Die Globetrottels

Unterwegs im Magicbus

Und traurig klingt der Schlussakkord in Moll…

Unsere letzte Fahrt außerhalb unseres Heimatlands beginnt mit einem herzzerreißenden Kreischen. Lauter denn je, länger denn je, verzweifelter denn je. Auf den ersten hundert Metern streikt nun nicht nur der Keilreimen, auch die Lichtmaschine wird nicht mehr erreicht. Der Magicbus, er kann einfach nicht mehr. Bald, Du Zaubermobil, und Du hast es endgültig geschafft. Noch knappe tausend Kilometer bis nach Hause…

Kurz vor Gdansk rattern wir in unseren ersten Stau seit elftausendsechshundert Kilometern. Ein erstes Heimatgefühl stellt sich ein. Im Straßengraben liegen massenweise leere Weinflaschen – scheint nicht die erste Vollsperrung hier zu sein.

Für fünf Kilometer brauchen wir eine Stunde. Den ersten Anschlag „Berlin 570km“ verfolgen wir im Schritttempo. Dann endlich fließt es weiter und wir glauben, die Baustelle endgültig hinter uns zu haben. Oh, wie weit gefehlt das ist!
Weitere zehn Kilometer Autobahn sind uns noch vergönnt, bis diese endgültig endet.
Hinter Gdansk beginnen zweihundert Kilometer Landstraße, 180 davon sind Dauerbaustelle.

Man hätte drauf kommen können, dass es zwischen den Großstädten Gdansk und Koszalin keine Autobahn gibt. Wir sind es im Traum nicht.
Im Dackeltempo lese ich nach: Der Bau der Autobahn zwischen Gdansk und Koszalin – die größten Städte an der nordpolnischen Ostsee—wurde in ersten Schritten 2019 begonnen. Ganz Polen –Europas fünftgrößtes Land—besitzt bis heute 1700km Autobahn. Im Vergleich zu Deutschlands 13172 Kilometern ein Klacks. Wusste ich nicht, jetzt bin ich schlauer.

So rollen wir also in der Dauerbaustelle „Nordpolen“ gemächlich vor uns her. Ab und an kreuzen wir vergessene Örtchen mit den obligaten Wegekreuzen, brüchigen Häuschen, wohl gepflegten Kirchen, rauchenden Fabriken und Werbung für Seniorenresidenzen am Straßenrand. Nur das Papst winkt uns einmal verhalten, aber freundlich.

Ratternde Planierraupen, halbfertige Brücken, Felder, die geebnet werden, Baustaub in der Luft und über allem liegt ein beißender Dauergeruch von frischem Teer. Trostlos, wie die armen Menschen an diesem Streckenabschnitt leben müssen: Erst stinkt es jahrelang nach Teer und wofür? Damit in Zukunft eine Autobahn an ihren Restehöfen vorbeidonnert.

Eine Autobahn, für die wir heute sehr dankbar wären – in der Egozentrik der Vorbeireisenden. Schrecklich. Beides.
Wenn wir nicht auf dem Weg nach Hause wären, würde ich jetzt sagen: ich will nach Hause.

Zahlreiche Militärfahrzeuge kommen uns entgegen: Truppenbewegung gen Osten und am liebsten will man sich gar nicht wirklich wissen, warum. Dann beginnt der Regen.

Nach 180 Kilometern Fahrt entschließen wir uns –weil es gerade so richtig gut läuft– unser geplantes, letztes Ostseecamp zu kippen. Ein Sonnenuntergang ist bei strömenden Regen heute eh nicht mehr und wir sind mittlerweile im Kopp so windelweich gekloppt, dass es keinen Unterschied mehr macht, ob wir noch weiter fahren oder für immer stehen bleiben.

Als wir es selbst schon nicht mehr glauben können, beginnt hinter Koszalin die bereits fertige Autobahn. Niegelnagelneu und leer. Der Regen verschleiert alles, das macht nichts: wir rollen! Das erste Mal mit 80km/h nach mittlerweile 240 Tageskilometern auf der Uhr. Geschwindigkeitsrausch!

Als die Sonne sich neigt, kommt unsere Grenze in Sicht: Deutschland, unglaublich. Nach 14 Wochen.

Es ist die erste europäische Grenze, an der tatsächlich kontrolliert wird. Uns aber winken die Polizisten nur mürrisch vorüber ins Licht.

Ab hier ist es heute nun endlich nicht mehr weit: zehn Kilometer deutsche Autobahn, bevor wir rechts nach Linken abbiegen.
Vorbei an einer Masse an Windrädern in wildestem Licht – willkommen in Unterleuten, meint man. Dabei fahren wir heute nur bis Löcknitz.

Nach 430 Kilometern und achteinhalb Stunden parken wir auf unserem ersten ostdeutschen Camingplatz ever ein. Herr Schmidt hat mir am Telefon gesagt, wir könnten uns überall hinstellen, also nehmen wir den erstbesten Platz. Hauptsache da.

Da sind wir nun also wieder: in unserem Heimatland. Nach 14 spektakulären Wochen, die als „Sommer in Skandinavien“ begannen und als „Ostseeumrundung übers Baltikum“ endeten.

Damit endet nun auch dieser Blog. Ohne große Worte, ohne Pathos, ohne Resümee.

Danke an alle, die eineinhalb Jahre treu unser Leben mitlesen haben. Ihr seid eine größere Unterstützung gewesen, als Ihr ahnen könnt! Tschüss!

Zurück an die Ostsee — diesmal in Polen

Nach einem ordentlichen Frühstück verlassen wir die Masuren – indem wir sie einmal komplett kreuzen.
Knappe zweihundert Kilometer Alleen und Landstraßen.

