klatschnasser Hitze. Die Älteste der Truppe ist nicht zimperlich: alle drei Minuten knallt ein doppelter Aufguss auf die heißen Steine, meine Poren sind nach 30 Sekunden so weit geöffnet wie mein Weihnachtsmannherz.
Abgekühlt wird im paradiesisch mäandernden Flüsschen, das die Schwimmrunde anhand eines Eiskreisels knallhart vorgibt. Vorzeitiges Aussteigen unmöglich.

„Very fresh,“ ruft die unzimperliche Aufgussfrau, der nicht entgangen ist, dass mein Finnisch sich auf „Auringopaistepossu“, „Joulupukki“ und „Kiitos“ beschränkt, mir fröhlich zu. Ziemlich frisch, das könnte man so sagen. Falls man noch Luft danach hätte. Die Zehen blau, der Körper taub – der Seele aber geht es danach wie selten: neugeboren unter der Polarsonne.

Beim Abendessen besucht uns ein Rentier im magicbus´schen Vorgarten, es dreht gerade seine Abendknabberrunde durch den Park. Einmal das Flüsschen rauf, durchwaten, auf der anderen Seite zurück. Bei der Sauna galoppiert es über die Brücke, um die gleiche Runde ein zweites Mal zu drehen. Diesmal essen wir nicht mehr, sondern tippen.

Was für ein Tag. Gesegnet unter der Sonne der Arktis…und das nächste Rentier schon im Anmarsch.

It´s finnish — and not the end!

Bottenwieck, den nördlichsten Ostseebusen, der im Winter gänzlich zugefroren ist, verlassen wir mit aufgeatmeten Herzen. Dieser Ort ist so schmeichelnd zu unseren Seelen gewesen, dass wir es dem sympathischen Menschen an der Camptheke bei Abfahrt explizit nochmal unter die Nase binden müssen: was für einen „good spirit“-Ort er hier geschaffen hat.
„You make my day“, sagt er und wird rot. „And you –seriously– made ours!” Am liebsten hätten wir einander nun wohl umarmt – fällt mir auf, als ich trottelig über die Türschwelle stolpere.

Letzter Stopp in Schweden ist der Maxi ICA an der Grenze zu Finnland.
Da unsere Vorräte gänzlich leergefuttert sind, treten wir mit dem großen Einkaufswagen an. Wie gut, dass wir obendrein hungrig sind – dann vergessen wir garantiert gar nichts.
Tubenkäse, Knäckebrot, Toscabullars, vegane Kaviarpaste türmen sich über Mückenspray, Vanillequark, Blaubeeren und Krümelkaffee, bevor wir beginnen, den Wagen richtig voll machen. Zu unserer unterzuckerten Verteidigung sollen die zu erwartenden Preise Finnlands dienen. Zwar nicht ganz so hart wie in Norwegen, heißt es, aber trotzdem deutlich teurer.

Eine Kirche, ein Nordkapschild und schon sind wir da:

Finnland. Suomi.
Das Land mit der Sprache, die in jedem Wort mindestens einen Doppelbuchstaben zu haben scheint.
Kein Globetrottel ist je hier gewesen. Entsprechend euphorisch fällt unsere Grenzkreuzung aus: im Magicbus wird laut jubiliert – auch wenn uns kein Zöllner in Empfang nimmt. (Gott sei Dank!)

Die ersten hundert Kilometer Finnland, die wir in unserem Leben durchrollen sind entspannend gleichtönig. Sehr heiße Sonne auf sehr vielen Birken, eine Menge Wald neben sehr feiner Straße. Die Elchschilder haben Finndesign – als sähen die Elche anders als in Schweden aus. Nur „Viltstängsel“ hat es hier –anders als im Nachbarland—keinen einzigen: Moose roaming free in Finnland.

Unser erster Stopp in diesem Land soll kurz hinter Rovaniemi sein: auf dem Napapiirin Saarituvat Camp.
Eine dunkelhaarige Schönheit heißt uns willkommen – ganz und gar nicht so knurrig, wie man es den Finnen angeblich so nachsagt, sondern eher nordisch elegant, freundlich-zurückhaltend mit einem Hauch von Arktis. Einen Kilometer vom Polarkreis entfernt.
Am Fluss Kemijoki parken wir in erster Reihe ein. Nach 30 Minuten mit aufgespannter Bergerplane, da die Sonne so knallt. Ein bisschen verrückt ist das schon: da rollte man dem mitteleuropäischem Sommer knappe 2000 Kilometer nach Norden davon und fängt sich einen Sonnenbrand am Polarkreis, wenn man nicht aufpasst.

