Unterwegs im Magicbus

Monat: April 2024 (Seite 1 von 3)

Eine Frage, die man besser nicht stellt

Es war ein prima PausenTag in Navarrarenx, den wir größtenteils leider mit planen verbracht haben. Wie zu Beginn der Reise sind die Herbergen nun plötzlich meist wieder ausgebucht auf den nächsten (für uns sehr letzten Etappen).
Der Jakobsweg gibt uns nun noch mal alles um zu zeigen, dass er nichts mehr für spontane Geister ist!
Catherine verabschiedet uns mit Räucherstäbchen aus der best riechendsten Unterkunft seit jeher…

Das Wetter ist heute bestens. Häuser mit Schlupfdächern, die Jakobus Gesellschaft hat Obstbäume am Wegesrand gepflanzt.

Schmutz-Schlitterweg im Wald. Ein Schild warnt: „Achtung, Taucher!“ Warum nicht!?

Wir pausieren erst an einem Hof, der Gänseleberstopfpastete anbietet. Auch hier hat Frankreich ein Schlupfloch gefunden: Kultur versus Tierschutz. Wir trinken nur Kaffee.

Nächstes Picknick mit Wanderwurst: ein netter Hund mit wenig IQ. Wofür bräuchte er den auch!? Nur schade, dass er bei der Nahrungsaufnahme nach unserer Fütterung AUF dem Tisch sucht und dabei quasi runterstürzt.

Dann: der „Strand von Lichos“, nun sind wir ganz offiziell im Baskenland. Aber hier ist alles zweisprachig auf den Straßenschildern.

Den allerletzten Platz, der heute frei war, finden wir in einer „Donativo“-Herberge: Übernachtung und Essen gegen Spende. Irgendwo —mal wieder im Nichts. Wir rechnen mit allen. Nur nicht mir Steeve.

Steeve hat am Rande des Baskenlandes ein Bauernhaus gekauft. Die ganze Nummer ist so gut saniert, wie es geht. Aber die Fliegen sprechen Bände der Wahrheit.

Es wird ein äußerst lustiger Abend mit
Steeve — dessen Lachen alleine Showeinlage ist— und Thierry —ein verlorener Franzose, schwer krank. Wir bekommen das beste vegetarische Essen Frankreichs, lachen, reden (natürlich nicht) über Politik. Katzen auf den Tischen, Hunde zu Fuß, die Fliegen schwirren um Ohren und Kopf. Ein guter Ort, so lange man sich nicht um Hygiene sorgt.

Wir haben heute ein Zweierzimmer mit Trockentoilette. Eine nette Überraschung in einem Land, das bedacht auf Permakultur ist. In jeder Ritze.
Die Katzen heißen Putin und Stalin, wir fragen nicht weiter. Weil es heute heißt: „We don’t talk politics.“
Als Steeve die Herberge eröffnete, hat er intial jeden Pilger nach seinen Beweggründen gefragt: warum gehst Du den Camino?
Nachdem jeder zweite zu weinen auffing, hat er die Frage besser weggelassen.

Warum also gehst Du den Camino?
Eine Frage, die man besser nicht fragt. Damit hier keiner weint.
Auch das, eine äußerst wichtige Erkenntnis!


Wir sind alle Sternenstaub

Eines ändert sich nie: Die Globetrottels werden auf diesem Weg wohl immer der Schwanz der Schlange bleiben.
Als wir (noch ungewaschen) zum ersten Kaffee in der Gemeinschaftsküche erscheinen, sind nur noch Emil, Valerie und die freundlichen Elsässerin da, deren Namen ich leider vergaß. Alle anderen sind schon lange, lange wieder unterwegs. Auf in Richtung Erleuchtung.

Diesen Sonntag machen wir also Sonnenwanderung. Hat der Wettergott so entschieden.
Wildblumenwiesen wie im Paradies, ein Rotmilan zieht leise seine Kreise.
Meist geht es an Bauernhöfen vorbei, einige davon mit eindeutigen Traumhauspotential.
Eine der vielen „Fermes“ gehört Albert, der jüngst 60 wurde (glaubt man den zahlreichen Aufschriften auf Asphalt). Albert hat zwei PyrenäenHirtenhunde, die uns freudig begrüßen und eine Ammenkuh, die gleich drei Kälbchen auf einmal säugt. Und wir fragen uns, ob die Kühe sich wohl in Schichten einteilen!? „Bertha, heute bist Du mit Milch geben dran!“ Damit die anderen einfach mal einen Tag Pause machen können. Oder bekommen Kühe auch mal Drillinge?

Ein Pilgerpausengarten im Nichts. Ein alter Sessel, der vom lesen träumt, eine Kanne heißes Wasser für die Durstigen. Eine Schaukel, die uns gerade noch hält und überall Yogiteesprüche in den Bäumen: „Regel Nummer eins: Scheiß drauf,was sie denken!“ oder:
„Gibt gibt es ein Leben vor dem Tod?“ oder:
„Eine andere Welt ist möglich.“ oder:
„Wir sind alle Sternenstaub.“ oder:
„Camino, sex and sun.“ oder:
„Ich kenne meine Grenzen. Deswegen gehe ich drüber.“
Natürlich folgt auf diesen Garten eine Gîte die nicht anders heißen kann als: „Zeichne mir einen Weg,“ frei nach dem kleinen Prinzen, der unbedingt ein gemaltes Schaf wollte. „Dessine-moi un mouton.“ = Zeichne mit ein Schaf. Dies ist —laut Globetrottels‘ Literaturkritik— wirklich ein literarisches Meisterwerk. Ganz im Gegensatz zum Alchemisten, der am Weg auch viel zitiert wird und ein vollkommen überbewertetes Sammelsurium von Schundweisheiten darstellt. Zumindest, wenn man älter als 15 ist. Mit 15 aber ist auch der Alchimist wichtig und hat damit seine Berechtigung. (Globetrottels Reich-Ranitzki Ende.)