Über teils wunderschöne, teils vergessene Dörfer, vor denen die Wegekreuze immer prachtvoller werden.

Wir haben nicht geahnt, dass Polen so schön ist. Und wie streckenweise arm. Auf den Feldern knien Frauen und holen die Reste der Kartoffelernte per Hand ein, manche Ort sind dem Zahn der Zeit seit Ewigkeiten ergeben: hier wurde lange nix mehr dran gemacht. Einfach weil keine Kohle da ist. Nur die Kirchen –backsteinlastig–wirken fast immer wie neu.

Wir durchfahren Srokowo, Parys, Korsze, Górowo. Orte, die auf unserer digitalen Landkarte noch mit den altdeutschen Namen gekennzeichnet sind. Sehr unangenehm und unnötig.

Denn das hier ist nicht mehr Ostpreussen, sondern seit knapp achtzig Jahren eine polnische Woiwodschaft.
Vielleicht sind wir auch daher auf unserem Campingplatz nicht mit all unseren Campingnachbarn warm geworden. Weil einige sich so aufführten, als reisten sie durch ein Land, das sie für sich selbst als „das hat alles mal uns gehört“ gebrandmarkt haben.

Nach zweihundert Kilometern stoßen wir auf unsere erste, echte Hauptstraße: die S22, die aus Russland nach Polen führt. Russische Grenze: 5km rechts, wir biegen links in Richtung Gdańsk ab.
Die Besiedlung wird immer dichter, ab hier sehen wir keinen Landstrich ohne Strommast oder bunte Häuser mehr.

Elchwarnschilder vor der Brückenauffahrt – ein kleiner, polnischer Scherz:

Aus welchem Dickicht auch immer ein Elch springen sollte – auf einer Brücke? Obendrein in einem so dicht besiedelten, frei geschorenen Land, wenn es –nach unserer gefühlten Erfahrung—nicht mal in Skandinavien Elche gibt.
Nee, warte. Das stimmt nicht!
Es gibt einen einzigen Elch in Skandinavien, der vom Tourismusbüro dauernd hin und her gekarrt wird, um die Touris zu erfreuen. Für uns hatten sie ihn in Norwegen an den Straßenrand gestellt, bevor er weiter nach Schweden transportiert wurde. Auf die Hauptroute in Richtung Nordkap.

Im Gegensatz zu gestern, campen wir uns heute auf einem durch und durch polnischen Campingplatz ein. Die Campmama spricht außer polnisch noch ein paar Brocken englisch – so kommen wir drei bestens zurecht. Alle Beschilderungen sind in der Landessprache und nicht auf deutsch und auch die handvoll Gäste sind nicht aus dem Ausland angereist. Schön.

Nicht, dass ich falsch verstanden werde: ich möchte kein „Alemans-bashing“ betreiben! Wir sind ja selber welche – durch und durch– und die allermeisten Deutschen, die ich kenne, sind ganz wunderbare Menschen!
Wenn man aber ins Ausland fährt, möchte man ja nicht primär eigene Landsleute kennenlernen, sondern die Menschen, die in dem Land leben, das man bereist.
Ansonsten kann man ja auch ins Allgäu fahren. Oder ins Sauerland.

Zwischen den letzten Bäumchen parken wir ein, kritisch beäugt von der Einparkerkatze.

Ein Spaziergang an die Ostsee folgt, dessen Sand so wirkt, als hätte man die Sahara aus dem Flugzeug heraus fotografiert.

Auf die Phantasie gibt es später einen Gurkensalat.

Alles drei –Ostsee, Strand und Gürkchen– schmeckt der Gurkentruppe im Magicbus ja immer…

Letzter masurischer Sommertag

Same procedure as yesterday:
Wir gammeln und lustleben uns durch einen sonnigen Masurentag.
Mit Das Bøøt paddeln und harte Wellen surfen…

…schwimmen (one-woman-show) und lesen…

…Podcasts hören, Hundchen der Nachbarn knuddeln und stricken.

Noch einmal lecker kochen und essen …

…und uns beim endlos reizenden Campingpapa auf polnisch verabschieden – so gut wie es geht.
Er lobt uns für zwei verstümmelte Wörtchen, lacht ein wunderschönes Lachen und wir sind verliebt in einen polnischen Großpapa um die 80.

Schön war´s hier. Auf einem masurischen Campingplatz am See. An einem der letzten echten Sommertage des Jahres 2024.

Ferientag in den Masuren

Ein Ferientag auf den Masuren ist schnell getippt.
Nach dem Ausschlafen gibt es ein ausführliches Frühstück mit alles. Will sagen: mit Eiern und imaginärer Zigarette danach.

Das Bøøt wird zu Wasser gelassen. Sechs Kilometer paddeln wir an Schilf entlang. In der Ferne taumeln ein paar Jollen, die einzigen, die wir treffen sind zwei schneeweiße Reiher.
Lustiger Wellengang, der durch Salsa auf Plastiksitz noch intensiviert werden kann. Wir machen uns heute das eigene Abenteuer. Als Seemannssnack gitb es Pirogen und Snickers. Beides gute gegen Skorbut.

Am Nachmittag gibt es Maschen, Buchstaben und feines Broccoli mit Pilzen, Feta und Quinoa.

Unsere neue Nachbarin –Psychiatriekrankenschwester!– kommt mit ihrem Hund Bella vorbei und erzählt uns lange aus ihrem Leben.
Die Volksgenossen haben uns über Nacht anscheinend für harmlos erklärt, nachdem ihnen unser wokes, grünversifftes Anknattern gestern noch suspekt vorkam.
Nachdem wir aber weder Bongos ausgepackt, noch uns auf der Straße festgeklebt haben, sind wir heute eingemeindet.
Ein idealer Zeitpunkt, um die Tibetfähnchen aufzuhängen.

