Ein Spaziergang durch den Garten Eden. Mit allen Schikanen, die dazu gehören.
Nachdem wir lecker ausgeschlafen haben, gibt es für uns heute nur ein kleines Fussprogramm.
Einmal die Schlucht hoch — bis zum verlassenen E-Werk — und wieder runter. 8,9km und 426 Höhenmeter ohne Gepäck. Ein Genussspaziergang, immer den Mulhacén in Sichtweite, den höchsten Berg des spanischen Festlands.
Mulhacén. Das ist der Berg, von dem wir seit ein paar Tagen träumen. Wir träumen, in den nächsten Tagen ein einziges mal dort hoch zu kommen. 3479 Meter über Null. Wie toll das wäre! Aber auch machbar? Nur mit Jakobswegequipment? Hier ist es sinnvoll, ein paar Expert*innen mit ins Boot zu holen.
Leider hat sich auf unsere Emailanfrage an die andalusische Bergwacht bezüglich der momentanen Machbarkeit bisher niemand gemeldet. Deren Büro im Dorf hat lediglich von Donnerstag bis Sonntag geöffnet. Da müssen wir morgen früh also dringend hin. Wegen der Träume und so, in abgelatschten Schuhen und so. Das aber ist erst morgen.
Zurück also zu heute.
Diese Wege machen Freude, diese Wege machen Spaß. Den Wegesrand in den letzten Tag zu Hauf beschrieben, bekommt man von Wildblumen trotzdem nie genug. Wieder Wildblümchenwiesenparadies in mitten der Wasser der hohen Berge. Genau so steht es auch am Fluss beschrieben: „aguas de alta montaña“, genauso darf es noch hundert mal auch in diesen Zeilen beschrieben werden. In einem Text, der eh mir gehört, in dem ich ergo so oft schreiben darf, wie ich es will: Wildblümchen, Wildblümchen, Wildblümchen…
Wir kommen an engagierten Pferchen vorbei, die des euphorischen Wieherns nicht müde werden. Sie leben neben der verlassenen Kirche, die einst die Arbeiter des E-Werks bekehren, trösten, zusammenhalten sollte. Heute ist hier ihr Heulager mit einem gruseligen Graffitti darin: ein Baby ohne Gesicht, dessen Loch im Kopp gähnend leer die menschenleere Schlucht hinauf starrt.
Wir stiefeln in ein verlassenes Haus und inspizieren die Einbruchsicherheit. Am ehesten: mangelhaft.
Ein spanisches Pärchen nähert sich laut schnatternd über den ansonsten einsamen Wanderweg, sieht uns in der
Ruine allerdings noch nicht.
Aus reiner Lustigkeit am Leben stelle ich mich wie eine Schaufensterpuppe in eines der verlotterten Fenster: nicht bewegen, einfach blöde und unbewegt grinsen, kleines Spässken machen.
Der Gag verfehlt sich selbst leider mehr als geringfügig, da Chouchou —in seiner Menschenfreundlichkeit— laut „Hola“
brüllt, damit Luisa und Pepe sich nicht zu Tode erschrecken beim Anblick meiner perfekten Pantomine. Immerhin schafft es meine „Kunstinstallation am eigenen Leib“ zu einem gemeinsamen Lacher. Gut so, denn Luisa und Pepe müssen uns kurz darauf noch das Leben retten. Da schadet ein gemeinsamer Lacher vorab rein gar nix.
An einem freundlichen Schäfer auf einer Schrägwiese vorbei, sehr wahrscheinlich kommt er mit seinen Schafen und Ziegen in den letzten achtzig Jahren täglich hierher.
Ein uralter Greis, der deutlich besser zu Fuß ist als wir beiden zusammen. Vielleicht sogar besser als seine Hunde, die eher gemütlich betagt in einem ‚Tag wie alle Tage’ herumschnüffeln.
Kurz darauf folgt die Kuhherde, leider gänzlich ohne Hirte, leider auf einer sehr engen Schneise und man merkt den Herrschaften sofort an, dass sie diese hirtenlose Freiheit sehr genießen.
Eigentlich wäre es an uns allen —Kühe und Wandernde— einen guten Kompromiss für alle zu finden. Wer hat hier Vorfahrt, wer geht zuerst?