Weiter über leergefegte Wirtschaftswege. Heimelige Outdoorkapelle mit zenartiger Pausenbank und wunderschön bemalter Jakobsmuschel.
Nur zweimal noch begegnen wir heute anderen Menschen unterwegs:
Einmal der Gendarmerie, die von uns wissen will: „Woher? Wohin?“
und einem Hohepriester einer Weltuntergangskommune, die hier irgendwo versteckt im Wald lebt. Mit lächelnden Augen warnt er uns vor dem großen Knall, der bald kommen wird und drückt uns ein Survival-Infoblättchen in die Hand, bevor er von dannen zieht: keine Zeit mehr zu verlieren.

Nach 15km tippeln wir nach Navarrenx rein.
Zünftige Stadtmauer, an der heutzutage Pilgergesichter hängen und Gott sei dank keine Aussätzigen mehr, wir suchen das einzige Café.
Valerie und die freundliche Elsässerin, deren Namen ich leider vergaß, sind natürlich schon dort winken uns fröhlich Hallo. Zu Essen gibt’s hier heute leider nichts mehr für uns: das kennt der Schwanz der Schlange ja schon, aber immerhin fühlen wir uns gleich ein bisschen wie zu Hause.

Für zwei Nächte gönnen wir uns hier, mittlerweile am Rande des Baskenlandes, ein Appartement, das eigentlich Catherine gehört. Und tauchen ein in die schönste Unterkunft unseres gesamten Caminos.

Catherine hat das alte Haus selbst auf Vorderfrau gebracht und ein wunderschönes Pilgerappartment aus den alten Mauern geschält. Hier ist nicht nur alles da, sondern obendrein auch alles wunderschön. Inklusive frischer Blumensträuße auf dem Tisch, der Anrichte und im Schlafzimmer. Inklusive der coolsten Vintagetapete der Welt, des Wissens um die Wirkung von Licht und einer roten Rose vor dem Fenster, die farblich ihres gleichen sucht.
Inklusive einer Gastmama, die uns —obwohl in keiner Weise mitgebucht— sogleich einen Salat und eine vegetarische Pie auf den Tisch stellt. Aus purem Mitleid, da wir im Café nichts mehr zu essen bekamen.

Da sind wir also: Navarrenx. Für wunderbare zwei Nächte. Und ein wenig verrückt ist’s schon:
Seit wir vor zwei Tagen die Entscheidung getroffen haben, den Pilgerweg fürs erste in St Jean zu verlassen, wird dieser Weg plötzlich immer schöner, magischer und reizvoller.
Vielleicht beginnt man manchmal zu finden, wenn man das Suchen aufgegeben hat!?
Auch das: ein herrlicher Yogiteespruch. Den wir so langsam zu spüren lernen — und nicht nur zu lesen.


Zur Familie zu gehören, auch wenn man sich zurück zieht

Wundervolles Licht am Morgen. Antike Straßenlampen vor sonnigem Wolkenhimmel, ab geht’s in die nächste 19km Etappe. Nach einem der liebevollsten Frühstücke, die die Welt je gesehen hat. Danke Aïsha!

Geilste Pilgersnacks der ganzen Welt gibt’s in der „Drei Törtchen“-Bäckerei von gestern. Unter anderem ein schwarzer Bagel mit sehr viel Lachs drauf: heute vegetarisch.

Über nette Feldwege bergan, nur selten auf Straße. Und wenn, dann fahren Oldtimer darüber: nett ist das und erinnert mit Liebe an Onkel Uwe. Uwe, wir vermissen Dich. 8 Jahre schon.

Passend zur Mittagszeit erwischen wir den Ladenschluss des Tante Emma Ladens und laden —Gott sei dank— noch Eis auf. Erst das zweite auf diesem Camino. Mit letzten Sonnenstrahlen weggeschlabbert, dann beginnt der Regen.

Am kommunalen Sportplatz —heute sehr leer und unsportlich— verpacken wir uns in Plastik. Erstmalig kommen die Gamschen an die Füße: kein leichtes Unterfangen, aber schlussendlich die trockene Variante.
In Vollplastik geht’s —nach zehn Minuten bereits pitschnass— den nächsten Berg hoch.

Ein Tipp für Geister, die unter einer schmalen Emotionsbreite leiden: bei lecker warmen dreizehn Grad im Platzregen einfach mal einen Berg in Vollplastik und mit Gepäck einen Berg rauf stiefeln. Danach leidet keiner mehr unter zu wenig Gefühl. Cave: fällt allerdings nicht in den Bereich „Komfortzone“.

Nach weiteren vier Kilometern reißen wir wütend das Zeug vom Körper. Reiner Überlebenstrieb bei schwimmen im eigenen Saft. Tipp für Geister, die unter schmalen Körpergefühl leiden. Weil man spüren kann, das jede Zelle ausatmen will. Und garstig wird, wenn der eigens abgesonderte Saft nicht entweichen kann.

Frank kommt vorbei und fragt, ob alles in Ordnung sei. Oui, merci. Denn seien wir ehrlich: Nur der Kopf hat Probleme. Wie so oft im Leben. Frank nickt wissend und stiefelt locker vor uns den nicht endenden Berg hinauf.

Durch den Wald, kurz kommt die Sonne raus und verabschiedet sich gleich wieder. Eine schwarze Schnecke kriecht vorbei. Bis hier hin wusste ich nicht, dass sie Eier legen kann. Ein weiteres Wunder Welt, in dem ein Esel freudig hinter uns her galoppiert.
Kleiner Liebesmoment am Wegesrand und dann zieht sich der Himmel auch schon wieder zu.

Nach 18 Kilometern das rettende Kloster in Sauvelade. Anbei liegt unsere Gîte und wieder einmal schlägt der gute, alte Jakobswegslogan zu: Du weißt nie, was Du kriegst.

Die Jungs aus Allgäu und Pott sind schon da und weisen uns auf deutsch ein: wir haben also Zimmer 7. Nicht Bett 7!? Nee. Zu unserer Überraschung gibt es keine Massenzimmer (wie angekündigt), sondern jedem kleinen Schweindl seinen eigenen Stall. Wie toll ist das denn bitte!?

Die Bar öffnet um halb sechs. Emil ist der erste an der Theke, zu dem geselle ich mich doch mal. Emil aus dem Vaucluse. Hat herausgefunden, dass es super ist, seine Frau nicht täglich vom Weg anzurufen. Seit er damit aufhörte, fing sie plötzlich an, ihn sehr zu vermissen, sagt er. Und bimmelt nun zweimal täglich durch. Emil, der Fuchs, hat ganz nebenbei seine Ehe neu belebt. Durchs rar machen.
Dann kommt Wolfgang. Der hält sich an Chouchou und schüttet alsbald sein Herz aus. Über das, was er auf diesem Weg sucht und was er in einem zwei Wochen Trekking in Nepal schon gefunden hat.
Mir fällt hierbei vor allem eins auf: wie sehr ich Chouchou doch liebe für seine Fähigkeit des bedingungslosen Zuhörens:
Kein Wort davon, dass er mit der eigenen Schrottkarre nach Kathmandu gefahren ist. Kein Wort von eigenen Nepalwanderungen. Kein Wort von „Ich“, sondern lediglich wertschätzendes Zuhören und herziges Miterleben von Wolfgangs Geschichte.
Wie sehr ich ihn in diesem
Moment dafür liebe, Wolfgangs Erlebnisse nicht mit einem egozentrierten Satz zu Nichte zu machen, indem er so was los wird wie: „Ja. War auch schon da, kann ich nachvollziehen.“
Kurz darauf kommt Frank. Frank, der seit dem Wald und dem Abwerfen des Plastiks von uns schon weiß, dass die Probleme nur im Kopf liegen.
Wie schade, dass um sieben Massenspeisung (ohne uns) ist. Just in dem Moment, als Frank meine Frage beantworten will, ob dieser Weg —seiner Meinung nach— denn nun wirklich etwas Magisches an sich hat oder eben nicht.

Manchmal glaube ich, es ist vollkommen egal, wie man die Dinge bezeichnet oder belegt.
Wie nennt man es, wenn ein herziger Wirt es nicht aushält, dass man bei einer Massenspeisung nicht mitmachen will und trotzdem kostenlos ein Essen serviert?
Das Fleisch verteilen wir unter den andern und schmausen demütig den Rest.
Ist das ein: „Zur Familie zu gehören, selbst man sich zurück zieht?“
Vielleicht. Ein bisschen.
Wenn man an denn an was Magisches glauben will.
Heute Abend möchte ich das.


Ein guter Grund zu pilgern, ein guter Grund zu wandern

Verrückt. Man kann tatsächlich im Elfbettzimmer ganz gut schlafen. (Auch, weil Pierre-Eve und Annick nicht schnarchen, aber das muss der sauberen Erkenntnis-halber ja nicht erwähnt werden.)

Check out um 8h, wir zögern —gemeinsam zu viert— bis 9 hinaus. Auch, um Zeit zu gewinnen für eine herrlich kurze Etappe heute: Wellness wandern für schlappe 10 Kilometer. Weil wir auf Punkt vier der Foto Challenge langsam keine Lust mehr haben: den ewigen Schmerz.