An unserem ersten finnischen Nachmittag teilen wir die Freude der Finnen über diesen unglaublichen Sommertag: Finnen zu Jetski, Globetrottels ohne alles zu Wasser.

Schwimmen in einem finnischen Fluss – das habe ich noch nie gemacht. Und es ist noch tausend Mal besser als erwartet….

Nordisches Sommerferienparadies

Zwei Tage spielen wir mit:
Sommerferienparadies an der nordschwedischen Ostsee.
Das heißt: lange in der Sonne sitzen, zwei Bücher lesen.

Im flachen Wasser waten – so flach, dass man bis nach Finnland laufen könnte. Seehund auf allen vieren mimend, der sich später auf einem der tausend Steine sonnt und schnarcht.

Einem kleinen Sommergewitter beim vorbeiziehen zuschauen und -hören.
Einmal um die Nase der Halbinsel joggen – und sich wie eine Olympionikin dabei fühlen, die ebenso olympiagoldverdächtig „Selbstdusche aus Kanister“ kann.

Alle Vorräte, die der Magicbus so hergibt auffuttern – auf drei Nächte waren wir nicht eingerichtet, eigentlich sollte es nur eine Nacht hier sein.

Aber jeden Morgen verlängern wir erneut: mit warmen Zimtschnecken in der Hand. Einfach, weil es hier so schön ist.
So schön, dass ein Achtzehnzeiler für diese drei Tage reichen muss.
Den Rest dürfen die Bilder erledigen…

Von einer Party, einem heiliger Ort und dem Meer

Der Abend endete anders als gedacht. Auf dem Weg zur Dusche die erste Frage –sie kam von Franz: „Do you want to share a beer with us?“ in breitem läppischen Dialekt. Zwei Mal: „Do you and your husband want to share a beer with us?”.
Unter der heißen Dusche fällt mir auf: wie schmal die Welt doch werden kann, durch zu viele höfliche „Nein danke!“ Ich entschließe mich –sollte Franz ein drittes Mal fragen– werde ich einfach Ja sagen. Und Franz fragt mich ein drittes Mal: frischgeduscht mit einem Handtuch auf dem Kopf. Also: Ja, gerne. Das machen wir.

Unser aller Nacht soll sich erst gegen eins neigen: gemeinsam unter einem Vollmond bei Tageshelligkeit, in einer wild gemischten Truppe aus einem Lappländer, einem Allgäuer, zwei Garmisch Partenkirchenern, einem Südafrikaner und zwei Globetrottels.
Nach einem unfreiwilligen Wheelie auf dem Quad (Chouchou schlägt sich tapfer), nach Gesprächen über Gott „and the energy we all share“, nach deutlich mehr als einem Bier, nach einer potentiellen Lösung des magicbus´schem Ölhungers, nach schwedischem Gesang, nach einem 20 Liter Motorölgeschenk, das wir unmöglich annehmen können.

Die Nordsonne brennt uns um acht gnadenlos aus dem Bett, bis zehn schlafe ich unten auf der Couch weiter: weiße Nordnächte-unerfahren.
Trotz allem soll es heute für uns weiter gehen – wenn auch mit leicht angezogener Handbremse: lappländische Trinkgewohnheiten-unerfahren.

Bei surrealem Sonnenschein und vierundzwanzig Grad rollt es sich gnädig auf der einsamen Straße gen Nordost. Nach insgesamt sechs Rentierbanden in echt und drei Elchen in Guss müssen wir das erste Mal rechts.

Die Welt wird flacher und weiter, unterwegs in Richtung Ostküste bis nach Gammelstad.

