Unterwegs im Magicbus

Monat: August 2023 (Seite 1 von 2)

Golf von Alaska oder: The reincarnation of chicken biryani

Das Wetter bleibt Alaskan: selbst der Waschbär von gestern Nacht war pitschepatschenass, es hilft aber nichts: heute ist ein Bucketlistmoment dran. Da kann es stürmen oder schneien. Heute werden wir Gletscher gucken. Koste, was es wolle. Vom Boot aus.

Am Check-In der Major Marine Tours informiert man uns, dass das Wetter nicht bestens geeignet dafür sei. Für Gletscher müssen wir auf den Golf von Alaska raus. Dort sei es wegen eines aufziehenden Sturms heute „very bouncy“. Zu 50 Prozent werde der Captain wohl eh umdrehen. Boarden dürfen nur Leute auf Drogen, sprich: volldosiert auf Antiemetikern. Die gibt es großzügig unter der Ladentheke. Man empfiehlt uns umzubuchen, gegebenenfalls ginge Samstag wieder ein Schiff. Aber im Alaskan Herbst weiß man das nie genau. Vielleicht eine kleine Hafenrundfahrt als Alternative?

Wir wollen keine Alternative, wir wollen Gletscher, siebeneinhalb Stunden lang. Das fifty-fifty Risiko gehen wir ein. Und wählen unter den zahlreichen Möglichkeiten der bunten Pillen die Bonnies: Eine für Chouchou, zwei für mich und los geht’s.

Man weist uns Bank 22 zu. Sechs Stühle nur für uns, gleich neben der Kaffeebar und mit Seeblick vor salztropfenreichen Fenstern. Rechts außen sitzt eine indische Truppe, die von jeglicher Wetterwarnung unbeeindruckt scheint und sich vor Abfahrt erstmal ordentlich die Bäuche mit Chicken Biryani vollfuttert. In Indien ist man ein anderes Gefahrenniveau gewöhnt.

Der Resurrection Bay steckt voller Wildleben. Wir sehen spielende Ottern im Sturm, irgendwelche Jägervögel und ein paar Adler im Wind. Der Captain spricht von Mountain Goats, wahnsinnig schnell schwimmenden Delphinen und Puffins, die außer ihm aber niemand sieht. Er hat auch ein paar Bonnies drin.

Die erste Passage im Golf ist tatsächlich ein wenig „bouncy“. Den Indern rechts von uns wird langsam blümerant. Mit den Köpfen liegen sie auf den Tischen und dösen. Wegen Chicken Biryani ein großes Wunder verpasst. Hoffentlich war es zumindest lecker.

Holgate und Aialik Gletscher.
Der Katamaran bahnt sich seinen Weg langsam durch schwimmende Eisschollen. Die See ist im Fjord etwas ruhiger geworden. Und dann, ums Eck, im regnerischen Nebel plötzliches Kristallblau, surreale Strukturen, die das Auge nicht kennt, woher auch? Ins Meer strömendes Eis, je 8 bzw. 7km lang, gespeist vom Harding Icefield der Peninsula.
Es ist still. Der Katamaran schaukelt jetzt sanft auf weichen Wellen, im Auge des Sturms, wo sich nichts mehr bewegt. Und auch die Passagiere mit Männer und Frauen, im Dämmerlicht schon das Ufer schauen. Ganz ruhig, bevor ein großes Stück Eis mit grollendem Geräusch zu Wasser fällt. Gekalbt. Auf vegetarisch. Welch ein Privileg, diese schwindenden Riesen, diese vergänglichen Wunder der Erde erleben zu dürfen. Nur die Robben auf den Eisschollen zeigen sich gänzlich unbeeindruckt.
Gletscher, so what!? Der war ja schon immer hier.
Eben.

Nach ein paar Stunden geht es wieder hinaus auf den Golf von Alaska. Irgendwie müssen wir ja auch wieder zurück. Hinaus aus den ruhigen Fjorden, in die Holgate und Aialik Gletscher münden. Das geht nur über die Golfpassage. Hier hat der angekündigte Sturm mittlerweile Fahrt aufgenommen.
Was folgt, hat selbst der Captain in den letzten 20 Jahren Seefahrt vor Alaskas Küste noch nicht erlebt. Die Wellen sind fast haushoch. Der Katamaran taumelt irgendwo dazwischen. Horizont erscheint ganz kurz und verschwindet sofort wieder in einer Gischt, die gnadenlos auf uns zuhält. Das Boot gefühlt nur eine Nussschale, verloren auf der See.
Die Angestellten teilen erst Ingwerbonbons und direkt danach tapfer Tüten an alle Mitreisenden aus. Mit Handschuhen. Die wissen, was sie tun. Auf indischer Seite reinkarniert das Biryani Huhn und wird als Chicken Masala wiedergeboren. Wir haben –Gott sei Dank- genug Bonnies drin und finden alles super und wahnsinnig lustig.

Zurück an Land. Nach siebeneinhalb Stunden Abenteuer auf See macht es den Braten nicht mehr fett, dass wir als allererstes nach Heimkehr im Sturzregen doch lieber nochmal umparken. Der Magicbus muss mit dem Popo in den Sturm, nicht mit der Stirn. Weil wir da draußen gesehen haben, wie es gehen kann. Nun kann der Pazifik toben wie er will. Tanzen auf Bullis Hinterseite ist tausendmal besser als uns heute Nacht unterm Vordach den Skalp zu nehmen.

Ach Alaska. Wer sagte es so schön?
Du bist wirklich ein wilder Ort. Auch Deine Seestürme tragen Gefahr in sich. Und einen Hauch ungezügelter Freiheit.
Ein Freiheit, die endlich, endlich raus will. So wie Chicken Biryani auf hoher See.

Seward: „And the people went there, and forgot themselves“ – und manche finden sich wieder

Meeresrauschen beim Einschlafen. Mal wieder. Ganz entfernt knackt es irgendwo, dreimal in der Nacht stupse ich Chouchou an: „Hast Du das auch gehört?“ Ja, schnuffelt es aus dem Kissen, dreht sich um und schnorchelt weiter. Am Morgen wird uns klar, wer das Knacken war: der Bär ist wieder da gewesen. So steht es auf dem Porcupine-Update. Dass ich in meinen Träumen Tatzen an der Bullitür hörte ist damit wenigstens nicht allzu weit hergeholt. Tatzen, die durch herrlich wilden Nordurwald tapsen. Der Magicbus des Nachts umarmt von „Viburnum edule“: Gewöhnlicher Schneeball mit giftige roten Beeren und Bärenschnauben, einen schöneren Nachtplatz hätte ich mir kaum vorstellen können. Noch immer lost in the wild.

Zu „lost in the wild“ passt auch, dass wir mittlerweile unser Brauchwasser pumpen müssen. Wir pumpen – das ist zu fünfzig Prozent übertrieben. Der, der es verbraucht pumpt auch, meint Chouchou und filmt zumindest die Schwerstarbeit. Danach könnte ich mich eigentlich erneut mit einem Waschläppchen frischmachen. