Unterwegs im Magicbus

Monat: März 2024 (Seite 1 von 2)

17km bis zu Didiers Safraneis in Löwenzahnsirup

> > > > > > >

Herrlicher Bummel Ostersonntag.
> Wir lassen uns heute mit allem Zeit:
> Als letzte verlassen wir die Gîte mit fliegenden Haaren. Das Brot beim Frühstück ist schon abgeräubert, der Kaffee —Gott sei dank— auch. Wir kochen uns einen frischen.

> >
> > >

Durchs Auenwäldchen, vorbei an Traumhöfen, verlassen wir Béduer, um nach drei Kilometer schon wieder zu rasten.
> >
>
> > Alleine auf der Blumenwiese, die Vögel verausgaben sich in Ostergesängen, die Sonne scheint.
> Ein gut erhaltenes Schäferhäuschen am Wiesenrand, keiner zu Hause. Auch wir nicht. Ein einsamer roter Stuhl der wartet.

> >
> >
> >
>
>

Schmetterlinge, Wiesen, Schäfchen (die Osterlämmer mit Kreuz markiert), ein riesiger Hühnergott und ein Wolkengrélou.
> >
> >
> >
> >

> Wir unterhalten uns so angeregt, dass wir uns schon wieder verlaufen. Das zweite Mal auf diesem Teil des Camino. Bei Carayac — zweimal überpinselt.

> >
>
> >

Am „Le mare au diable“ wird uns das klar. Keine rot-weißen Strichelchen mehr und ein Teufelsloch aus dem es quakt. Also wieder zwei Kilometer zurück. Bergauf natürlich….schnell runter von dem satanischen Umweg.

> >
> >
>
>

Gréalou.
> Einziges Zwischenörtchen heute, in der Kirche wird für den Sonntagsgottesdienst aufgehübscht. Leider kein Kirchenbuch da und kein Stempel, dafür Jean d‘Arc in voller Montur. Zarte, blaue Blümchen und lila Blüten am Wegesrand.

> >
> >
>
>

Bisher ist es jeden Tag das gleiche: immer ist der Weg weiter als geplant. Statt 12 Kilometern also wieder 17. Und ab Kilometer 15 wollen seit ein paar Tagen die Füße nicht mehr. Aber sie müssen:
> Weiter auf dem Hochplateau.
> Schmetterlinge und Vogelgezwischer, ein paar Schafe, wieder Traum-Höfe und wieder Vogelgezwitscher und Schmetterlinge — den ganzen Tag.

> >

Irgendwann beginnt mein Jammern trotzdem. Im Mäntelchen des Schimpfens mit einem Insekt. Dann setzen Chouchous Starbucks Träume ein:
> Dort drüben, das alte Schäferhaus mit Aussicht. Das wäre der ideale Ort für einen Starbucksaussenposten.
> >

> > Und auf der Theke bereits zwei Cappuccino fertig und bezahlt: „von oben“.
> So langsam, sagt Chouchou, hätte er gerne mal ein Zeichen. Ist da oben was? Oder wenigstens da unten?
> Eigentlich egal, Hauptsache es meldet sich mal jemand.

> >

Wieder ist das Gewitter uns auf den Fersen, wieder humpeln wir ihm davon.
> Ab heute im „Parc Naturel Régional des Causses du Quercy“: UNESCO Global Geopark mit einer langen Kette Kalksteinplateau, bekannt auch für seine zahlreiche Dolmen.

> >
> >

> >

Am ersten Dolmen geht’s für uns wieder bergab. Runter vom Jakobsweg, ab in Richtung unserer heutigen Herberge.
> Über knorriges Gestein, vorbei an flechtenumleckten Bäumen, runter ins Tal.

> >
> >
>
>

Zwei (wieder einmal deutsche) Pilger holen uns ein: Eli und Wolfgang. Älter als wir, aber deutlich besser zu Fuß.
> Es soll sich herausstellen, dass auch sie heute Nacht in unserer Gîte übernachten. Sie sprinten an uns vorbei den Berg hinab.

> >

Schlussendlich aber holen auch wir sie wieder. An der Offroadstrecke hin zum Hof, versperrt durch einen Zaun und einen herrlichen Hund. Die Globetrottels räumen nun für Eli und Wolfgang den Weg frei.
> „Man dürfte fast meinen, der Himmel schickt uns…“

> >
> >
>
>

Didier nimmt uns —nach ausgiebigem Hundknuffeln und Schuhe im Stall ausziehen— in Empfang.
> >

> > Eli und Wolfgang nehmen das blaue Zimmer, wir landen im gelben. Mit Aussicht auf die neun Pfauen im Garten.

> >
> >
> >
> >
> >

> >

Frisch geduscht heute Abend mit von Didier bekocht werden…ist heute unser eigenes Ostergeschenk an uns selbst.
> Und selten hatten wir abends so guten Appetit wie an den letzten elf Tagen dieses fordernden und wirklich schönen Weges. > > #img28#
> > > > >

Von marché und marschieren

In unserer Absteige,die Bukowski alle Ehre gemacht hätte, singt uns eine Eule in die Nacht. Unerwartet — genauso wie das Frühstück am nächsten Morgen.

Wir hatten mit trockenem Brot und abgestandenem Kaffee gerechnet. Und bekommen Kaffeevollautomat, Nutella und Käsebuffet. Vielleicht sollten wir anfangen das Unerwartete zu erwarten. Oder am besten gleich alle Erwartungen von vorne herein lassen!? Angeblich liegt darin ja eh ein Glücksgeheimnis….

Wir haben heute Zeit. Die Etappe ist klein geplant. Unser Tag startet also mit einem Rundgang durchs herrliche Figeac.

Erster Stopp: Kathedrale.
Dort erwartet uns Jakobus in Knallfarben. Fast indisch — ein ganesaartiger Pilgerheiliger. Mögen wir sehr.

Der Pastor hat sein Weihrauchkännchen vergessen, wir sammeln etwas heiligen Duft ein.

Und weiter geht’s auf den Markt.