Der angeblich obligate Schmerzaspekt des Pilgern geht uns heute seelisch nach.
Ehrlich und tief in uns hinein gehört, spüren wir: Auf Schmerz haben wir einfach keinen Bock mehr! Sorry, lieber Jakobus, aber diesem Aspekt können wir einfach nichts abgewinnen. Körperliche Herausforderung: ja. Gerne auch über eine längere Zeit.
Meinetwegen auch Grenzgang. Das Konzept des dauerhaften Schmerzes aber, bekommen wir nicht mit unseren Lebensideen überein. Wir haben es wirklich versucht — vielleicht sogar auch ein bisschen verstanden. Manchmal reicht das.
Und daher treffen wir eine sehr wichtige Entscheidung:

In St Jean Pied Le Port steigen wir aus. Oder besser gesagt: in 100 km steigen wir um. Von pilgern auf weitwandern.
Die gleiche Nummer, aber ohne Schmerzen und bezahltem Pilgergefühl. Weg von Asphaltstraßen und Selbstkasteiung, hin zu mehr Natur, mehr Selbstbestimmtheit und vielleicht auch Einklang.
Bis dahin werden wir knappe 700 km gepilgert sein, bis dahin kann man sagen, dass wir einen einigermaßen guten Überblick bekommen haben, was dieses Konzept bedeuten kann: Pilgern.
In St Jean ist diese Etappe für uns rund. Ende der Via Podiensis, ab hier ginge der Camino frances los. Den sparen wir uns für später. Irgendwann.
Eine große Entscheidung. Eine wichtige.
Inklusive dem Gefühl, trotzdem nicht vorzeitig hingeschmissen zu haben. Auch das ist (spannenderweise) sehr wichtig für uns…

Was folgt ist ein sehr entspannter Tüdeltag. Am Wegesrand rosa weiße Gänseblümchen, ein zwängig angeordnetes Steinhaus. Blick auf die Pyrenäen, wenn die Wolken denn wollen. Und natürlich immer wieder Yogiteesprüche am Wegesrand. Diese bauernschlauen Sprüchlein hier und da, die aus einem Wander- einen Pilgerweg machen.

Blumenwiesen, wilden Spargel knabbernd, quer durch violettes Gras hoch zu einer zauberhaften Kapelle kurz vor Arthez.
Auf kaltem Altar meditiert, auch das wohl ein Unterschied zwischen Pilger- und Wanderweg: engmaschige Meditationsräume dort und hier, kulturelle Zeugen der menschlichen Suche nach Sinn und Antwort.

Arthez de Bearn: hat angeblich alles.
Für heute sind wir also wieder mal da.
In der alternativen Pinguinbar bekommen wir vom maulfaulen Wirt zumindest eine Cola. Essen hat er nicht, Musik gibt’s heute Abend ebenso wenig, für Bier aber könnten später wiederkommen. Ein Willkommen der Pyrenäen-atlantischen Art.
Warten vor der Kirche auf endlich Check in um 15:00 Uhr, es beginnt zu gießen. Also ab in die Bäckerei: drei Törtchen bestellen.
Ein Schmaus. Das Mango-Pistazien-Törtchen schlägt beinah seinen Kompagnon „L‘oran“ aus Cahors. Falls irgendjemand mal dort hinfahren sollte: dringend merken, wer Gaumenhimmel auf Erden erleben will.
Bitte, gern geschehen.

Wir schlüpfen heute bei Aisha unter. In einer Pension. Wahnsinn, wie viel Luxus das ist nach mehreren Tagen Herberge.
Duschen und Handwäsche, die auf einem beheizten Handtuchhalter trocknen kann. Der Inbegriff von „freshness“.

Abends gibt es statt Herbergseiern Pizza. Ums Eck: unser maulfauler Wirt, der nach sechs wirklich Bier spendiert und einen Pilger-Punkrock-Stempel.
Wenn’s nicht so wolkenverhangen wäre, könnte man durch die Scheibe, die von sehr vielen Fliegen umworben wird, die Pyrenäengipfel sehen. Eine alte Katze döst auf dem Stuhl neben uns. Über ihr ein ihr gewidmetes Kunstwerk: „Chabbogy“.
Irgendwann spielt unser Wirt extra für uns neudeutsche Klänge. Irgendwas zwischen Stereototal und Die Sterne und ich beschließe: sollte ich irgendwann ein Auto kaufen, wird es eine Ente sein.

Das Auf und Ab des Pilgern. Eines des größten Abenteuer, das wir jemals in Angriff genommen haben, ohne es vorher zu ahnen.
Eines bleibt —neben der heutigen Entscheidung, dem Schmerz Adieu zu sagen— trotz allem sicher: auf den letzten 600 Kilometern haben wir unzählbare Erinnerungen gesammelt, die sich fest in Herz und Hirn brennen.
Das ist immer ein guter Grund loszuziehen.
Und ein guter Grund zu pilgern.


Du weißt nie, was Du kriegst…

7:00 Uhr: alle Pilger sitzen beim Frühstück . Alle, außer die Globetrottels. Die träumen noch und tapern erst 30 Minuten später —ganz alleine— in der Pilgerküche, den eigenen Krümelkaffee trinkend und beobachtend, wie die echten Profis dabei sind, hochengagiert loszuspurten. Mit Aufnäher und Ziehwagen.
Der absolut beste Start in einen neuen Pilgertag.

Tatsächlich haben wir im Nebenzimmer von Kim und Chang geschlafen. Die beiden düsen heute auch schneller los als wir: sie hatten bereits Frühstück um 7h. Und wir nehmen uns fest vor, sie in ein längeres Gespräch einzuspannen, wenn wir sie heute einholen werden. Schließlich begleiten sie uns nun auch schon locker eineinhalb Wochen und wir wollen seit Tagen dringend wissen, wie es sich eigentlich für Südkoreaner auf diesem Weg anfühlt. Noch mehr Aliens als wir.