Gammelstad – die fünfhundert Jahre alte Stadt—ist eines der letzten Kirchendörfer Schwedens und eines der größten, das bis heute noch aktiv ist. Da im Mittelalter ein Kirchbesuch verpflichtend war, die Menschen im dünn besiedelten Norden aber weit auseinander lebten, entstanden um die imposante Steinkirche Nederluleå Kyrka im Ortskern mit der Zeit vierhundert Holzhütten, die als Auffanghäuschen für Menschen aus der Ferne dienten. Quasi heilige Hostels für Gläubige – und/oder Religionspflichtbewusste.
Heute ist Gammelstad ein falunrotes Örtchen, in dem die Zeit still zu stehen scheint. Die 400 „kyrkstugor“ sind heute teilweise bewohnt, teilweise noch immer zu mieten, will man aus der Ferne den Gottesdiensten lauschen und danach nicht mehr –messweinbedüdelt– mit dem Rentier nach Hause reiten.

Eine Kutsche klappert durch die Gassen – unklar, ob für Touristen oder ob aus reiner Freude der Kutscherin. Per Fernsprecher könnte man das gegebenfalls einen Telefonjoker anrufen, um es zu erfahren.

In die Nederluleå Kyrka geht’s nur parfümfrei – darum bittet ein Schild am Eingang– kurz bevor der Weihrauchgeruch mit dem Hammer zuschlägt und man zwangsläufig vor dem beeindruckenden Altar auf die Knie gehen muss.

Gammelstad – UNESCO-Weltkulturerbe und unser 187. heiliger Ort.

Eigentlich wollten wir heute nicht mehr weit und fahren daher den Stellplatz an der Marina von Luleå an, zehn Kilometer von Gammelstad entfernt, direkt an der Ostsee.
Vorbei am Springbrunnen, einem Rostball und einem Regenbogenschaufenster staunen wir nicht schlecht: über dieses Luleå, das mit seinen 45000 Einwohnern einen auf letzte „Metropole“ kurz vor Finnland macht.

Das erste Mal seit sehr, sehr langem sollen die Globetrottels heute allerdings kein Marinaglück haben: der Stellplatz ist bis auf den letzten Platz belegt. Und natürlich ist das gut so, denn die Umgebung stellt sich als nicht sonderlich pittoresk heraus.
Zeit für eine spontane Recherche, die uns sechzig Kilometer weiter gen Norden führt.

In Rörbäck liegt angeblich Schwedens nördlichster Campingplatz mit Ostseezugang. Neun Kilometer abseits der Hauptstraße, auf der ein Wackerer bei 24 Grad Langlaufskifahren übt, rappeln wir müde an und landen mittendrin: im pulsierenden Sommerferienparadies Nordschwedens.

Vorbei an Ladies im Bikini, Männern in Shorts und Flipflops, vorbei an eisschleckenden Kleinkindern mit Schwimmreifen um den Bauch kämpfen wir uns zum Rezeptionskiosk vor. Sehr nette Menschen am Tresen, die sehr traurig schauen: „We are so sorry, fully booked!“ Aber: Ihr kommt mir so bekannt vor. Das ist immer ein gutes Zeichen.

Möglicherweise ist es die Begegnung in einem früheren Leben, die uns –trotz des Andrangs– Herz und Tür öffnet?! Möglicherweise ist es auch das Erwägen, dass wir ja eigentlich nur ein Auto mit einem Dachzelt sind. Schlussendlich dürfen wir bleiben: auf dem Zeltplatz, unter Bäumen, mit Blick aufs Meer. Weit, weit weg von den großen Wohnmobilen, die in Reihe und Glied gepfercht am anderen Ende stehen.

Ich werfe mir ein Sommerkleid über und setze mich in den weichen Sand. Keine Wolke am Himmel, die Sonne strahlt noch immer, die Ostsee spült warm und seicht.
Ich klappe den Computer auf und schreibe: „Der Abend endet anders als gedacht….“
Genauso wie dieser Tag. Genauso wie dieser Text, dessen letzter Satz sein soll:
… und jetzt geh ich schwimmen.

„Bures Lappi!“ (samisch für: Hallo Lappland!)

Ein Tag des Rollens.
Nach drei stillen Nächten und zwei herrlichen Tagen verlassen wir unseren exklusiven Seeplatz und das liebevoll gestaltete Naturcamp – heute mit frischen Wildblumen auf den Pitstoiletten.
Und da es von Anfang an so gut rollt an diesem Montag, rollen wir einfach viel weiter als geplant:
Statt der angedachten 200 Kilometer rocken wir heute satt das Doppelte ab: 402 Kilometer gen Nordosten.