Samstag ist Markttag.
Man steht Schlange für bestes Fleisch, Käse und Brot, Erdbeeren und Spargel.
Leider werden wir auch heute keine Küche haben, heute aber macht alleine der Anblick glücklich. Wir essen mit den Augen und der Nase.

Ein Schlaraffenland in baufälligen Gassen, eine begrünte Treppe.

Am Mittag trinken wir Café — die anderen trinken Wein mit Hündchen. Keltische Gesänge wabern zwischen den Ständen. Musik, die ganz schnell am Wasser bauen lässt. Ach Figeac, in dir könnte man wohnen wollen, vor allem am Markttag.

Eingedeckt mit Proviant wagen wir uns erst gegen eins an den ersten Aufstieg des Tages, hinaus aus der Stadt.
Vorbei an Kühen (I just can’t get enough) und einem deutschen Pilgerpaar, das noch viel schlechter zu Fuß ist als wir.

SchäferSchlumpfhaus mit Aussicht zur rechten.

Bereits um zwei machen wir die erste Pause: mit den leckersten Samosas der Welt. Danke Markt.

Ein Tag wie ein erster Frühlingsfriedenstag. Blümchen am Straßenrand, die Vögel singen unaufhörlich, sehr dicke Hummeln hummeln vorbei.
Eine alte Kutsche, ein Pipilangstrumpfpferd mit Fohlen, alte Mauern mit wilden Blümchen drauf und dran.

Auf dem gesamten Weg passieren wir heute nur ein kleines Dorf: Faycelles.
Leider alles zu, aber alles sehr pittoresk.

Selbst das seidig weiche Trinkwasser aus dem Kirchbrunnen. Selbst die Kirchengesänge der deutschen Pilger, die wir wieder eingeholt haben. Selbst der Weg wieder hinaus aus dem Ort, mit Ziegen im Hang.

Auf den letzten zwei Kilometern unserer heutigen Etappe aber kippt der Frühlingstaumel: ein Gewitter nähert sich von Osten. Wir sehen Blitze, dann grollt der Donner über die Felder. In Ferne beginnt ein Bindfadenregen zu fallen, bei uns kommen dicke Lot-Tropfen an.
Zeit für Ponchos.

Bei Sandrine landen wir um halb fünf. Aus den geplanten 12 Kilometern wurden 17, wir sind happy nun hier zu sein. In Béduer, natürlich auf dem Kopf, Blümchen auf Mauer, gleich neben einem französischen Frankensteinschloss und einer vergessenen Ente.

Sandrine hat noch ein Doppelzimmer mit Aussicht und heißer Dusche für uns. Das ist sehr fein.

In der Gemeinschaftsküche erwärmen wir uns 600g Aligot vom Markt— diesmal frisch von einer lot’schen Grossmutti gemacht statt aus lieblosen Fertigpulver, Sandrine schenkt uns selbstgemachte Bärlauchcrème für unser Baguette. Als Nachtisch gibt es Sommerrollen vom Markt und M&Ms aus dem Rucksack.

Am Abend hören wir noch mehrere Pilger ins Haus poltern. Unter anderem die fußlahmen, Kirchenlieder singenden Deutschen und eine Französin mit so wildem Hund, dass er selbst uns too much ist (und das will wirklich was heißen.)
Unsere Zimmertür geht für heute zu, der Hund darf an den Zehen der anderen schlabbern, das Gewitter zieht vorbei.
Tag 10 auf der Via Podiensis:
Let‘s call it a (pilgrim‘s) day.

Es gibt Schlimmeres als 27km durch den Lot zu laufen…

Der Karfreitag fängt an, wie ein Karfreitag anfangen sollte: wieder wild geträumt, schlecht gelaunt beim Aufwachen.
Angemessene Laune bezüglich der Tatsache, dass der Messias vor knappen 2000 Jahren just an diesem Tag ans Kreuz genagelt wurde.

Unsere Herbergsmutter aber ist gut drauf. Schon vor dem ersten Kaffee erzählt sie uns (möglicherweise) ihre halbe Lebensgeschichte, leider verstehen wir kaum ein Wort, da ihr Akzent schwer livinhac‘sch ist. Wir nicken aber freundlich und lächeln.

Zwei Stück Baguette mit selbstgemachter Marmelade und ein Crêpe, danach geht’s wieder los. Bei Gewitterstimmung und drückender Schwüle in der Luft: Regenwahrscheinlichkeit 80%. Natürlich geht’s die ersten 200 Höhenmeter erstmal bergauf.

Die Luft steht, in ihr dunkele Geister, denen man durchaus zutraut, dass sie „Kreuzigt ihn!“ brüllen, ohne sich zu zeigen. Unbegründete Wut beim aufwärts schwitzen: es ist kein guter Pilgerstart heute.

Am Drei-Bischofskreuz verlassen wir das Aveyron: wir sind tatsächlich einmal durchs gesamte Departement gelaufen. Von Osten nach West: fast 150km.

Gedanken und Gefühle schwirren durch Kopf und Bauch, die im Blog nichts zu suchen haben. Rein physisch wirkt es heute so, als würden wir kontinuierlich nur ab- statt aufbauen.
Ob die Knöchel und Knie ab nun jeden Tag so drücken und ziehen und keifen? Oder gewöhnt man sich langsam daran?
Heute haben wir keine Ahnung. Wir werden es wohl irgendwann sehen. Und spüren.

Ein artistisches Refugium am Wegesrand für Gestrandete. Am liebsten wollten wir….müssen aber weiter.

Kleine Dörfer ohne Infrastruktur.
An einer Kapelle nehmen wir unser karges Mittagsmahl ein: drei Balisto Honig und ein Erdbeer-Apfel-Quetschie. Genug ist das nicht, aber sei es drum.

Das versprochene Trinkwasser an den Kirchen die wir abtippeln, bleibt aus. Auch die öffentlichen WCs sind zu. Siehe: Wir sind nicht mehr in Aveyron, sondern am Rande von Lot gelandet.

