Kurz vor Sonnenuntergang – kurz vor Mitternacht—piepst plötzlich Chouchous Aurora-App:
Achtung, Achtung! Um Sie herum besteht eine 25%tige Wahrscheinlichkeit Nordlichter zu sehen.
Ein Witzbold – in einem Land, in dem die Sonne nicht untergeht. Aber schön ist´s trotzdem: dieses Gefühl, sich mit einer Viertel-Nordlichtswahrscheinlichkeit ins Bett zu kuscheln.

Der Wind bläst uns heute weiter gen Norden. Erstaunlich, dass das noch immer geht.
Vorbei an Huskyfarmen und –natürlich!—einem Albino-Rentier.
Die Geister, die ich rief…
Manchmal glaube ich selbst, dass wir in einer „scripted reality“ leben.

Bis nach Inari, ins Zentrum der samischen Kultur, sind es läppische 80 Kilometer (inklusive Wortwitz für die ganz Findigen).
Die Sami, das indigene Volk des Nordens; Volk der Sonne und des Windes, dem ähnlich viel Unrecht getan wurde wie den Indigenen Nordamerikas.

Nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Christianisierung gibt es heutzutage immerhin ein samisches Parlament im Norden Finnlands. Das klingt unabhängiger und einflussreicher als es tatsächlich ist: das „Sameting“ bleibt dem finnischen Justizministerium unterstellt. Seine Hauptaufgabe besteht darin, für Sprache, Kultur und der Stellung der Indigenen einzutreten.
Ein Anfang.

Das imposante Gebäude im Herzen des kleinen Dorfes Inari beherbergt eine große Bibliothek (leider geschlossen), den Parlamentssaal (heute nicht aktiv), samische Kunstausstellungen und Mode (hinter Glasvitrinen), einen Handwerksladen (sündhaft teuer), einen Infopoint (nicht besetzt, da sehr wahrscheinlich verkatert wegen des bis gestern dauernden Festivals) und die Mensa. Da dackeln wir rein.

Unter samischen Klängen, die auf eine durchdringende Art berühren (unergründliches Menschenherz), stehen wir mit großen Augen unter der modernen Karte.

Neben perfektem Blaubeerkuchen (nehmen wir!) gibt’s Cappuccino, Yogitee, alle Arten diverser Lattes. Und Chaga.
Da wir keinerlei Ahnung haben, was das sein soll und die Kellnerin es kaum übersetzen kann (irgendein Pilz!?) bestellen wir: Einen Chaga, bitte. Den „dirty pakurilatte“.

Wie sich später –dank Tante Google- herausstellt, ist der Chaga ein Birkenpilz: ein „Schiefer Schillerporling“, der lediglich im hohen Norden wächst. Mehrere Jahre muss er an einer Birke reifen, bevor sich die „Pilzbrocken“ von der Rinde ernten lassen.

Volksmedizinisch wird dem Pilz eine krebshemmende, immunstimulierende und entzündungshemmende Wirkung nachgesagt. Toll. Und schmecken tut er auch noch: ganz und gar nicht nach Pilz, sondern irgendwie erdig, holzig, mit einem Hauch von Vanille.
Beim nächsten Supermarktbesuch heißt es also: Augen auf. Denn ein magischer Birkenpilzbrocken, der heilen kann, gehört eigentlich in jedes gute Frühstück.

Dem Campingplatz in Inari eilt sein Ruf voraus. Im Internet finden sich zahlreiche Rezessionen, die von einem knurrigen Platzvater berichten. Beinahe ein investigativer Spaß, so etwas abgleichen zu können.
Der Knurrpapa ist scheinbar nicht vor Ort. Stattdessen seine wortkarge Frau, die auf den ersten Blick auch keine naturtalentierte Robinsonclub-Animateuse abgegeben würde. Trotzdem ringen wir ihr nach fünf Minuten ein Lächeln ab, das uns glücklich macht.
Beim gemeinsamen Gang über das Camp weist sie uns schönsten Platz von allen zu.

Nun stehen wir also direkt am Inarisee, unserem Heiligen Ort Nr. 188.
Den Sami ist dieses zerklüftete Wasser heilig – als Pforte in andere Welten.

Bei Wind und Sonne hören wir nun den raschelnden Birkenblättern zu, die eine detaillierte, samische Geschichte über diesen See flüstern. Und die geht so:

Ein Mann, 2000 Jahre alt, bunkerte sich vermeidliche Unsterblichkeit, indem er drei Strahlen des Nordlichts in einer Lampe gefangen hielt.
(Exkurs = Das Nordlicht: in der Welt der Sami die Seele der Verstorbenen. Diese drei kamen der Erde in einem unbedachten Moment zu nahe, der Alte angelte sie einfach weg und pferchte sie in die Lampe ein.)
Die Strahlen fanden ihre unerwartete Gefangenschaft so semi, rangen dem Alten aber einen Deal ab: So lange wir hier drin sind, bekommst du von uns Unsterblichkeit. Aber du musst uns junge Seelen bringen.
Der Alte fand´s ein gutes Geschäft, schlug siegesgewiss ein und lud einen jungen, unbedarften Kerl aus dem Dorf in seine Höhle ein – scharf auf dessen Seele.
In diesem Hinterhalt aber zerbrach plötzlich die Lampe und die drei Strahlen konnten mit dem Nordlicht, das durchs Höhlenfenster schien, entwischen – zurück in den Himmel, ins Jenseits, wo sie herkamen.
Der Deal platzte, die Seele des Jungen ward gerettet. Der Alte aber zerfiel zu Staub – für immer.

Es gibt vieles, was wir nicht verstehen. Zwischen Himmel und Erde, zwischen Feuer und Wasser, zwischen Nordlichtern und Lampen, die Unendlichkeit bunkern können.
Vielleicht sollten wir mehr der Sonne hinterher lauschen und den Wind beobachten!? Im Land des Volks der Sonne und des Windes.
Sie könnten es uns vielleicht erklären!? Wenn wir die Ohren spitzen, die Sinne schärfen, die Augen öffnen. Für Alltägliches und die kleinen Wunder.
An diesem heiligen See, dem Inari.
Der eine der allerersten Schöpfungen der Nordgötter war.