Wir verlassen die Gîte auf den allerletzten Drücker, um kurz nach halb neun. Betten werden selbst abgezogen.
Beim Abmarsch erblicken wir einen Aufruf zum Jakobsweg-Fotocontest. Mit vier Themenbereichen:
1) Landschaften. 2) Freude. 3) Erkenntisse und 4)Schmerz.
Plötzlich fällt es uns wie Schuppen von den Augen: ein Viertel dieses Weges also soll der Schmerz sein!? Ganz offiziell deklariert.
Wie blöd muss man sein, sich das anzutun? Ganz ohne Gottgläubigkeit mitten rein in die alte Büßernummer? Transformation durch Leid und so einen Quatsch?
Entsprechend nachdenklich die ersten Kilometer.

Vorbei an „Bitte hier nicht defäkieren“-Schildern: die Nachdenklichkeit wird dadurch nicht weniger. Was musst passieren, dass der Bauer dieses Schild aufstellt?
Pause an einem Wunderbrunnen: hilft angeblich gegen offene Wunden. Über Moospfaden zu einsamem Kirchlein. Meist mit Blick auf die schneebedeckten Pyrenäen in der näher kommenden Ferne. Verkannter Wachhund, der nur schmusen will.

Wir treffen Kim und Chang wieder und setzen unseren Plan in die Tat um. Voller Spannung dreißig Minuten hören, wie man als Mensch aus Südkorea auf diesen Weg kommt, zurecht kommt, die Welt hier empfindet. Und finden obendrein heraus, dass sie nicht Kim und Chang heißen, sondern Kim und Kang.

Weiter geht’s: vorbei an einer die Gîte, die Kakao als Cappuccino verkauft und seltsamen Graffitis, die an ehesten als Antiwerbung fürs Pilgern fungieren. Ein Kälbchen mit Milchmäulchen, ein Schild —aus den Latschen gekippt- das vor „zahlreichen Pilgern“ warnt, ein liebevoll angelegter Rastplatz am Bächlein, verlotternd in die Jahre gekommen. Durchaus ein Bild, mit dem sich identifizieren lässt.

Nach 21 Kilometern endlich Ankunft im wundervollen Pomps: Bullerbü in Frankreich.
Die Gîte Communale hat noch zu, also wenden wir uns erstmal dem Tante Emma Laden zu. Mitten hinein gepurzelt in Pomps.

Mit den Hunden sind wir —wie zu erwarten— sofort beste Freunde: ein fettiger Labrador und eine Bulldogge, die Schweinchen-rosaschwarz gefleckt ist und nur einmal nachlässig weiß übergestrichen wurde. Dann spendiert uns Cathy einen lokalen, süßen Weißwein: aus reiner Freude und Freundlichkeit. Omi sitzt mit Freundin im Hof und werkelt dann im Garten, irgendwo springen Kinder rum.
Und wir sind heute Teil hiervon. Willkommen.
Lange vor dem Regen, der nicht mehr kommen soll.

Irgendwann eröffnet Stephane auch seine Gîte. Laut Internet hat’s hier nur 10BettZimmer, in unserem Gemach stehen elf Betten.
Und wir haben Glück:
Stephane ist ein bärig-fröhlicher Mann, den man schnell umarmen möchte. Außerdem hat er heute nur vier Betten vermietet. In einem Schlafsaal, der —wie früher in den Krankenhäusern— durch blickdichte Gardinen in einzelne Departments unterteilt ist.
Wir schnappen uns ein „Zweierabteil“ und schieben erstmal die Betten zusammen.

Was wie ein Horrorfilm beginnen kann, geht wunderbar zu Ende:
Wir duschen und schlupfen vor dem Essen nochmal zu Cathy: zweiter Apero und ein Plausch. Es stellt sich heraus, dass auch sie eine Herberge führt, heute mit zwei Gästen aus Korea: Kim und Kang.
Dann ist auch schon Abendessen bei Stephane.

Der Tisch für vier steht am Ende der Turnhalle. Annick und Pierre-Eve aus der Bretagne (eigentlich aus Belgien, das aber kommt erst nach Pierre-Eves dritten Wein raus) speisen heute mit uns.
Es ist nicht nur die Szenerie, die diesen Abend großartig macht. Es sind auch die zwei superfreundlichen Belgier-Bretonnen, Stephanes Liebe zum Essen, die beste Mayo der Welt und Isabelles (Stephanes Kollegin) Tänzeln bei jedem Wort der Zuneigung zu ihrem Hahn Olaf.

Oh Chemin de Compostelle. Immer wieder aufs Neue weißt Du zu überraschen. Und niemals weiß man morgens, was man kriegt.
Eines aber ist sicher: langweilig wird es nie.
Punkt 2) und 3) der Fotochallenge:
Freude und Erkenntnis.
Wen stört da schon der Fersenschmerz?


