Nach einer warmen Sommernacht wackeln wir über die Schotterstraße wieder hinaus aus unserem Geisterdorf. Zurück auf die Wild-West-Straße (die eigentlich Wild-Ost-Straße heißen müsste) und auf der eine Mühle steht, zurück durch ehemaliges Sowjetsperrgebiet und weiter gen Süden.
Die erste Stadt auf unserer heutigen Route ist Ventspils. Wir sehen die dortige Tankstelle und ein Blick auf umliegendes Gebiet lässt ahnen, dass dies das Schönste ist, was dieser Ort zu bieten hat. Also weiter nach Liepāpa.
Durch wild zerfallene Wohnblöcke rappeln wir uns hinein in den „russischen“ Teil der Stadt; dorthin, wo die russische Minderheit Lettlands sich eine Enklave geschaffen hat: in Karosta.
Trostlose Szenerie, so weit das Auge reicht, bis hierhin hat es nicht mal mehr der Ostblockcharme geschafft.

Das ehemalige KGB-Gefängnis lassen wir links liegen. Heute ist hier ein Museum beherbergt, in dem man gegen einen kleinen Obulus das „KGB-Knast-Gefühl live“ buchen kann. Ein nachgespieltes Verhör –inklusive Appell und Demütigung—kostet schlappe fünf Euro, danach darf man dann versuchen ausbrechen.
Was wir nicht links liegen lassen, ist die orthodoxe Kathedrale. Weil orthodoxe Sakralbauten zu den schönsten der Welt gehören – wenn man mich fragt. Ohne böse Gedanken und ungehörige Kleider lässt man uns sogar rein.
Der Rest von Liepāpa ist auf den ersten Blick so schön wie Ventspils auf den zweiten: Viel Niedergang, blätternder Putz, Leerstand. Verletzt, vergessen, verlassen. Nur eine ältere Dame kämpft hier um eine letzte Contenance — zeitloser Stil mitten in der Apokalypse.

Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum wir uns spontan entscheiden, heute doch weiter zu fahren als morgens geplant.
Unbesehen rollen wir am Ostseecamp südlich der Stadt vorbei und justieren neu. Damit sind wir schneller im nächsten Land als gedacht.
An der Grenze zu Litauen kann man mit 70km/h vorbeirauschen. Während die Zöllner Würfel spielen und Schnaps trinken muss nicht gebremst werden.

Gestern noch haben wir gelernt, dass Litauen so ganz anders sein soll als Lettland oder Estland. Wegen seiner unterschiedlichen Geschichte, wegen seiner katholischen Prägung, während die beiden Geschwisterstaaten im Norden protestantisch dominiert sind.
Uns fällt als erstes ein „Achtung Springende Hirsche!“-Schild auf. Demnach scheint das hiesige Wild einen deutlich dynamischeren Sprung zu haben: the world famous lithuanian deer jump.
Wir rollen bis kurz vor Klaipėda, in ein Dorf namens Karklė.
„Ah! Danach wurde doch dieses feuchte Papier benannt,“ meint Chouchou: „Karklė feucht.“
Nicht ganz. Aber fast.
Der erste Campingplatz ist furchterregend. Mit kreischendem Weinen dreht der Magicbus sich noch in der Einfahrt auf dem Absatz um: hier können wir nicht bleiben.
Auf dem zweiten aber hängt ein buddhistisches Rad – ein Dharmachakra– über dem Eingang: ein sehr gutes Omen, wir ziehen ein. Neben prallen Apfelbäumen.

Beim Stricken freunde ich mich mit einer Libelle an. (Oder sie sich mit meiner Leoleggins!?)
Am Nachmittag spazieren wir an den Steilklippen entlang. Über steinigen Strand und durch dichten Wald.
Am Abend geht die Sonne satt über dem Meer unter. Und mal wieder stolpern wir über endloses Pastell.

Ein Schwarm Vögel fliegt der untergehenden Sonne krächzend entgegen. Es müssen Hunderte sein.
Zurück am Camp geht der größte Vollmond der Welt über nebeligen Wiesen auf.
Ich treffe unsere Campmama Okrscha und frage sie nach dem Dharmachakra. „Es ist seltsam,“ sagt sie, als sie das Logo fürs Camp auswählte, wusste sie gar nicht, dass es sich um das buddhistische Rad handelt. Okrscha hat lediglich das runde Zeichen gewählt, dass sie verstaubt auf dem Dachboden der Schule – die hier einst stand und neben der wir heute schlafen—gefunden hat.

Wie auch immer das Symbol von Buddhas Lehre in eine litauische Schule gelang, die Anfang des 20. Jahrhunderts geschlossen wurde!?
Der Gekreuzigte, der vor dem Haus hängt und es wissen könnte, blickt stumm und schweigt sich aus.

Es bleibt ein Rätsel. Ein interreligiöses.



