Ähnlich wie bei Brutus, dem einsamen Moschusochsen aus Schweden, aber gilt: Lebewesen mit mächtigen Hörnern müssen nicht diskutieren. Lebewesen mit mächtigen Hörnern haben IMMER Vorfahrt.
Also heißt es für uns, ängstlich an den Hang gequetscht zu warten. Dass sich wenigstens eine Kuh der Herde erweichen lässt, zumindest ein klitzekleines Stück voran zu gehen.
Die Kühe aber tun: nichts. Außer wiederkäuen.
Nach zehn Minuten Bangnis nehmen wir uns ein Herz und wollen versuchen, uns an der ersten (von zwanzig) mit angstgeweiteten Augen vorbei zu schieben.
Die Kuh starrt uns ungläubig an und dreht dann ihren massigen Körper in unsere Richtung. Friedlich, aber bestimmt, auf einem 30cm breiten Pfad, den wir uns eigentlich teilen sollten (wollte ich nochmal sagen!). Dann macht sie kauend einen Schritt nach vorne, uns in keinem Moment der Konfrontation aus den Augen lassend. Zeit für uns, zügig zurück ins Gestrüpp zu flüchten. Kühe müssen ihre Wege nicht teilen. Niemals.
Da stehen sie nun am Steilhang: die ängstlichen Globetrottels, durch und durch Städter, aber mit ganz großen Phantasien, irgendwann einmal Naturburschen zu sein. Leider ist dieser Moment nicht heute.
Nach weiteren 15 Minuten am Hang hängend (die Kühe machen weiterhin leider gar nichts außer wiederkäuen) hören wir plötzlich Stimmen hinter uns. Luisa und Pepe kommen den Weg entlang. Endlich naht Rettung — auch wenn sie wenig nett eingefädelt ist. Taktik: einen spanischen Toro bei der Männlichkeit packen. Also rufe ich —so herzerweichend wie es irgendwie geht: „Ayuda! Necessitamos un torero aqui!“
Hilfe, wir brauchen hier einen Torero!
Ethisch unsaubere Nummer, ich weiß, aber wir sind in Not, die bekanntermaßen kein Gebot kennt.
Pepe macht den Job bestens. Was soll er auch sonst tun?
Während Luisa sich —in Sicherheit—mit uns an den Hang hängt, bewaffnet Pepe sich mit einem Stock. Ein halbstündiges „Venga! Venga!“, Pfeifen und drohen folgt. Mitten in einem Flüsschen stehend, an einer uneinsichtigen Bergkurve, versucht er, die Kühe irgendwie in Bewegung zu bringen. Ich flüstere Luisa entschuldigend zu: „Disculpame, wir kommen aus einer Gegend, in der es keine Kühe gibt.“ „Ich auch nicht,“ sagt Luisa. Sie ist aus Cádiz und hängt mittlerweile ängstlich an meinem Arm, während Pepe —im Auge des Kuhsturms— erneut: „Venga! Venga!“ schreit.
Schlussendlich dauert die Nummer fast eine Dreiviertelstunde. Denn spanische Kühe lassen sich nicht unter Druck setzen. Es hat sich anscheinend rumgesprochen, dass ein vermeintlicher Torero nicht allzu gefährlich sein kann, wenn dessen Matadore ängstlich an einem Steilhang hängen.
Es ist reine, kuhliche Gutmütigkeit, dass sie irgendwann freiwillig den Weg frei geben. Für die erschöpften Wandernden. Oder ist’s, weil’s ihnen einfach zu langweilig wurde. Wer könnte es ihnen verdenken?
Gesund und munter erreichen wir unser Appartment lange nach der Siestazeit — durch Schmetterlinge und unter roten Rosen hinweg. Nach einem Spaziergang, der vollendens abenteuerfrei geplant war.
Abendessen auf der Terrasse, die Agenten von gegenüber zeichnen weiterhin unsere Gespräche auf und lesen —sehr wahrscheinlich— auch diesen Text.
Vielleicht arbeiten sie mit der Herde zusammen!? Wer weiß es schon?
Zeit, heute Abend ein Kaminfeuer zu entzünden, da uns die netten Gastgeber Holz vor die Türe legten.
Möglicherweise ist es für Rauchzeichen in Not gedacht!?