Von Profis beraten

Um Punkt sieben werden wir zum Frühstück erwartet. So läuft der Hase in der Pilgermassenhaltung: wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Die Ultreia-singende Truppe von gestern sitzt schon lustig schnatternd am Tisch, wir werden freudig und lautstark begrüßt. Vor dem ersten Kaffee.
Nur unsere Zimmernachbarin sieht etwas fertig aus. Weil ich heute Nacht geschnarcht habe — meint Chouchou. Da hätte auch jegliches rütteln am Stockbett nix gemacht….
Vor lauter Scham traue ich mich nicht dreimal nach der Kaffeekanne zu fragen. Unzureichende Betankung. Das sollen wir im Laufe des Tages noch merken.

Punkt 8:00 Uhr: Check out.
Unsere Spende fürs Frühstück landet im Körbchen, wir kriechen erstmal zum Bäcker: Kaffee holen.
Jim und Chang sind Lustigerweise auch schon da. Und die wackeren, campierenden Jungs, die vom Herbergsvater weggeschickt wurden. Sie mussten ihr Zelt hinterm Fussballplatz aufschlagen, nachdem die Sonne unterging.
Alle Pilger sind gleich, aber manche sind halt gleicher als andere.

Am kältesten Tag des gesamten Pilgerwegs geht’s heute für uns weiter durch grüne Tunnel, vorbei an Kühen, die genauso müde sind wie wir, bis zur ersten Kapelle. Ein kalter Pyrenäenwind fegt bereits ab acht: Handschuhe tragen. Auch das erste Mal auf dem Weg.

Wunderschöne, schlichte Kapelle im Nirgendwo. Heißt: St Jacques. Wie sonst!?
Klaus Jakobsjunge war natürlich auch schon hier. Mittlerweile hat er vier Wochen Vorsprung. Wir werden ihn nicht mehr einholen.
Im Hinterzimmer könnte man nachts —als verlorene Pilgerseele— unterkommen, wenn man keine Angst vor Geistern hat. Ein alter Schrank rechts, dessen Türen knirschen, ein spinnwebenumarmter Tisch in der Mitte. Links gab es vor hundert Jahren mal einen Kamin, der frisch angekokelt ist. Ein Findiger, der einen Zettel hinterließ:
„An alle Idioten: Bitte kein Feuer machen!“

Erster Stop nach 10 km in einem Örtchen mit dem lustigen Namen Pimbo. Mittendrin — in einer alten Scheune, vollkommen unerwartet — ein Feelgoodcafe, wie man es auch in Prenzelberg finden könnte.
Die Ultreia-singende Truppe ist auch schon da und umfängt uns freundlich winkend und schnatternd. Ach, Du Zauber des Anfangs…

Wir bestellen herrliche Waffeln und den besten Kaffee seit langem. Zu kaufen gibt es außerdem alle lokalen Produkte, die im Umkreis von 15 Kilometern hergestellt werden: Rilette, diverse Weine, artisanale Biere, CBD-versetzte Tees, handgerührtes Shampoo. Einzig nicht einheimisches Produkt: Nag Champa Räucherstäbchen.

Nur mühsam raffen wir uns nach zwei Kaffee und einer Stunde wieder auf. Zwischen eiskalten Wind fällt mittlerweile Nieselregen. Nicht die beste Werbung zum Weitergehen.
Trotzdem soll’s jedem mal empfohlen werden: in Eiswind und Nieselregen weitere 9 Kilometer mit Gepäck meist bergan zu laufen, setzt ungeahnte Emotionen frei! Nicht immer nur die schönsten.

Etappenziel ist heute Arzacq-Arraziguet — ein Ortsname, den sich nicht mal die Einheimischen merken können. Den Rest muss man sich auch nicht merken.
Die kommunale Herberge sieht aus wie ein Zentrum für Abschiebehaft, meint Chouchou. Immerhin hat’s dort heute —Gott sei dank— ein Zweibettzimmer für uns.

Ob wir abends um „Punkt sieben“ mit Abendessen wollen, fragt die städtische Mitarbeiterin. „Nein, danke,“ sagen wir. Denn nebenan hat es eine Pizzeria.
Eigentlich hatten wir für morgen Frühstück mitgebucht, ab wann es das denn gäbe, fragen wir.
Ab wann? Das gibt es hier nicht. Kein „von bis“, sondern nur ein „pünktlich um sieben!“ sagt die städtische Mitarbeiterin:
Ob das „d’accord“ für uns sei?
Äh. Ob wir auch um viertel nach kommen könnten?
„Non!“
„Non?“
„Non!“
Ehrlich gesagt ist das nicht so komfortable für uns. Also: Non. Aber herzlichen Dank fürs Angebot.

Ein deutscher Pilger hinter uns schüttelt verständnislos den Kopf.
Was wir denn bitte hätten? Frühstück gibt es überall in Frankreich um sieben.
Er weiß ganz genau Bescheid, er ist nämlich schon durchs gesamte Land gepilgert. Mit sechs Jakobswegaufnähern auf der Jacke und seiner fußkranken Frau, die er heute mit dem Bus weggeschickt hat. Selbst schuld, wenn die Alte mit Fersensporn nicht mehr laufen kann. Im Notfall muss sie zurück nach Witten, wenn’s nicht besser wird, dann läuft er halt alleine weiter.