Obwohl angesagt —und die Luft schwanger von Donner— gewittert es den ganzen Tag über nicht.
Auch die Wanderslaune hebt sich —oh Wunder— wieder.
Sehr wahrscheinlich hat Ludwig sein Händchen im Spiel. Heute wärst Du 102 geworden:
Happy Birthday in den Himmel.
Zwei Kerzen in Montredon als Lichtgruss nach oben für Dich.

Und: Danke für Dein Geburtstagsgeschenk an uns: trockenes Wetter und Launenhub am Mittag.

Nach 15km beginnen uns Essensträume zu malträtieren. Träume vom frischem Spargel mit zerlassener Butter und Salzkartoffeln….
Sehr viel Weg, heute oft an der Straße entlang. „Gefährlich“, meint ein Warnschild, und gefühlt endlos.

Noch eine Kapelle.
Wieder finden wir im Besucherbuch einen Eintrag vom Pilger „Klaus-Jakobsjunge“. In jeder der von uns besuchten Kirchen hat er bisher seinen Stempel hinterlassen: mit dem Wollen/Brauchen-Gap Satz.
Erstmalig hinterlässt er in der Kapelle von Guirande nun auch noch seine Telefonnummer. Neben der Selbstaussage: „schon wieder der verrückte Deutsche.“
Ein bisschen traurig fühlt sich das an. Und sehr einsam.

Die Füße werden immer müder.

Am Straßenrand plötzlich die Frage:
Pilger, wo gehst Du hin? Warum machst Du diese lange Reise?

Eine sehr gute Frage an Karfreitag.
Warum laufen wir uns die Füße platt, die Achillessehnen wund, warum liegen wir nicht drei Monate einfach am Strand von Thailand? Es wäre sogar günstiger…
Ich habe eine Ahnung. Verraten aber will ich sie noch nicht.

Nach 18km kommt eine einsame Bank — wie gerufen, fast bestellt. Gewollt und dringend gebraucht!
Das Schuhe ausziehen aber erweist sich ganz und gar nicht als gute Idee. Beim wieder loseiern (anders kann man es nicht nennen), versagen die Füße fast den Dienst. Kein hysterisches Theater: für einen Bruchteil von einer halben Stunde glaube ich, keinen Meter mehr gehen zu können.
Augen zu und durch, versuch dich einfach auf was anderes zu konzentrieren. Atmen und einfach weiter im Eiergang.
Fast unglaublich, dass wir die letzten neun Kilometer wirklich noch schaffen.

Kurz vor Figeac.
Bullerbü Bauernhöfe, freilaufende Hühner, wunderschöner Weg bergab. Dann endlich das Ortsschild.
Mit einem toll designten „Nachts ist Licht aus“- Schild als Auftakt.

Figeac.
Gebrauchsstadt im Nordosten des Departements Lot. Knappe 10000 Einwohner. Knüsselig und sehr nett.
Man freut sich, dass der Ägyptologe Champollion (wer kennt ihn nicht?) Sohn des Dorfes ist. Trotz zahlreicher Krankheiten und Ohnmachtsanfälle schaffte der es die Hieroglyphen zu entziffern: ein Museum ist stolzer Zeuge davon.
Ansonsten wird hier wenig geprotzt, sondern eher gelebt. Gegenüber der Handwerkerbar liegt das Fachgeschäft für Gänseleberpastete.
Die beste Pizza der Stadt dauert eigentlich 2 Stunden, der Bäcker allerdings ist auch Magier: uns zaubert er ein heißes, vegetarisches Exemplar sofort unter der Theke hervor. Figeac … Du kannst es.

Nach 27km erreichen wir endlich unser Schröddelhotel. Passend zur restlichen Stadt, nahe der Kathedrale.

Unser Zimmer ist billiger als die Herberge — und geöffnet. Schöne Überraschung: aus dem angekündigten Gemeinschaftsbad wird nichts. Wir haben Dusche und Toilette tatsächlich auf dem winzigen Zimmer.

Dieser Karfreitag geht also versöhnlich zu Ende. Mit platten Füßen und nach viel Flucherei.
Dringend Zeit für eine Dusche und eine Fußmassage! Danach können wir auch die Frage abhaken:
„Mein Gott! Warum hast Du mich verlassen?“
Denn es gibt wahrlich schlimmeres, als freiwillig 27km durch Lot zu laufen….

 

Von einer Kriegsübung, einem pinkelnden Hütehund und dem Brauchen/Wollen-Gap

Eines der Highlights des Tages ereilt uns bereits kurz nach 8h: eine Cappuccino Maschine zum Frühstück! Zapfbar unlimited. Die Globetrottels haben schon jetzt keine weiteren Erwartungen an den Tag mehr, da alles perfekt ist


Weitere Freude:
Einer unserer Gürteltierfreunde ist auch hier. Weniger schön: wegen seiner Verletzung. Wir freuen uns trotzdem über das Wiedersehen.
Stempel an der Rezeption: überdimensional. Kurzzeitig ereilt mich eine zwanghafte Zuckung des Augenlids: NICHT über den Rand stempeln…war es schon geschehen. Die Dame am Tresen weiß nicht, dass wir mit unseren Stempelkästchen bis St Jean haushalten müssen. Ich nehme mir vor, das nächste mal, dies zu erwähnen.

Heute nur 5km. Sagt zumindest der Pilgerführer. Schlussendlich werden es sieben mit Gepäck und nochmal dreieinhalb ohne. Unsere Etappe: Decazeville — Levinhac-le-Haut ist also offiziell 10,2 km lang.
Den Mittelfuss freut es. Bei Anlauf wirkt er für einen Moment, als wolle er heute schnell schlapp machen. Dafür quietscht das Knie nicht mehr. Spoiler: bis zum Ende des Tages sollen beide gut durchhalten.

Auf dem Weg zur Kirche Decazevilles stolpern wir geradewegs in eine durchaus realistisch wirkende Militärübung:
Der Kirchplatz ist besetzt von Panzern (der Aufkleber: „Angles morts“ = toter Winkel bekommt hier nochmal eine ander Bedeutung) schwerbewaffnete Jungs mit Gasmasken verstecken sich hinter parkenden Autos. Kurzzeitig bin ich mir nicht sicher, ob wir irgendwas verpasst haben: „Chouchou, hast Du heute Morgen Zeitung gelesen?“ Alles in allem ein sehr seltsames Gefühl. Wie ein gruselige Vorahnung.

Zeit für Kerzen in der Kirche: für den Frieden im Allgemeinen und die Gesundheit im Speziellen.

Nächster Halt: Apotheke.
Aus Wellnessgründen kaufen wir Voltarensalbe. Nicht, weil die was bringt, sondern lediglich fürs Gefühl am Abend auf geschundenen Gelenken.
Tag sieben: wir bauen also bereits jetzt das abendliche Wundenlecken aus. Zum Hirschtalg gesellt sich Voltaren. Später google ich noch: „Selbstmassage Fuß“. Da geht noch was.

Durchs desolate Dorf zum Supermarkt.

Im Carrefour staffieren wir uns bestens aus: die Kinder in uns bekommen Crêpes und Quetschies, die Erwachsenen lokalen Rotwein.
Schwer bepackt geht es ab nun bergauf.

Auf dem Weg nach oben —natürlich zu einer Kapelle— die Frage, ob es vielleicht doch mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als das, was wir sehen?
Und: was bedeutet Frieden? Im Tal donnern Schüsse.
Weitsicht.

Oben. Pause.
Ein Schafshütehund kommt vorbei und wird nur im letzten Moment abgehalten an den Rucksack zu pinkeln. Passt ihm nicht: er knurrt. Ich auch.
Kapelle mit Katze. Jakobusfigur.
Ab hier geht’s auch schon wieder bergab — im Sonnenschein.

Glitschiger Abstieg mit Blick aufs nächste Ziel: Livinhac-le-Haut. Unsere Herberge an der alten Brücke über der Lot hat noch lange nicht geöffnet. Für uns heißt das: 3 Stunden Sommerferien am alten Pfeiler.

Wir sitzen im Sonnenschein, knabbern uns durch die Snacks (Oliven, Radieschen; Tomaten, Tartelette), dösen, lesen. Schuhe und Socken aus, die Welt wartet auf uns, ein Salamander kommt zu Besuch. Schön.

Um kurz nach vier checken wir —gemächlich, gemütlich— in unsere Gîte für heute Nacht ein.
Unsere Herbergsmutter gibt uns das Familienzimmer. Inklusive eigenem Bad und Terrasse, supermoderne Küche zur Mit-Benutzung. Schlussendlich nutzen wir sie für das Nüdelchen kochen ganz alleine…

Kurzer Gang durchs Dorf.
Niedliches Livinhac.
Der Name steht auch hier Kopf, ein progressiver Pilger hat eine griffige Empfehlung an ein Straßenschild getaggt: Macht Liebe! Peace.
Jakobsmuschel überall — an Wänden, zu Boden, als Skulptur.
Wanderschuhe mit Blümchen, Mosaike im brüchigen Asphalt, wir rasten an der Kirche des Dorfs.

Schon mehrfach sind wir in der letzten Woche über diesen Satz gestolpert:
„Der Weg gibt dir nicht das, was Du willst. Sondern das, was Du brauchst.“
Heute waren das 7 Kilometer, Sonnenschein und ein Herbergszimmer wie ein Schloss.
Würde es nach uns gehen: Davon bräuchten wir jeden Pilgertag etwas.
Wobei das ja dann „wollen“ wäre!?
Wie dem auch sei.

Heute haben wir es scheinbar ganz genau so gebraucht. Nach einer Kriegsübung.

Von Gürteltierpilgern und Panoramawolkenbildern

In jeder Nacht auf dem bisherigen Weg träumen wir beide wie wild. Heute aber setzt sich den nächtlichen Bildern noch der mittelalterliche Wahnsinn drauf.
In diesen brüchigen Gemäuern leben alte Geister, die nach Mitternacht ihr Unwesen treiben in den ahnungslosen Köpfen von armen Pilgern.
Und so entdecke ich in dieser Nacht nicht nur ein neues Universum, indem ich einen geheimen Auszug nehme, sondern tanze auch mit einem dementen Mann AustronautenQuickstep. All meine engsten Freundinnen besuchen mich: eine schwimmt in einem Meer voller Orcas, eine dated einen jungen Wissenschaftler, der das allgemeine Weltverständnis revolutioniert, mit dreien tanze ich auf einer wilden Party in NewYork. Kurt Cobain ist sich da — in einem Elch Kostüm. Und kurz vor dem aufwachen will der Papst von mir wissen, warum wir den Jakobsweg eigentlich gehen, während meine Wanderschuhe endgültig zerreißen.

Frühstück beim grumpy Wirt. Wir bekommen Milch zum Kaffee, sein Knurren ist leiser geworden und seine Schritte schwerer.

Über die Pilgerbrücke raus aus Conques.

Sehr harter Aufstieg — meinen auch unsere ersten Pilgerkumpel: drei junge, verrückte Franzosen, die sich entzückt und barbrüstig den Wald rauflärmen.
Wir taufen sie „unsere Gürteltierpilgerfreunde“. Weil Gürteltiere ja —wie wir seit Mississippi wissen— die lautesten Waldbewohner der Welt sind. Und entzückend.

200 Meter unter uns liegt Conques. An der Kapelle schlagen wir die Glocke. Schwieriges Unterfangen, nur umsetzbar durch den Einsatz des gesamten Körpergewichts. Im Kapellenbuch haben sich die fünf deutschen Pilger verewigt, die uns in der Herberge in Golinhac zuvorkamen. Und nur Gott weiß, warum bloß sie sich entschieden, ihre Initialen in die menschenunmöglichste aller Formen aneinander zu reihen!?
„Die fünf aus Passau,“ steht da. Unterschrieben: „SS WC Fe“.
Fünf Schutzstaffel-Toiletten-Feen aus Passau… oder steht Fe für Eisen!?

Pause nach 6 Kilometern in steilen und kopfstehenden Noailhac.

Die Bar hat tatsächlich geöffnet. Freundliches Volk am Tresen, zwei betagte Herren trinken Rosé zum Mittag, wir bekommen die größten „Sandwichs“ der Welt mit Cantalkäse. Krachen beim Reinbeissen.