Nach Polska

Wir lassen uns beim Auszug aus unserem „Spanner-schläft-alleine“-Appartement sehr viel Zeit. Auch die zweite Nacht ohne einander war nix. Um halb eins habe ich das zweite Buch angefangen, um zwei dann Feuerwerk vom Balkon aus geschaut, da ich einfach nicht einschlafen konnte.
Um elf müssen wir raus. Und haben so sehr im Tran getrödelt, dass wir tatsächlich etwas von unseren wenigen Habseligkeiten vergessen. Das ist noch nie passiert. Nun werde ich bis zu Hause keine Gesichtscrème mehr haben: die heilige Paste, die Spuki extra für mich im Flieger nach Tromsø importiert hat. Im Endspurt wird es damit möglicherweise auf diesem Blog noch einen Facemorph zu erleben geben: Trockener Gesichtsfrankenstein kehrt heim. Wie gut, dass wir keinen Spiegel im Magicbus haben.

Um Kaunas zu verlassen müssen wir einmal noch über die Memel. Der Magicbus kreischt sich tapfer über die Brücke. Wie immer sind seine ersten fünf Tagesminuten die schlimmsten. Wer kennt es nicht?! Vor Schreck, wider Erwarten doch noch am leben zu sein, fährt er –quasi postbrückal—erstmal in den Gegenverkehr. Zu Recht werden wir damit auf den letzten Kaunaskilometern bösartig ausgehupt von allen Entgegenkommenden.
Aber nicht nur der Magicbus hat heute Morgen Probleme, angemessenes Verhalten im Straßenverkehr zu mimen. Die Litauer*innen fahren auch wie die Berserker.
Vielleicht liegt das ja am Katholizismus? Je gläubiger die Menschen, desto dynamischer fahren sie Auto!? Siehe Indien.
Vielleicht lässt die Hoffnung auf ein Jenseits grundsätzlich etwas wagemutiger leben?! Das wäre doch mal ein guter Werbeslogan, wenn man als Glaubensgemeinschaft um neue Schäfchen wirbt…

Nach achtzig Kilometern Autobahn erreichen wir die polnische Grenze mit sehr vielen Straßenlampen.

Erste Hügel wellen sich, ein paar gutmütige Kühe liegen wiederkäuend auf saftigen Wiesen. Hübsch hier, richtig „Landschaft“.

Wir biegen von der Autobahn ab und pesen weitere hundertfünfzig Kilometer auf polnischen Landstraßen vor uns her. Durch sehr viele kleine Dörfer – ein jedes mit geschmücktem Wegekreuz am Ortseingang–, …

…an sehr vielen leeren Storchennestern vorbei – wo auch immer die alle hin sind?!

Dafür, dass wir (mit Verlaub) am „Arsch von Polen“ sind, ist es hier ziemlich dicht besiedelt.
Stundenlange Dörfchendurchfahrten, in denen wir aber keinerlei Menschenseele sehen.

Es folgen weich geschwungene Alleen, ein wenig wie in einer östlichen Toskana.

Erste Seen tauchen auf und wir lernen, dass Polen –nach Finnland—die größte Seenlandschaft Europas besitzt.

Hinter dem Bauerndorf Harsz müssen wir links: Wellblechpiste auf Asphalt. Das gibt es nur in Polen.

Unser erstes polnisches Camp liegt in der Woiwodschaft Ermland-Masuren. Natürlich am See.
Die Campingeltern sind erst ab 18h erreichbar, was nicht heißt, dass wir nicht empfangen werden.
Ein sächsischer Blockwart verfolgt uns über den gesamten Platz mit misstrauischen Blicken, als wir uns ein feines Plätzchen suchen, es würde mich nicht wundern, wenn er sich heimlich Notizen macht. Meine erhobene Hand zum Gruße erwidert er nicht. Es braucht drei fröhliche Hallos in Crescendo bis er mürrisch nickt. Unsere Platzwahl scheint ihm trotzdem nicht zu gefallen, dem Kapitän der Sachsentaxe.

Ach Heimat, wie nah du plötzlich bist. Auch alle anderen Gäste sind ausnahmslos deutsche Volksgenossen.

Der Platz selbst aber ist sehr schön. Unter sanft wiegenden Bäumen stehen wir auf weicher Wiese, ein Minisalamander kommt uns besuchen, die Sonne scheint, der See schwappt leise in vierzig Metern Entfernung.

Das Wasser ist pipiwarm, klar und flach: erst nach hundert Metern Watschelwatgang ist der Bauchnabel unter Wasser, die Füße im weichen Sand und man sieht immer, was unter einem ist.

Unser erstes Mal Polen. Wir freuen uns.

Ein Tag in Kaunas

Nachdem wir beide seltsam schliefen – ein jeder im seinem Bett—und zur gleichen Zeit mitten in der Nacht wach wurden, muss es am Morgen zumindest ein ausladendes Frühstück sein.
Getrennte Schlafzimmer in der Ehe –nee, dat is nix für die Globetrottels.
Wassermelone zum Frühstück hingegen schon.

Gucken wir uns heute also mal die City an. Hier dargestellt in kaunas´schen Blitzlichtern:
Das Herbstfest ist noch immer und schon wieder im vollen Gang. Die Litauer*innen essen rechts und links Schlachtplatte und Nutella- Fettbällchen zum Frühstück und trinken Bier aus überdimensionierten Reagenzgläsern dazu.

Über die längste Fußgängerzone Osteuropas flanieren wir in Richtung Altstadt.

Wie menschenfreundlich so etwas ist: zweieinhalb Kilometer lediglich Menschen, die zu Fuß unterwegs sind. Kein Autolärm, keine Straße dazwischen, an der man –dem Autoverkehr gegenüber Rücksicht nehmend– halten muss, statt Parkplätzen gibt es Cafés mit Außengastronomie. Autofreie Innenstadt ist ganz und gar nicht woke oder grün – sie ist (wie banal!) ein philanthroper Akt.

Bevor wir zu den kulturellen Highlights der Altstadt stürzen, muss ich zuerst im Secondhandshop „Gausa“ Halt machen. Angefixt in Helsinki von wild-verrückten Altkleidern, kann ich ein solches Geschäft in Litauen nicht einfach links liegen lassen. Weil vielleicht ein Kleidchen mit Geschichte dort drinnen auf mich wartet, mit der Bitte, ihm ein neues Leben zu schenken.
Und tatsächlich werde ich fündig. Sehr sogar!

Innerhalb von dreißig Minuten bin ich stolze Besitzerin einer neuen Handtasche (orange), eines Wollpullovers (graubraungelb), einem Blusenkleid (mit dem tiefsten Ausschnitt, den ich jemals getragen habe) und eines Tüllrocks (natürlich rosa!). Macht 34 Euro insgesamt, bitte. Und Chouchou bekommt eine Medaille: als geduldigster „Mitshopper“ von Welt.

Weiter die Fußgängerzone hoch in Richtung Zusammenfluss von Neris und Memel liegt die Kathedrale St. Peter und Paul.

Ein katholisches Prunkstück, das von außen eher unspektakulär daherkommt, im Inneren aber lange seines Gleichen suchen muss. Der Innenraum gleicht einem barocken Wimmelbild – mit einem gigantischen Hochaltar, der unter den donnernden Klängen einer überdimensional lauten Orgel den Kopf einzieht.

Himmlischen und Irdischen wird hier gleichermaßen gedacht: für Johannes Paul, den II., gibt es nicht nur ein Gemälde, man hat auch eine seiner Reliquien ausgestellt.

Und: in dieser Kathedrale wird äußerst ernsthaft gebetet. Und das nicht nur als Einzelerscheinung.
Auf dem Hinweg hören wir die besagte Einschüchterungsorgel und sehen eine Taufvorbereitung.
Auf dem Rückweg platzen wir mitten in eine Trauung, an der eine von uns natürlich dringend teilnehmen muss.

Während mir vor Rührung Freudentränen in die Augen schießen, erhält Chouchou die zweite Medaille des Tages: als geduldigster „Mithochzeitsgucker“ von Welt.

Weiter geht’s am Rathaus und der Jesuitenkirche vorbei.

Dahinter liegt ein beschranktes Gelände, auf dem wir uns unbefugt verirren.

Wer sich einmal auf dem Hof des Priesterseminars von Kaunas verliert, kommt nimmer wieder raus. (Fast!)
Kurzzeitig erwägen wir, über einen Zaun zu fliehen, dessen Pfosten aber sind so brutal scharfkantig, dass wir es doch lieber sein lassen. Geläutert schleichen wir am imposanten Außenkreuz vorbei,

…zurück durchs beschrankte Eingangstor, unter den Augen sehr vieler Sicherheitskameras, die uns schon die ganze Zeit moralisch beäugen: Freunde, hier gehört ihr ganz und gar nicht hin!

Kurz hinter der Statue von (mal wieder) Papst Johannes Paul, dem II. stehen wir im letzten Stadtpark der Stadt.

Hier fließen Neris und Memel ineinander, hier wird gejoggt, geskatet und wild geklettert auf dem coolsten Kletterparcours, den ich je gesehen habe.
An der Spitze der Landzunge wartet ein einsames Boot auf Passagiere, der Fährmann aber schwebt in anderen Sphären.

Wir setzen uns auf einen Stein und schauen dem fließenden Wasser hinterher, das unbeeindruckt um die kunstvolle Memelstauung herum fließt.

Halbzeit. Von hier aus geht den gleichen Weg wieder zurück nach Hause.
Auf dem Rückweg schlappen wir noch an Kaunas´ Burg vorbei…

…einem coolen Zwerg, der müde-verdrieslich aus der Wäsche schaut,litauischen Lebensweisheiten hinter Glas, tierischen Grafittis und Kunst anhand von Massen-Fisch-Köpper auf Platte.

Noch tausend Schritte weiter gehen wir essen: Quesadillas, Burritos, Salat und Cheesy Fries. Fast bis zum Platzen.

Das einzige, das für den Rest des Tages noch reinpasst, ist augenscheinlich nur noch ein starker Espresso pro Bauch. Mehr geht nicht.

Die Trauung kommt noch – siehe oben. Und ein zweites Fest: das Fest der Kulturen am ehemaligen Präsidentenpalast.

Menschen aus aller Herren Länder kommen hier zusammen, um ihre Diversitäten zu feiern.
Wir hören undefinierbaren Klagegesang, sehen mexikanische Schönheiten in Vollmontur, sind Gast in einer usbekischen Jurte.

Eine Dame aus Syrien malt Vorbeiflanierenden Hennatattoos auf die Pfoten. Eine von uns will das natürlich auch. Und Chouchou erhält die dritte Medaille des Tages: als geduldigster „Mitinterimstätowierter“ von Welt.

Kaunas ist eine herrliche Stadt zum draufschauen. Quirlig, bunt, lebendig, international.
Von allen drei Städten des Baltikums, die wir besuchen durften, gefällt Kaunas uns am allerbesten.
Vielleicht, weil hier unaufgesetzte Bewegung zu herrschen scheint, weil der spärliche Tourismus in einer alltäglich lebendigen Masse untergeht. Möglicherweise wirkt es dadurch echter!?
Viel Welt in einer kleinen Stadt, in der –im Gegensatz zu Tallinn und Riga– keine Kreuzfahrtschiffe einlaufen können. Sondern nur kleine Memelkreuzer.
Das hat durchaus auch Vorteile…

Herbstfest in Kaunas

Nach einer heißen Außendusche geht es für uns heute hinaus aus unserem Apfelgärtchen.

Über Litauens größte Autobahn A1 düsen wir weiter in Richtung Südosten. Eine äußerst professionelle Autobahn, 200 Kilometer lang. Eine ziemlich langweilige.

Das einzige, das auf dem Weg innerlich bewegt ist ein wilder Fluss zur Rechten, der so schnell vorbeifliegt, dass ich es nicht schaffe, ihn zu fotografieren, riesige Vögel auf Wiese, die ich mit der Linse erwische und unser Kaffeestopp.

Eine mürrische Dame serviert hier den unterhemdentragenden Fahrern der donnernden LKWs dicke Linsensuppe mit Einlage und Tomatensaft mit Schuss. Wir nehmen mit einem Kaffee vorlieb und können ihr mit viel Einsatz ein sehr zaghaftes Lächeln entlocken.

Kaunas.

Litauens zweitgrößte Stadt, Litauens ehemalige Hauptstadt, von der ich –-bis vor zwei Tagen– noch nie in meinem Leben gehört habe.
Da wir es auf dieser Reise nicht bis Vilnius schaffen, aber trotzdem etwas litauisches Stadtleben einatmen wollen, muss es also Kaunas für uns rocken: das urban lithuanian feeling.
Wie schon in Tallinn und Riga, gönnen wir uns auch hier ein Appartement. Weil Stadtcamping doof ist und baltische Preise für uns gerade noch erschwinglich:
Unsere Bleibe heißt „Observation deck“. Dem Namen nach ein Etablissement für Spanner oder Spione, möglicherweise wird aber auch nur ganz harmlos auf die Aussicht vom Balkon Bezug genommen. Von unseren zwei Schlafzimmern können wir über die Neustadt schauen. Getrennt.

Nach vielen Monaten des Reisens kommt man ja auf einiges, auf eines aber wären wir wohl nie gekommen: dass ein Appartement für 2 auch mal zwei Schlafzimmer à zwei Einzelbetten bedeuten kann.

In Kaunas also wird getrennt geschlafen. Es sei denn, wir machten uns beide ganz, ganz klein. Nach fast neun Jahren Ehe und über einem Jahr Magicbusmatratze ist das leider unmöglich. Also heißt es nun zwei Tage: Globetrottels Einzelhaltung.

Unsere initiale Absprache, dass wir die Stadt erst morgen besichtigen, wird nach zwanzig Minuten Kaunas gebrochen. Weil in der Neustadt Herbstfest ist.

Bei unserer wilden Anfahrt haben wir durch Zufall die Stände gesehen, natürlich hält es eine im Globetrottelsteam danach nicht aus, den Nachmittag nur drinnen zu verbringen. Und schlussendlich müssen wir auch nur einmal am Elefanten vorbei, durch den Hinterhof und sind ja auch schon da. Ist gar nicht weit, Chouchou…

Auf der längsten Fußgängerstraße Osteuropas –fünf Minuten zu Fuß von unserem „Spanner-schläft-alleine-Loft“– finden wir (unübertrieben) mindestens hundert Stände mit litauischem Kunsthandwerk, Nippes und Köstlichkeiten.
Wohlgedresste Menschen flanieren vor der Erzengel-Michael-Kirche der Stadt auf und ab – in großer Hoffnung, auch wirklich von allen gesehen zu werden.

Ein gänzlich anderer Chique als der, den wir aus Mitteleuropa kennen. In Estland und Lettland ist uns das nicht aufgefallen, hier aber ist die Fremde und die doch noch weite Entfernung von zu Hause plötzlich unübersehbar.

Auf einer Bühne wird Heimatfolklore zum Besten gegeben. Die Zuhörenden sind meist Frauen um die 70, die beschwingt mitgehen – in den Texten ihrer Kindheit.

Ein Paar tanzt, eine Lokalpolitikerin schreitet durch die Reihen, schüttelt Hände und verteilt ihr Wahlprogramm. Wie schade, dass sie bei uns nicht Halt macht: ich hätte gerne ein Selfie mit ihr gehabt.

Mit einem paar Ohrringen reicher verlassen wir den Markt.

Um morgen genauso wohlgedresst wie die Kaunaserinnen die Welt zu erobern.
Ich bin gespannt, was wir sonst noch so finden werden – in Litauens ehemaliger Hauptstadt.

Hotspot: Kurische Nehrung

Wir träumen süß in unserem litauischen Apfelgärtchen, unter dem größten Vollmond des Baltikums.
Mit einem Frühstück versorgt uns –nach drei Kaffee aus dem Glas– der Garten: mit baumfrischer Obstenergie starten wir in unseren Tagesausflug.

Bevor es für uns zur kleinen Fähre geht, rollen wir erstmal durch halb Klaipėda –am Casino, am Memelhaus, am deutschen Soldatenfriedhof, am Kriegsschiff, am Grafitti vorbei–, um neues Öl und Kühlwasser zu organisieren.

Bei „Autoaibė“ hat es feinstes Liquidmolli zum guten Preis: fünf Liter, mit denen wir es bis nach Hause schaffen sollten. „Do you need an oilfiter as well?,“ will der engagierte Mitarbeiter von uns wissen. „Nee, it´s only for everyday refill till home,“ sagen wir. Aus reinem Mitleid über einen derart pathologischen Öldurst bietet er uns mit traurigen Augen einen Discount an.

Am Hafen boarden wir die teuerste Fähre seit langem: für fünfzehn Minuten Überfahrt hin und zurück blechen wir satte 40 Euro. Die Kurische Nehrung scheint sich ihrer Poolposition auf der Liste litauischer Highlights bewusst und lässt sich diese Sonderstellung saftig bezahlen.
Immerhin: Wer schnell ist, kann für den Preis noch einmal flott die Toilette nutzen und danach zwei Atemzüge lang auf braunen Plastiksitzen den Rest der Fahrt genießen.

Über die laaaang gezogene Halbinsel, die in der Mitte von einer unüberwindbaren Grenze zwischen Russland und Litauen geteilt wird und die nur auf russischer Seite am Festland hängt, führt eine einzige Straße. Erstaunlich, wie schlecht diese ist. Am Touri-Hotspot Nr 1.
Vielleicht sind die 10 Euro Eintrittsgebühr, die wir an einem Straßencheckpunkt nochmal zahlen dürfen, für eine Asphaltinstandsetzung der Zukunft?!

Unser erster Halt ist die kleine Siedlung Juodkrantė.
Wir parken am Hafen, der in Richtung Haff rausgeht. Ein schlieriges Haff, in das sich scheinbar nicht mal die Enten trauen. Sie dösen lieber am Ufer, so tief, dass sie in ihrer Schläfrigkeit nicht merken, dass ein Sonderling sich unauffällig in ihre Reihen mischt.

Bunte Häuschen und Kunst an der Promenade: Steinschafe ohne Kopf grasen auf der Wiese. Wir machen mit. Ansonsten ist hier nicht viel.

Wir wollen zum Hexenberg hinauf.
In einem Fichtenwald sollen sich hier Dutzende hölzerne Hexenwesen, Teufel und weitere magische Figuren die Hände unter den Moosen reichen. Eine Ode an Litauens heidnische Vergangenheit, meint das Infoblatt. Also gesellen wir uns zu ihnen.

Schön sind die meisten der wilden Wesen, die wir am Wegesrand treffen. Nur manche schauen etwas schaurig aus der Wäsche.

Einen Teufel können wir zum Selfie überreden, indem wir unsere Seele an ihn verkaufen.

Weiter geht’s nach Nida – dem Hauptort der Kurischen Nehrung. Hier ist die Hölle los.
An der dritthöchsten Düne Europas, die schon mehrere Orte unter sich begraben hat, finden wir keinen einzigen freien Parkplatz. Ebenso wenig am Ferienhaus von Thomas Mann.
Nur am Hafen ist noch Platz für uns – für eine halbe Stunde und 1,50 Euro. Gucken wir die Düne halt von hier. Neben müden Straßenhändlern, die sehr viel Hässliches aus Bernstein verkaufen und wo selbst die Schatten einen auf katholisch machen.

Der anvisierte Streetfoodladen in Nida hat zu. Im Supermarkt kaufen wir uns Gepäck und frisch gepressten O-Saft und beobachten das wilde –meist professionell geführte– Treiben für weitere zwanzig Minuten. Dann ist unsere Parkuhr abgelaufen.

An sehr vielen Eierkopfschildern vorbei fahren wir zurück in Richtung Fähre.
So lustig wie die Hirschschilder sind auch ihre anderen Warnkumpels: die „Achtung Menschen!“-Version.
Sehr wahrscheinlich gab es einst eine Ausschreibung an der Designhochschule in Vilnius zum Entwurf neuer Verkehrsschilder – und der StarTrekk-Fan hat sie gewonnen.
Achtung, Eierkopf geht über Straße. Achtung, Eierkopf arbeitet. Achtung, Eierkopf spielt. Achtung, Eierkopf auf Fahrrad.

Zu schade, dass man ihn auf dem „Rastplatz im Sturm“-Schild vergessen hat. Ein „Achtung, Eierkopf rastet im Sturm“ wäre zweifelsohne mein Schilderfavorit geworden.

Am Abend kehren wir zu unseren Apfelbäumen zurück. Mit dem Wissen, heute 50 Kilometer vor Kaliningrad gestanden zu haben; 50km bis ins alte Königsberg.
Dort, wo meine Oma geboren wurde. Niemals bin ich ihr näher gewesen als heute.
Und trotzdem bleibt es unerreichbar. Unter einem Sonnenuntergang, der von Frieden träumt…

Nach Litauen

Nach einer warmen Sommernacht wackeln wir über die Schotterstraße wieder hinaus aus unserem Geisterdorf. Zurück auf die Wild-West-Straße (die eigentlich Wild-Ost-Straße heißen müsste) und auf der eine Mühle steht, zurück durch ehemaliges Sowjetsperrgebiet und weiter gen Süden.

Die erste Stadt auf unserer heutigen Route ist Ventspils. Wir sehen die dortige Tankstelle und ein Blick auf umliegendes Gebiet lässt ahnen, dass dies das Schönste ist, was dieser Ort zu bieten hat. Also weiter nach Liepāpa.

Durch wild zerfallene Wohnblöcke rappeln wir uns hinein in den „russischen“ Teil der Stadt; dorthin, wo die russische Minderheit Lettlands sich eine Enklave geschaffen hat: in Karosta.
Trostlose Szenerie, so weit das Auge reicht, bis hierhin hat es nicht mal mehr der Ostblockcharme geschafft.