Kurz nach Mittag passieren wir die Grenze zu Lappland, Hochherrschaftsgebiet der Samen.

Ein einsames Rentier grast in einem der Vorgärten der immer spärlicher werdenden Dörfer. In einem davon kaufen wir das Nötigste, die Läden werden deutlich kleiner. Frühstück gibts auf dem Parkplatz — auffe Hand.

Ölpause an einem einsamen Vogelausguck.

Der Bulli macht Geräusche während er steht: das hatten wir auch noch nicht. Und finden im weiten Nichts erleichternderweise heraus, dass es lediglich das Nachgluckern der Kühler-Wasserpumpe sein kann. Wir hatten schon wieder Spillopp in Verdacht, der sich verschmitzt aus unserem Blickfeld wegdreht.

Nächstes Dorf, Pipipause. Die Lappländer tragen ihre Fifis Gassi und eine einsame „Inlandsbanan“ wartet auf Passagiere, die nicht mehr kommen. Ansonsten ist hier nicht mehr viel.

Die Birken weichen, die Berge werden höher, die Steine größer. Immer geradeaus bei bestem Wetter: Fahrmeditation mit 80km/h, der sich die Schweden gerne anschließen. Lediglich die Norweger überholen von Zeit zu Zeit: jedes zweite Auto ein Tesla.

Kurz vor Arvidsjaur reicht es uns, wir beschließen für heute ankommen zu wollen.
Auf dem Renvallen Camping hat bisher niemand eingeparkt. Wir werden von einem nordischen Hünen ohne Hemd herangewunken: ein Mann mit einem vollkommen unerwartetem Dialekt und perfekter Nase: einer süddeutschen.

Wo auch immer wir auf der Wiese stehen wollen, sollen wir uns einfach hinpflanzen. Dusche gibt es nach Voranmeldung – der Strom müsse lediglich eine halbe Stunde vorher aktiviert werden. Ergo kein Problem, nur melden! Beim perfektnasigen, süddeutschen Aussteiger.

Beim ersten Türöffnen laden wir einen halben Insektenzoo in den Magicbus. Hallo lappländische Flugtierchen. So wichtig wie ihr draußen seid, so wenig wollen wir euch im Bulli.
Die dicksten Fliegen fangen wir sofort mit Tassen wieder ein, um sie vor die Tür zu werfen, die Kleinen kriegen wir nicht: sie muss das Thermacell später erledigen.

Abendbutterbrot im Sonnenschein, müde vom fahrenden Nichtstun. Es reicht noch für lesen über die Eigenheiten Lapplands, zum duschen eigentlich nicht mehr. Aber es hilft nix, es muss ein!
Irgendwann müssen wir uns also nur noch einmal heute aufrappeln und den Aussteiger mit der Tasse einfangen, damit er uns bitte den Strom anmacht.
Für heiße Dusche – later. Vielleicht hat´s danach im Magicbus auch etwas weniger Fliegen!?

Perfekter Pausenknopf mit Drohnenattacke

Wir drücken zwei Tage lang den Reisepauseknopf. In einem Traum von Schweden: am Flåsjön See, am Vildmarksvägen, im Sonnenschein.

Dreimal muss das Bøøt zu Wasser gelassen werden.

Am ersten Tag auf ruhigen Wassern. Wir paddeln über den spiegelglatten, tiefschwarzen See und erobern Globetrottels Dreiländ, das mit alkoholreduziertem Heineken im Abendsonnenschein geweiht wird. Um uns herum eine Wildnis, die schweigt. Es ist so ruhig, dass es in den Ohren dröhnt. Nur einmal kreischt ein großes Unbekanntes am anderen Ende des Sees. Wie Wolf mit Gans im Abgang. Vollkommen undefinierbar.

Am zweiten Tag sammeln wir Sturmerfahrung. Das Bøøt reckt auf hohen Wellen die Schnauze in die Höhe und schlägt hart wieder auf. Paddeln mit wackeligen Oberärmchen gegen den Wind. Eine Sporteinheit –zweifelsohne. Erneut muss Globetrottels Dreiländ als sicherer Pausenhafen herhalten. Zweite Weihung mit Cola und Fanta. Macht zusammen böigen Spezi.