Einer der Gürteltierfreunde humpelt herein, er hat sich das Band beim Aufstieg aus Conques gezerrt. Nur für ihn ist heute der nächste Heilige, der nach dem Kreuzweg raus aus Noailhac, in der folgenden Kapelle auf dem Kamm seine Kutte lüpft. Aus Empathie für bänderkranke Pilgern: Guck, ich hab auch. Buntes Glas als Trost.

Oben angekommen laufen wir stundenlang über einen Bergkamm, meist an einer einsamen Straße entlang. Panoramaaussicht zu allen Seiten. Wir sehen: auf der Aubracschen Hochebene liegt mittlerweile Schnee. Über uns ein Wolkenspiel mit vielen Bedeutungen.

Am Wegesrand ein paar Lamas, Pferde, natürlich Kühe. Wir schauen Schafen beim Spurt zu, ein eisiger Wind weht.

Unsere Gürteltierfreunde tanzen —trotz angeschlagener Bänder— auf unbefahrenem Feldweg, als wir sie wieder treffen. Gute Menschen.

Die Strecke zieht sich. Ein lustiger Kegelberg taucht auf, darunter liegt Decazeville. Nach 22,6km. Endlich.

Heute haben wir Facetten unserer Füße kennengelernt, von denen wir noch nicht wussten, dass sie in unseren Fussgewölben überhaupt existieren. Unseren Gürteltierfreunden geht’s genauso. Wir treffen sie erneut im runtergekommen, recht verwaisten und verwüsteten Ortskern wieder.
Sie müssen auf wunden Ballen noch weiter, wir aber bleiben.

Im Hotel Mapel, Zimmer 112, kurz nach Streetart und den zwei Autos, die Knies haben.

Zum Abendessen gibt’s das beste, was der Carrefour herzugeben hat: Frisches!!

Und dann ein Bad in der blätternden Hotelnasszelle aus den unrenovierten 60er.

Beides eine Wohltat.

Am siebten Tage sollst Du ruhen.

Ruhetag in Conques.
Außer unserer unermüdlichen Jagd, irgendetwas Essbares aufzutreiben passiert nicht viel.

Wäsche waschen im Waschbecken — trocknet bestens auf beheizter Handtuchhalterung.

Unsere gestrige Bierbar aufsuchen und nach etwas zu Essen betteln: tatsächlich bekommen wir ein Frühstück. (Und nehmen heimlich einen Apfel mit.)

Ein Gang durch mittelalterliche Dörfchen im Regen.

Abbaye Sainte-Foy. Erbaut zu Ehren einer jungfräulichen Märtyrerin im 3. Jahrhundert, deren Gebeine 500 Jahre später erfolgreich von einem Mönch gestohlen und seither hier ausgestellt werden.

Das Jüngste Gericht über dem Portal der Kirche blickt bunt und drohend, seit knappen tausend Jahren schon. Vielleicht wegen des Apfels!?

Drinnen wird Messe gefeiert. Wir bleiben gemeinsam mit den Greisinnen des Dorfs und einer Nonne im Nacken. Hoffend auf eine leckere Hostie, die für uns nicht abfällt. Fünf Mönche am Altar, einer kann der Liturgie nicht mehr ganz folgen. Hat bestimmt auch ganz doll Hunger.

Pilgerstempel in der Touri-Office einsammeln. Man freut sich, dass wir noch nicht verhungert sind. Nix zu futtern im Dorf, dafür aber stempeln sie wie die Großen.

Aligot-Pulver anrühren um halb sechs. Wie dankbar man für Käsekartoffelpapp doch sein kann, wenn man hungrig ist.

Duschen, Haare waschen und dem Regen draußen beim Fallen zu schauen.

Ein letztes Mal eine Herberge für morgen anschreiben. Nicht aufgeben!
Natürlich bleibt es ein Totalausfall.

Pilgerpause in einer Vorsaison, die eher „Non-Saison“ heißen müsste.
Immerhin hat man die Straßen für sich allein, die Wege und den Wald.
Weil die Welt hier stehen blieb. Irgendwann ums Jahr 1100.
Und seither in einer „Non-Zeit“ verweilt…

Und Conques sprach: Fasten sollt Ihr!

Am Morgen liegen Wolken im Tal unterhalb von Golinhac, der Weitblick über die Berge reicht zurück bis Nasbinals. Wo wir vor 5 Tagen losgelaufen sind.

Monique serviert uns selbst gemachte Marmelade und tatsächlich die Käseplatte von gestern Abend, über die wir sehr lachen mussten. Denn nur die Deutschen futtern die ganze Platte mit einem Kilo Käse leer. Und wir mussten gestehen, dass wir es im geschlossenen Hotel in St. Chély ganz genau so gemacht haben. Sehr zum Wunder unseres Hoteliers. Deutsche Kretins: fressen abends als Dessert ein Kilo Käse im Wert von 30€.

Der erste Teil des Weges läuft nach Bilderbuch: die Wärme verscheucht den Gefrierpunkt, Sonne über den Hügeln, liebevolle Kleinigkeiten am Wegesrand: von Menschen für Menschen.

Das erste Mal ahnend, dass dieser Weg möglicherweise wirklich etwas Magisches an sich haben könnte. Dass es sich anfühlt, am richtigen Ort zu sein.

Auen, Bäche, Brücken. Mit uns sind nur die frühen Schmetterlinge unterwegs. Vor meinem inneren Auge immer wieder das Bild eines der allerwichtigsten Menschen meiner Welt, der sich so herzlich kaputtlachen konnte wie kein anderer. Ein inneres Bild sprudelnder Lebensfreude. Wunderschön und zart wehmütig.

Ein Tête-à-tête mit dem sanftmütigsten Esel der Welt. Herzberührend. Sehr.

Und die Erkenntnis, dass sich die meisten Persönlichkeitseigenschaften der momentanen Situation anpassen:
Freundlich? Bin ich. Und unfreundlich.
Humorvoll? Und viel zu garstig und ernst.
Weltoffen? Und engstirnig und verbohrt bis ins Mark.
Nur die Tierliebe — die ist immer gleich und immer da. Vielleicht meine unverrückbarste und zuverlässigste Eigenschaft.