Das ehemalige KGB-Gefängnis lassen wir links liegen. Heute ist hier ein Museum beherbergt, in dem man gegen einen kleinen Obulus das „KGB-Knast-Gefühl live“ buchen kann. Ein nachgespieltes Verhör –inklusive Appell und Demütigung—kostet schlappe fünf Euro, danach darf man dann versuchen ausbrechen.
Was wir nicht links liegen lassen, ist die orthodoxe Kathedrale. Weil orthodoxe Sakralbauten zu den schönsten der Welt gehören – wenn man mich fragt. Ohne böse Gedanken und ungehörige Kleider lässt man uns sogar rein.

Der Rest von Liepāpa ist auf den ersten Blick so schön wie Ventspils auf den zweiten: Viel Niedergang, blätternder Putz, Leerstand. Verletzt, vergessen, verlassen. Nur eine ältere Dame kämpft hier um eine letzte Contenance — zeitloser Stil mitten in der Apokalypse.

Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum wir uns spontan entscheiden, heute doch weiter zu fahren als morgens geplant.
Unbesehen rollen wir am Ostseecamp südlich der Stadt vorbei und justieren neu. Damit sind wir schneller im nächsten Land als gedacht.

An der Grenze zu Litauen kann man mit 70km/h vorbeirauschen. Während die Zöllner Würfel spielen und Schnaps trinken muss nicht gebremst werden.

Gestern noch haben wir gelernt, dass Litauen so ganz anders sein soll als Lettland oder Estland. Wegen seiner unterschiedlichen Geschichte, wegen seiner katholischen Prägung, während die beiden Geschwisterstaaten im Norden protestantisch dominiert sind.
Uns fällt als erstes ein „Achtung Springende Hirsche!“-Schild auf. Demnach scheint das hiesige Wild einen deutlich dynamischeren Sprung zu haben: the world famous lithuanian deer jump.

Wir rollen bis kurz vor Klaipėda, in ein Dorf namens Karklė.
„Ah! Danach wurde doch dieses feuchte Papier benannt,“ meint Chouchou: „Karklė feucht.“
Nicht ganz. Aber fast.

Der erste Campingplatz ist furchterregend. Mit kreischendem Weinen dreht der Magicbus sich noch in der Einfahrt auf dem Absatz um: hier können wir nicht bleiben.
Auf dem zweiten aber hängt ein buddhistisches Rad – ein Dharmachakra– über dem Eingang: ein sehr gutes Omen, wir ziehen ein. Neben prallen Apfelbäumen.

Beim Stricken freunde ich mich mit einer Libelle an. (Oder sie sich mit meiner Leoleggins!?)

Am Nachmittag spazieren wir an den Steilklippen entlang. Über steinigen Strand und durch dichten Wald.

Am Abend geht die Sonne satt über dem Meer unter. Und mal wieder stolpern wir über endloses Pastell.

Ein Schwarm Vögel fliegt der untergehenden Sonne krächzend entgegen. Es müssen Hunderte sein.

Zurück am Camp geht der größte Vollmond der Welt über nebeligen Wiesen auf.

Ich treffe unsere Campmama Okrscha und frage sie nach dem Dharmachakra. „Es ist seltsam,“ sagt sie, als sie das Logo fürs Camp auswählte, wusste sie gar nicht, dass es sich um das buddhistische Rad handelt. Okrscha hat lediglich das runde Zeichen gewählt, dass sie verstaubt auf dem Dachboden der Schule – die hier einst stand und neben der wir heute schlafen—gefunden hat.

Wie auch immer das Symbol von Buddhas Lehre in eine litauische Schule gelang, die Anfang des 20. Jahrhunderts geschlossen wurde!?
Der Gekreuzigte, der vor dem Haus hängt und es wissen könnte, blickt stumm und schweigt sich aus.

Es bleibt ein Rätsel. Ein interreligiöses.

Durchs kostenpflichtige Reichenghetto ins Geisterdorf Miķeļtornis

Wir räumen unsere Rigaepisode bis halb elf. Vier Nächte hat uns unser „romantisches Boho“-Appartement nun charmante Dienste geleistet – voller Luxus für die Nebenhöhlen. Gut getan hat das: den Näschen und den Seelen.
Mit einem kreischenden Quietschen geht es für den Magicbus heute ein Stück weiter gen Heimat. Im Gegensatz zu uns hat ihm die Pause anscheinend nicht allzu gut getan. Sein Weinen hält bis kurz vor Rigas Stadtgrenze an. Genauso wie unsere tröstenden Worte: „Nur noch zweizweitausend Kilometer! Du machst das ganz wunderbar, Du tapferster Magicbus von allen.“

Nach Rigas gigantischer Brücke, dem Metropolenstau und tristen Randblöcken folgt Lettlands längste Autobahnbaustelle: mit 50km/h hoppeln gen Westen.

So wild durchgeschüttelt, dass wir unsere Ausfahrt verpassen und an einer Mautstelle kurz vor Halbinsel landen.
Mit beidem haben wir Wirrköppe nicht gerechnet: weder mit Peninsula, noch mit Péage.

Wir rollen an eine hochmoderne Säule, auf der in großen Lettern steht: „Pay station Jumala“, bitte bezahlen Sie jetzt! Da wir keinerlei Ahnung haben, wofür der günstige Obulus nun genau sein soll, rufe ich die Hotline an. Und werde mit einem sehr lustigen Gespräch beschenkt.