Beim Sprung ins kalte Nass bekommt der Neoprenanzug seinen zweiten Auftritt. Ohne ist selbst mir das hiesige Wasser viel zu kalt. Statt aktivem Schwimmen professionalisiere ich eine viertel Stunde das „Toter Mann“ spielen im Olympiadress. Und belege Gold – weil ich die einzige, angetretene Athletin bin.

Die Drohne startet zu ihrem ersten Ausflug auf dieser Reise. Auf unserem Haussteg stehend beobachten wir gespannt ihren Abflug, der nur knapp die Bäume verpasst. Hoch oben gehts ein bisschen hü, ein bisschen hott, scheinbar harmlos. Ihr wahres Gesicht aber zeigt sie auf dem Weg zurück zu Mutter Erde: anhand einer Attacke, die nur auf reiner Boshaftigkeit fußen kann.

Im Landeanflug steuert sie geradewegs in meine Visage. Nur durch ein geschicktes Ausweichen wird ein dortiges Häckseln abgewendet, aber die Drohne lässt nicht von mir ab. Als nächstes steuert sie meine Hände an im Versuch, mit allen Mitteln einen der kleinen Finger gewaltsam abzureißen. Teufelsding, meint auch Chouchou, der fassungslos über so viel schlechtes Drohnenherz die Steuerung sinken lässt.

Die Bachstelze, die uns aus Vålådalen heimlich gefolgt ist, staunt nicht schlecht, dass damit unser Wochenendsportprogramm noch lange nicht beendet ist. Irgendwann joggt Chouchou los ins nächste Dorf und als gar niemand guckt, werden eine paar Liege gestützt, ein bisschen Yoga auf dem Steg praktiziert und der surrende Hullahoop geschwungen. Bis dass der Puls auf 180 ist.

Wer sich so wacker bewegt, muss natürlich gut essen. Für uns gibt es Broccoli, Kartoffeln, veganes Gyros und Salat, nur der Magicbus muss sich mit reinem Sonnenlicht zufrieden geben. Und natürlich noch etwas mehr Öl. Unsere Köpfchen werden mit Literatur befüllt – auch die sollen mal wieder satt werden.

Weil wir Feuerchen machen dürfen, machen wir natürlich auch Feuerchen. Jeden Abend, direkt am See. Direkt vor unserer Haustür am Steg.

Ein Wochenende voller glücklich machender Momente: Unberührte Natur, weiche Sonne, ausreichend Bewegung, echte Stille, inspirierendes Lesen, schöne Telefonate, gutes Essen, von einem Vögelchen begleitet werden. Und: Liebe natürlich.
(Das mit der Drohne sei lediglich ein Unfall gewesen. Ehrlich, sagt Chouchou.
Szenen einer Ehe – die dürfen natürlich auch nie fehlen…)

Der Sonne hinterher auf den Vildmarksvägen

Geliebtes Vålådalen, mit ein wenig Wehmut verlassen wir Dich. Deine Wälder, die so mystisch sind ohne dabei gruselig zu sein. Dein mächtiger Fluss Vålån, der so viel Kraft ausstrahlt ohne zu beängstigen. Freundliche Wesen in den Blaubeerbüschen, die dieses Mal glitzerten vor Regentropfen. Ein guter Ort zu sein, wenn man traurig ist – und genauso, wenn glücklich.
Mit deutlich leichterem Herzen als gestern rollen wir um zehn über die einsame Zugangsstraße zurück in Richtung Trondheimsleden. Über die einzige Straße, eine Sackgasse.
Statt Richtung Trondheim links herum abzubiegen, blinken wir rechts: Direktion Östersund. Mit ihren 50000 Einwohnern wird sie die letzte größere Stadt für uns sein. Für sehr, sehr lange. Also decken wir uns ein letztes Mal richtig groß ein.

Bei Lundhags organisieren wir drei Gaskartuschen, bei OK Q 8 sechzig Liter Diesel, bei Mekonomen zehn Liter Magicbusöl.

Im ICA Maxi kommen Walmartgefühle hoch: auf dem Monsterparkplatz stehen die WoMo-Sparfüchse, die 150.000 Euro fürs Auto hinblättern, nachts aber kostenlos schlafen wollen. Seltsame Endzeitmobile in den kleineren Parklücken und ein Hundezwinger für die Kunden. Wir schnappen uns den (kleinen) Einkaufswagen und packen ihn in endlos langen Gängen randvoll mit Leckrigkeiten. Leider passt das Regenbogenmarzipan nicht mehr rein, ansonsten aber finden wir alles, was das Globetrottelsherz begehrt.

Beim Ausparken dann Brotstress. Brotstress –eine Nebenwirkung vom hungrig Einkaufen—entsteht dann, wenn auf dem Parkplatz sofort mit dem Anfuttern der Beute begonnen werden muss, man gleichzeitig aber vom Partner ermuntert wird, doch bitte das Navi zu bedienen. Krümel in den Mundwinkeln, unkontrollierter Speichelfluss, bärengroßer Hunger.
Suche: Strand. Strand?! Natürlich funktioniert das so nicht.
Erst Kauen und Schlucken und einen eiligen Skifahrer auf dem Trockenen vorbeirauschen lassen. Jetzt sollte es gehen.
Suche: Vildmarksvägen.

Auf dem Breitengrad 63,2 biegen wir nach Norden ab, nördlicher denn je.
Der nördlichste Punkt all unserer Reisen war im August letzten Jahres erreicht. In Tok, Alaska, als der Magicbus versucht hat, mit Gewalt den Dieselrüssel der dortigen Tankstelle zu fressen. Tatort: Breitengrad 63,19.
Ein bisschen unglaublich ist das schon. Vor allem, da wir jetzt noch sehr viel weiter hoch wollen.

Bis Strömsund sind es einhundert Kilometer geradeaus in vielen Blümchenkurven. Strahlendes Pink, endlos am Straßenrand, die Bilder davon enttäuschend blass. Als wollte der Film eigenmächtig unrealistische Farbgebungen herausfiltern. Ein Realist, der lügt.

Wenig los auf den Straßen, nur der Magicbus hat natürlich jemanden im Schlepptau. Den gesamten Weg ziehen wir ein ADAC-LKW hinter uns her. So einer, der die liegengebliebenen Wohnmobilleichen aus dem hohen Norden im Kollektiv einsammelt und in Stücken wieder nach Hause zurück in den Heimathafen bringt.

Chouchou meint, es sei ein bisschen so, als hätte man den Sensenmann im Nacken, ich hingegen empfinde es als äußerst beruhigenden Service – nur für den Notfall.

Strömsund kommt um eins in Sicht und ist schnell durchfahren. Ein Haus mit ICA-Werbung auf dem Dach, eine Elchstatue, ein Einfahrtsschild auf den sagenumwobenen Wildnisweg, der unser heutiges Ziel sein soll: der Einstieg des Vildmarkvägens.

Einen schönen Platz für die Nacht zu finden braucht heute vier Anläufe. Wobei es auch zwei getan hätten, das doppelte sich schlussendlich aber als dreifach so schön herausstellt.
Der erste Platz ist für den Magicbus auf Grund der schlammigen, holperigen Zufahrt bei aller Liebe und allem Treten nicht machbar (es sei denn der ADAC wartet mit uns am Stellplatz). Also weiter auf guter Straße.

Der zweite wäre schön gewesen, wird aber vom einem deutschen „out of age-bushcrafter“ bewacht und liegt nahe der Straße. Der dritte hat keine Pitstoilette, aber der vierte…der hat alles.

Auf dem Naturcamping Gubbhögen parken direkt am See Flåsjön ein, Reihe 1 (weil es Reihe 0,5 ja nicht gibt – sonst wäre es die). Bei strahlendem Sonnenschein, 19 Grad, drei Meter vom Bootssteg entfernt und mit eigener Feuerstelle.
Das Wasser des Sees ist trinkbar, weiß die Infotafel und die Haut merkt sofort: Mücken gibt es keine einzige. Ein absoluter Traumplatz, deren Bezahlung auf vertrauensvoller Spendenbasis läuft.

Was heute noch folgt ist ganz viel Glückseligkeit:
Essen im Sonnenschein, sitzen auf dem Steg, gänzlich autanfrei. Und hinten im Kofferraum hören wir es rappeln: Das Bøøt. Es will raus! Es könnte keinen besseren Ort dafür geben…

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