Pause am Fluss in Espeyrac nach 8,4km. Auch in diesem Dorf: alles zu. Nur der Popanbär hält wacker Wache.

Ab Sénergues zieht kalter Wind auf. Auf dem Kamm wehen die Böen uns fast davon. Eisig, Daunenjacke an, von den mittäglichen 15 Grad ist nichts mehr zu spüren.

Mehrere, kleine Örtchen folgen noch. In allen sorgt der Aveyron basal gut für seine Pilger: Trinkwasser und öffentliche Toilette in jedem Dorf, nur geöffnet hat weiterhin gar nichts — außer der Kirchen. Kein Café au lait also für Chouchou (das „au lait“ haben wir uns in den letzten Tagen eh schon abgewöhnt). Wir sinnieren über die
Erfindung einer portablen Pilger-Espressomaschine, Gesamtgewicht: 230g.

Abstieg nach Conques: berühmt berüchtigt in der ganzen Region. Der Wirt aus St Chély hat uns eindringlich davor gewarnt. Nach 500 Höhenmeter Geröllabstieg vor der Haustür. Die Haxenbrechernummer von vor fünf Tagen…
War viel schlimmer als der Abstieg heute. Weil es nebenan immer schlimmer ist als daheim!?

Conques:
unser Appartement mit Kitchenette finden wir prompt im Mittelalterdörfchen. Nach 22km endlich angekommen!
Jetzt müssen wir nur noch flott etwas einkaufen gehen. Für heute und morgen: unserem Pausentag nach knappen 100km.

Google Maps glauben wir erstmal nicht: angeblich kein Supermarkt in Conques!? Wie oft haben wir diese Woche schon gelernt, dass das Internet so gerne flunkert.
Wie stiefeln also einfach mal los — schauen.

Tatsächlich gibt es eine Menge Restaurants und Cafés in der Stadt. Leider alle zu. Die Touristeninformation aber ist geöffnet, also fragen wir hier nach —zumindest— einem Tante Emma Laden.

Noch immer kann ich es einfach nicht glauben! Bereits 20 mal vor mich hingestammelt, wird die Tatsache einfach nicht greifbarer: in diesem Ort gibt es keinen Supermarkt. Keinen Tante Emma Laden. Keine Bäckerei. Keinen Markt. Nichts.
Lediglich 15 Restaurants — alle zu. Alle öffnen am 1.4. — kein Scherz.
Wir haben unseren Pausentag scheinbar im einstigen Dorf Frankreichs geplant, in dem ein Pilger verhungern kann. Mit Augen in der Auslage von mehr als einem Dutzend Restaurants — noch sechs Tage geschlossen.
Wenn wir nicht so hungrig wären, wir müssten uns beinahe totlachen.
Weil es herrlich urgrotesk ist und bekloppt.
In jedem kleinsten Dorf, durch das wir die letzten 100km gelaufen sind, gab es zumindest eine Bäckerei. Überall in Frankreich, im letzten Winkel.
Nur nicht in Conques.

Am Morgen noch hatte ich den Gedanken: vielleicht hat dieser Weg ja wirklich etwas magisches.
Die oft zitierte Floskel: „the camino provides“ — der Weg sorgt für Dich— könnte nirgendwo lustiger sein als just in diesem Moment.

Was also tun?
Morgen weiter gehen wollen wir unter keinen Umständen. Die Füße haben sich zu sehr auf diese Pause gefreut.
Außerdem ist den ganzen Tag lang Starkregen angesagt.
Ob wir wohl verhungern müssen, frage ich die mitleidig dreinblickende Angestellte der Touristenoffice?
Möglicherweise nicht, denn es gibt einen Laden, der geöffnet hat: ein kleines Souvenirgeschäft.
Und im Notfall natürlich das Klosters. Das hätte zwar nicht geöffnet (ab wann!? Na rate bitte! Bingo: heilig ab 1. April), aber vielleicht haben die ja ausnahmsweise ein gutes Herz für hungernde Pilger!?
Wie dem auch sei: wir versuchen es erst beim Inhaber des Tourishops. Ein Herz für hungernde Pilger hat der eindeutig nicht.

Kurz vor knapp pesen wir in den Souvenirladen und erklären unsere Lage. Dem knurrigen Langhaarigen hinter der Kasse könnte nichts egaler sein, als dass wir vor Hunger fast umkippen. Er will nur Feierabend machen. Sofort.
Wir stürzen uns also in die Regale.

Das Dosenfleisch wollen wir nicht. Und auch nicht die GänseleberstopfPastete. M&Ms aber sind fein, die nehmen wir. Und die einheimischen Chips, Rotwein und Walnusskuchen (vergiss die Allergie!) für schmerzfreie 8 Euro.
(Reminder: heute hatten wir lediglich ein Croissant mit Moniques Marmelade, ein Stück Baguette mit Käse von der deutschen Kretinplatte, einen Naturjoghurt und ein PocketCoffee unterwegs).
Im Souvenirladen gibt auch Aligot-Pulver (historisches Pilgeressen: Kartoffelpüree mit Käse) — muss man eigentlich mit Milch anrühren. Die hat der Knurrige nicht, wir nehmen das Pulver trotzdem (siehe Reminder: extrem grosser Hunger…). Noch sind wir guter Hoffnung. Weil der Camino ja angeblich „provides“…

Und siehe da: es gibt tatsächlich noch ein geöffnetes Etablissement in Conques.
Die Bar.
Hinter der Theke winken uns 11 Liter
Milch freundlich. Wahnsinn: der camino „provides“ ja wirklich!

Wir bitten den Wirt, uns einen Liter Milch zu verkaufen. „Non!,“ schreit der, entsetzt und wild gestikulierend. „Ich brauche alles für mich selbst!!!“

„The camino provides…“
Manchmal vielleicht anhand von Aligot-Trockenpulver!?
Etwas desillusioniert schleichen wir nach Hause mit unseren Vorräten.