„Hallo. Joana hier. Ich wollt kurz fragen, wofür die drei Euro sind?“
Lachen: „Das ist das Eintrittsgeld für die Stadt Jumala.“
„Ah. Und lohnt sich das?“
Lachen: “Na ja. Ist eine schöne Stadt. Ob es sich lohnt ist jetzt auch egal, ihr könnt ja gar nicht mehr umdrehen.“
Stimmt! „Ok. Wenn wir schon mal da sind: wat gibbet denn Schönes zu sehen?“
„Villen, Wald und Strand.“
„Ah. Dann ist es ja sehr gut, dass wir mal nach Jumala fahren.“
„Unbedingt. Willkommen in Jumala.“
„Danke. Nach Jumala wollte ich immer schon mal…“
Zum Schluss schmeißen wir beide uns weg: angesteckt vom Lachen des Anderen. Und weil´s lustig ist, über ein Gespräch zu lachen, das eigentlich gar nicht so äußerst lustig ist. Ein Lachen einfach des Lachens wegen, das sollte man öfter mal machen. Vor allem gemeinsam mit Fremden.

So rollen wir also –einigermaßen unfreiwillig– durch Jumala: einen schnicken Vorort der großen Stadt, der eingepfercht auf einer Halbinsel liegt.
Schicke Häuser hat es in der Tat. Und Blumenkübel am Straßenrand. Und Wald dahinter. Und ein Meer, das wir von der Straße aus nicht sehen können. Dafür macht ein frischer, lettischer Siegfried gerade den Drachen kalt und über allem liegt ein winziger Hauch von Amerika.

Für unsere drei Euro gehen wir einmal kostenlos Pipi machen, auf der Peninsula der Schönen und Reichen. Na, wenn sich das nicht gelohnt hat!

Hinter der Halbinsel folgt sehr viel kostenloser Wald, an dem wir knappe 200 Kilometer vorbei rollen.
Ab und zu taucht ein Dörfchen auf, meist mit ganz viel baltischem Bullerbü-Charme. In einem davon gehen wir einkaufen.

Manchmal sehen wir den Meerbusen von Riga, meist aber nur Bäume.

In Kolka –der Spitze der Landzunge, an der unsere Straße scharf links führt– wollen wir einen schnellen Blick aufs Cap werfen: auf den einzigen Ort in ganz Lettland, an dem man sowohl Sonnenauf- als auch -untergang über dem Meer bewundern kann. Das Parken aber soll drei Euro kosten – genau das Taschengeld, was wir bereits für Jumala ausgegeben haben.
Jetzt hilft es nur noch, sich für ganz besonders schlau zu halten und fünfhundert Meter weiter auf den kostenlosen Parkplatz zu fahren, dort auf den sehr hohen Turm zu klettern, in der Hoffnung, das Cap von hier aus zu erspähen. Anstrengend, atemberaubend und natürlich: erfolglos.
Aber ganz viel Ostsee – die sehen wir! Immerhin.

Durch den Slītere Nationalpark geht’s für uns noch ein kleines Stückchen gen Süden auf der menschenleeren P124. Rechts und links sehr viel Wildnis, vorbei an einer Natur, die seit über hundert Jahren nicht durch Menschenhand verschandelt wurde.

In Miķeļtornis wollen wir heute Nacht bleiben: einem verlassenen Geisterdörfchen, das nur über eine sehr zerpflückte Schotterstraße mit der P124 verbunden ist. Das einzige, was hier noch menschlich belebt ist, ist der Campingplatz – auch, wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht.
Per Fernruf kontaktieren wir den Camppapa herbei. „Ich sehe Euch,“ lässt er uns über knarzenden Funk zukommen. Sehr lange Stielaugen muss er haben, denn der Rest seines Körpers ist erst fünfzehn Minuten später bei uns.
Zwischen sehr viel Gedönekes erzählt er uns zwei spannende Dinge.
Erstens: dass das Baltikum seit Russlands Angriffkrieg touristisch ziemlich leer ausgeht, weil Kriegsangst herrscht, obwohl alle drei baltischen Länder Mitglied der NATO sind.
Und zweitens: dass die Schweden massenweise Holz aus Lettland importieren, frei nach dem Motto: besser den baltischen Forst abholzen, als den eigenen.
Wir drücken ihm zwanzig Euro steuerfrei auf die Kralle – für Camp und Stories – und sind für heute Nacht zu Hause, am Rande des Geisterdorfs.

Ein flotter Nachmittagsrundgang durchs geheimnisvolle Miķeļtornis.
Eine verlassene Kirche, ein leeres Haus. Eine verfallene Fabrik, eine nachgebildete Schiffssetzung der Wikinger. Ein altes Bauernhaus vor einem Leuchtturm, der nicht mehr erreicht werden kann.

Nichts regt sich. Außer kurze Schattenschemen aus einer längst verflossenen Vergangenheit. Spechte klopfen Gedichte in die Bäume, die schon sehr lange von niemandem mehr rezitiert wurden. In diesen Gräbern dreht sich seit Ewigkeiten niemand mehr um.

Auch der Ostseestrand –200 Meter weiter über zugewachsene Sperrwiese und Wald…

…liegt gänzlich verlassen da. Obwohl zahlreiche Fußspuren frisch sind. Als wäre noch vor Kurzem eine ganze Horde Menschen hier entlang gelaufen und dann plötzlich spurlos verschwunden.

Wo auch immer alle hin sind, die bis vor kurzem hier spazieren gingen!?
Sie sollen mir bloß nicht heute Nacht –zwischen grauen Träumen und düsteren Uhurufen–mit leisem Wispern ins Ohr flüstern….

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