Hinter ihm steht der nächste Profi: ein Nordlicht mit Ziehwagen. Der hat genauso viel Ahnung, wie sein Kompagnon mit Aufnäher. Neben Frühstück im sieben ist ein Ziehwagen viel besser als ein Rucksack. Weiß er, weil er nämlich ein echter Pilger ist und nicht nur ein „zwei Wochen Wanderer“. Da braucht es halt etwas mehr als nur im Urlaub.
Aber wem erzählt er das?
Blutigen Anfängern, die um acht frühstücken möchten und noch lange nicht verstanden haben, dass „Pilgern nicht immer eine Freude bedeutet. Aber das versteht ihr vielleicht ja auch später mal.“

Ja, vielleicht. Bis dahin wird bei den Globetrottels halt nicht um sieben gefrühstückt, eher getragen als gezogen. Ohne Aufnäher auf der Jacke.
Es ist aber mal gut, kostenlos von Profis beraten zu werden…


Und Gott sprach: es gibt Omlett!

So langsam haben wir den Groove raus.
Den Tag in Aire sur l‘Adour genutzt, um die Logistik der nächsten drei Tage in die Hand zu nehmen. Somit lässt es sich heute entspannter los marschieren: wohlwissend, dass wir uns nun drei Tage nicht mehr um die Übernachtungen kümmern müssen. Das —wirklich— macht den Tag um so vieles einfacher.

Neunzigerjahre Groove zum Frühstück wegen Pampelmuse. Und das große Wundern, dass tatsächlich in einigen Dörfern Südfrankreichs noch Ausnahmegenehmigungen für blutigen Stierkampf existieren. An einigen der Todgeweihten marschieren wir vorbei. Aus der Stadt heraus.

Hinterm Ortsschild liegt das Kloster Sainte-Quiterie. Quiterie: eine Märtyrerin des frühen Mittelalters, die sich einem gotischen Prinzen verweigerte, der nicht an die Dreifaltigkeit glaubte. Konsequenz: Kopf ab.
Ihr Sarkophag liegt hier in der Kirche.
Noch heute wird die heilige Quitteria verehrt und von den Gläubigen regelmäßig angerufen: ironischerweise vor allem bei Geisteskrankheiten und Kopfschmerzen. Guillotinenhumor nennt man das dann wohl.

Über den Nelson Mandela Weg runter zum See. Dort treffen wir zwei Hippie Frauen und einen Schweden. Erstere sieben mal den Tag über, letzteren ein einziges Mal.
Autobahnunterführung. Darunter: die größte Schlange der südfranzösischen Lebenswelt. Gott sei dank tot.
Danach vorbei an den Toros. Gott sei dank lebendig.

Bis Miramont sind es irgendetwas zwischen 18 und 20 Kilometer. Kapelle auf Hügel unter Wasserturm: die Hippies sind schon barfuß da, Pyrenäenausblick und Stoppschild im Grünen. Im Ort: zwei private Herbergen und eine kommunale. In die ziehen wir ein.

Zwei herzige Herren begrüßen uns. Wir sind heute die ersten, wir können uns unsere Betten im Sechsbettzimmer also noch aussuchen.
Ob wir abends mit essen wollen? Dreimal versuchen wir auf den Pizzabäcker des Orts zu verweisen, dreimal wird das freundlich überhört. Irgendwann sagen einfach: ok, ja. Wenn’s vegetarisch geht!? Natürlich geht das. Es wird heute Abend mal wieder Omelette geben.

Dieser Pilgerweg wartet mit so vielen kleinen Abenteuern auf. Nur eines davon: vegetarisch essen im hyperländischen Süden Frankreichs.
Sollte sich auf diesen Weg irgendwann mal der Himmel auftun und Gott zu uns sprechen wollen, wird es bestimmt dieser eine Satz sein: „Vegetarisch? Kein Problem. Ich kann euch gern ein Omelett machen…“


Aire sur l‘Adour

Liebes Tagesbuch!

Heute gibt es keinen Text, sondern nur ein paar Bilder eines entspannten Sonnenmontags in Aire sur l‘Adour.
Ab morgen geht’s wieder weiter, weniger wortkarg,

Deine Globetrottels


Immer wieder für die Erleuchtung

Morgens von den Putzdamen aus der Herberge gefegt, warten heute 28 Kilometer auf uns.
Durch Sonne und mit Pyrenäenblick. Immer am Wein entlang.

Heute laufen Kim und Chang, die beiden Koreaner, parallel zu uns. Die beiden, vor denen ich den allergrößten Respekt habe.
Für uns ist jeder Tag auf diesem Weg eine endlose Herausforderung.
Wie bloß geht das mit einem lahmen Bein? Es scheint mir fast unmöglich.
Und Kim lächelt und läuft weiter. Zum zigsten Mal bereits. Wahnsinn.

„Ich liebe dich, mutiges Leben“ steht irgendwann am Wegesrand.
An einer Kirche im Nirgendwo portraitiert ein Fotograf die vorbei kommenden Pilger: uns.
Und Chouchou knipst ihn.
Wir knacken die 500 Kilometermarke irgendwo hinterm vorletzten Acker.

Bei Ankunft in Aire sur l‘Adour zeigt mein Schrittzähler 30 Kilometer, die letzten Kilometer des Tages mal wieder pures Durchhalten. Immer und immer wieder.

Wie gut, dass am Ende irgendwann die Erleuchtung steht. Sonst käme man womöglich irgendwann auf die Idee sich zu fragen, was das alles eigentlich soll. So weiß man es wenigstens.
Für die Erleuchtung.
Immer und immer wieder.


Gut drauf aufpassen: auf alles wichtige.

Auf Plastik schläft es sich nicht allzu mega, aber wir sind am Morgen happy: erwachen im eigenen Stadthaus in Eauze, der Kaffee ist selbst gebrüht. Es gibt auf diesem Weg wenig kostbareres als das: Selbstbestimmtheit. Außer vielleicht Mandelcroissant zum Frühstück.

Nächster Tag des „Camino buenos“: Sonne mal wieder, die schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen winken verheißend am Horizont. Wir hören den Lockruf und reden am Abend darüber. Möglicherweise gilt es irgendwann die Route anzupassen?!
Weinreben für Weinbrand „knack knack Armagnac“ an unserer Seite, nüchtern. Butterblumen, die von Frühling erzählen und erste Zikaden vom Sommer. Wir wandeln durch einen grünen Tunnel. Fischteiche, in denen welche Schuppentierchen auch immer gezüchtet werden.

Der erste Ort auf der Strecke heißt Manclet. Die Stierkampfarena hat schon lange dicht. Genauso wie alle Kaffeealternativen, die wir dringend geplant hatten. Lerne: Never trust an old Reiseführer. Am zentralen Ort werden Kulturevents von 2019 beworben und auch die Kirche hat zu. Immerhin gehts über eine froschgrüngeile Brücke weiter. Irgendwo hinter Kilometer 11.

Perfekte Wolken, die wie Wattebäusche an den Himmel geworfen wirken. Wir kürzen über eine unbefahrene Straße ab. Die hellgrünen Weinreben in Reihe sehen aus wie pubertäres Gestrüpp, das gezähmt werden soll. Die pflanzlichen Irokesenschnitte gefallen mir deutlich besser als jedes gestutzte Gewächs. Aber was soll´s: ich bin nicht die Winzerin.
Ein Baum mit Dreadlocks im Nirgendwo. Möglicherweise Anbetungsplatz der Pastafari? Anderes Heiliges sehnen wir heute nicht. Außer vielleicht: Happy Birthday, Nutella.

Kurz vor Nogaro sind die Vögelchen außer Rand und Band, der Wegesrand voll mit Saubohnen.
Dies fühlt sich schon lange nicht mehr nach Südfrankreich an, sondern wie ein ganz eigene Welt. Die Via Podiensis. Wo die Menschen nur aus purem Zufall französisch sprechen. Wo eine ganz andere Weltzeit gilt. Jenseits von allem anderen. Auf einem anderen Stern.

Nach 19km sind die Fersenschmerzen unverändert wieder da.
Wir sitzen auf dem Boden im Schatten, fersenleckend, als Lotto King Karl vorbei kommt.
Und: was macht die Lotterie von gestern? Nichts gewonnen, sagt er. Aber er kann schmerzverzerrt bestätigen, dass es diesmal auch bei ihm die Fersen sind, die schwächeln. „Jedes Jahr was Neues.“ Wem sagt Du das, Karl!? Beruhigend allerdings ist: Schmerzen hat anscheinend wirklich jeder auf diesem Camino.

Bis zum Zentrum Nogaro sind es insgesamt 24 Kilometer für uns.
Wir checken in der Gite d´ etape communale ein. Mit zwei Tüten voller „Carrefour Hypermarché Food“. Super, vegetarisches Essen kochen: selbstbestimmt. Besser geht nicht. Außer vielleicht noch Zweibettzimmer.

Was ist eigentlich das Schöne an diesem Weg? Wenn allen alles immer mehr wehtut? Wenn jeder Tag ein Aufrappeln und schleppen ist? Bis zum Ausatmen des endlich wieder Ankommens am Abend.
Vielleicht sind es all diese kleinen Dinge, die uns weiter machen lassen. Das stille Gehen und nachdenken. Das reden darüber. Die Freude an weitem Himmel und Sonnenschein und einem leichten Windhauch bei Hitze. Die Dankbarkeit des kurzen Ankommens am Abend, das morgens wieder weiter ziehen dürfen. Und immer da sein.
Weiches Bett, warme Dusche, nahrhaftes Essen — wenn’s mal da ist.
Das zart sein mit und aufpassen auf die Dinge, die man bei sich trägt. Die Kostbarkeit jedes einzelnen Teilchens, das gepflegt werden will. Warmes Überziehjäckchen am Abend, gute Socken in wackeren Schuhen, die Liebe zueinander. Alles unfassbar wertvoll. Wie oft wir das doch vergessen.

Apropos wichtige Dinge, die man bei sich trägt:
Nach nur einem Tag habe ich vor ein paar Tagen meine „Jesus loves you“-Käppi verloren. Nicht gut aufgepasst, nun fehlt es mir sehr. Emotional und vor allem in der Mittagssonne, die zunehmend auf südfranzösisch brennt.
Heute gab es im Carrefour ein neues Mützchen. Es stecht nicht „Jesus loves you“ drauf, stattdessen: „catch the waves“.
Möglicherweise ist dies so viel passender. Und meine Freude grenzenlos.
Auch das ist ein Punkt, den ich mir dringend merken müsste.

Ab jetzt: gut drauf aufpassen. Auf alles. Alles Wichtige.


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