Öffnen den Kühlschrank…

Und siehe da:
Milchpulver!
Ach ehrlich: Das kann sich doch niemand ausdenken…

Estaing—Golinhac:15,7 windignasskalte Kilometer

In Estaing braucht man keinen Wecker. Der Glöckner bimmelt einen wach. Wegen lahmer Zunge am Abend heißt er für uns nur der „Hampfzeilglöckner“. Unser Wirt serviert im Leopardenpulli altes Brot und wirkt etwas knurrig: wegen des Hampfzeilglöckners am frühen
Sonntag womöglich.

Über die verzwirbelte Mittelaltertreppe runter, geht’s im Niesel los. Pünktlich vom Hampfzeilglöckner hassenden Wirt auf den Glockenschlag rausgeworfen.

Immerhin per Mail die freundlichste Herbergenabsage seit Beginn der Pilgerei. Regine hat zwar keinen Platz für uns —5 deutsche Pilger belegen heute Nacht ihre Betten— nennt uns aber eine Alternative für die Nacht abseits des Jakobswegs. Im Notfall würde sie für uns dolmetschen, wenn wir heute Abend nicht zurecht kämen. Und erneut die schriftliche Bestätigung: vor April ist’s hart, einen Unterschlupf zu finden.

An der Lot entlang.
Ab Kilometer vier geht’s gnadenlos bergauf: 300 Höhenmeter lang, angeblich an insgesamt 20 Kreuzen vorbei.
Mittlerweile in Ponchos, da der Niesel zugenommen hat. Wir finden bis Ankunft lediglich drei Kruzifixe am Wegesrand…

Kilometer 7: Zwei AubracKühe sind von der Weide ausgebüxt. Liberté pour vaches!
Sie beäugen uns skeptisch — oder neugierig? Grund genug, uns angstsingend an ihnen vorbei zu drücken. Und die Erkenntnis: Nur der Kühe Gutmütigkeit bewahrt uns vor dem blanken Tod. Sie sind uns körperlich heidenlos überlegen. Und wie danken wir ihnen Gutmut und Neugier? Indem der Mensch sie aufisst. Seltsame Welt.

Pause nach Kilometer acht.
Ponchos trocknen im Höhenwind. Jemand hat an die Garderobe geschrieben: „J‘ai mal aux tentacules.“ Schmerzen an den Fangarmen, ich weiß genau, was er meint.

Der plötzliche Temperaturabfall lädt leider nicht zum langen Verweilen ein. Im Aveyron hat’s heute Mittag um eins gefühlte 6 Grad. Und der Regen kehrt zurück mit einem kalten Wind im Schlepptau.

Bis zum Ende des Tages haben wir fast all unsere Klamotten einmal angehabt: Daunenjacke, Mütze, Schal, Windjacke, Poncho…und den Rest darunter. Warm eingepackt und Schönes und Kurioses am Wegesrand.

Wiesen, Aussicht und Flüsschen. Manchmal idyllisch hinter Stacheldraht. Meist ein Auenland mit Zauberbäumen.

Die fünf deutschen Pilger überholen uns. Die ersten ihrer Art seit Nasbinals. Und staunen nicht schlecht über unser Wissen, dass sie heute Nacht bei Regine übernachten. Regine, die einzige, die Fremdenzimmer in dieser Gegend zu dieser Zeit vermietet und nette E-Mails schreibt. Neben Monique und Michel.

Um vier klingeln wir diesen. Monique, eine breit lächelnde Dame um die 75, öffnet. Hier —in Golinhac— dürfen wir in Wärme ankommen. Nach 15,7 nassen und kalten Tageskilometern.

Ganz langsam beginnen unsere Körper zu verstehen, dass das Laufen keine Eintagsfliege ist. Nur Chouchou Zeh und meine Archillissehne sind diejenigen, die noch dagegen ankämpfen.

Frisch und heiß geduscht mit der herrlichsten Seife ganz Frankreichs, warten wir unter Engels- und Enkelsaugen im eigens für uns reservieren Obergeschoss nun aufs Abendessen. Monique wird kochen: es kann nur bestens werden.

3. Tag: By the stairs on the left, on the right, on the bottom of the church



Herrlich geschlafen. Das Appartment nehmen wir den Rest des Caminos einfach mit. Bäckerei direkt vor der Haustür. Bomben-Schokoladentörtchen, bewacht vom Popanbär.
Zwei Frühstückseier pro Nase.

Über dem gesamten Ort wabert Musik aus Lautsprechern. Beim Lospilgern läuft der Star Wars Soundtrack. Kann man sich nicht ausdenken. Best.

Stempel in der Touriinfo.
Wir laufen als erste über den neuen Jakobsweg direkt an der Lot.
Ein fingierter Radfahrer kommt vorbei. Aus seinem Ghettoblaster tönt: „Just the two of us, we can make it if we try…“
Kann man sich auch nicht ausdenken…

Bessouéjouls.
Mittelalterkirche, 9. Jahrhundert, Karolingerstil aus rotem Sandstein:
Die englische Einladung zum Aufstieg in die Oberkirche wurde knallhart kordiert von „unterzeichnet Nathalie“.
Originale Wegbeschreibung: „by the stairs on the left, on the right, on the bottom of the church“.

Über einen engen Gang geht’s nach oben. Erzengel Michael zertritt hier den Teufel, ein Meermann ist auch da und ein schlecht gelaunter Flötenengel. Seit über 1000 Jahren ist hier nur wenig passiert. Genauso wie im restlichen Dorf.

Widerlicher Aufstieg, super Aussicht. Ein kalter Wind bläst oben über die Äcker. Ein Schäfer mit Schafen, ein Ort, der „La Bibla“ heißt.

Noch mehr Äcker, wieder keine Menschen. In Verrieres eine weitere Uraltkirche. Wäsche im Garten, letzter Aufstieg.

Nach 15km: Estaing. Auch hier hat sich seit dem Mittelalter nicht viel getan.
Unser Zimmer hat direkten Blick auf die Kathedrale, der Wirt ist mit Karaoke beschäftigt, Katzen heulen lautstark in den Gassen bei untergehender Sonne auf altem Gemäuer.

Bierchen im einzigen Lokal im
Ort. Originale Gäste, die Bedienung sieht aus, als träumte sie von Paris. Wir bekommen einen Stempel und Blättern in Pligerführern von Anfang des Jahrtausends.

Beste Pizza seit Parry Sound, Kanada gibt’s nebenan. Der nette Wirt serviert um Wein aus Estaing — St Jaques Edition.

21h: die Kathedrale scheppert laut. Ich nehme an, sie haben hier noch einen Glöckner, der stündlich fürs Bimmeln geweckt wird und sich an einer alten Hanfstrippen abbuckeln muss, um die Glocke zu Klingeln zu überreden.

Highlight des Abends: wir haben für morgen schon die einzig geöffnete Herberge im nächsten Ort organisiert. Neuland. Wie so vieles hier…

Bloggen und Pilgern verträgt sich nicht

 

Erkenntnis des zweiten Pilgertags:
Ausführliches Bloggen und Pilgern schließt sich leider aus. Ich hatte er vorab geahnt, spätestens heute zeigt es sich.
Wobei: wenn ich ehrlich bin, war es bereits schon gestern so weit.

Dieser Weg ist keine gemütliche Magicbusreise. Es braucht so viel mehr Logistik, ist so viel mehr körperliche und so viel mehr mentale Anstrengung, dass es sich leider nicht ausgehen wird, darüber auch noch im Detail zu berichten.
Mir selbst tut das am allermeisten leid: weil das Schreiben mir so viel Freude bereitet und eine so schöne Chance ist, vor allem die kleinen Details festzuhalten. In einem großartigen Ganzen.
Nach 24km Laufen aber, inklusive Gepäck und 700 Höhenmeter — nach angestrengter Nachtplatzsuche — nach dringender Hygiene — nach viel mehr „socializing“ als beim Bullicampen in einer Sprache, die man kaum spricht, dann aber doch so viel, dass man trotzdem zu kommunizieren versucht und jeder Satz enorme Konzentration erfordert, lassen sich keine zusammenhängenden Sätze mehr als Ganzes zusammenformulieren. Etwas, mit dem ich auch glücklich wäre.
Weil jeder Text ja die Essenz des Tages rausschälen soll. Weil die Sätze hintereinander logisch sein sollen. Weil die Details und auch die Emotionen drin sein sollen. Und am besten natürlich auch die Weltbeschreibungen und tollen Fakten der Gegend. Und obendrein soll der Text vergnüglich und schön zu lesen sein.
Dann haben wir aber noch nicht die Bilder bearbeitet, die Zeilen konfiguriert, die Fotos eingefügt und die Rechtschreibfehler korrigiert…

Leider geht das alles im Pilgerpace nicht.
Daher werden es auf dem Jakobsweg wohl deutlich weniger Zeilen als (von mir) gehofft. Nächste Erkenntnis: ich selbst bin die Person, die darauf Druck macht. Ich selbst bin die Person, die nur einen Text veröffentlichen will, der mir auch selbst etwas sagt. Ich selbst bin diejenige, die es sich schwer macht.
Auch das: eine wichtig Erkenntnis!

Kurzum, wird es auf dem Jakobsweg hier vor allem Fotos geben. Und kleine Blitzlichter des Tages.
Weil es bei diesem Weg nicht um die perfekte Beschreibung gehen sollte, sondern um das pure Erleben.
Nicht immer schließt das eine das andere aus. Momentan leider schon. Da der Pilgertag leider drei Stunden zu wenig hat. Und weil er so fordernd ist, das die Kraft für tolle Texte nicht mehr reicht.

Hier also lediglich ein paar harte Falten und kurze Blitzlichter des heutigen, zweiten Pilgertags:

St Chely d‘Aubrac — Espalion: 24,5km
Wetter: Sonne, 21 Grad
geöffnete Herbergen: null

Blitzlichter:

Gedacht, schlau zu sein und bereits beim Frühstück im geschlossenen Restaurant („kleine Knabberei“) versucht, eine Herberge für die nächste Nacht zu organisieren. Weiterhin: erfolglos. Alle Herbergen weiterhin geschlossen…

Gedacht, schlau zu sein: Linkes Knie nun auch getapt, da heute weitere 700 Höhenmeter abwärts auf dem Weg stehen.

Wunderbares St Chély über die Pilgerbrücke verlassen. Ohne Stöcke. Also nochmal einen Kilometer wieder zurück zum Hotel.

Auf dem Weg: Kreuze im Gegenlicht, Aussicht gefühlt bis Santiago. Frühlingsblüte, Wiesen, alte Steinhäuschen und viel Wald. Ein Baum, der Munchs „Der Schrei“ mimt. Mit Aubrackuh im Zwiegespräch.

Pause neben einem Bauernhof im Nichts:
Kuhauftrieb. Liebevoll gestaltete Pilgerscheune mit Trinkwasser. Die Katze trinkt zuerst, sie und der alte Hund leisten uns bei unserer Mittagspause Gesellschaft. (Und bekommen natürlich was leckeres ab.)

St Côme d‘Olt:
Plus beau village nach 17km ohne eine Menschenseele. Enge Gassen, nett restaurierte Häuser, der Kirchturm steht schief. Eine Herberge hat geöffnet, ist aber so fies, dass wir uns entscheiden, weiter zu gehen.

Kirche von St Côme d‘Olt:
Draussen: Selfie mit Katze. Drinnen beweist der liebe Gott, dass er absolut pro-queer ist.

Am Fluss Lot nach Espalion.
Hier hat’s ein Appartement zum Herbergspreis. Alte Herren spielen Boule, die alte Brücke ist schön in Szene gesetzt.

Nach 24,5 km endlich da.

#img35#

Duschen, Hirschtalg, Wäsche waschen im Waschbecken. Humpelnder Gang zum Supermarkt: Nudeln kochen und essen für vier.

Ein Pilgertag, wie er im Buche steht.
Jetzt bräuchte man nur noch Kraft zum bloggen….

« Ältere Beiträge

© 2024 Die Globetrottels

Theme von Anders NorénHoch ↑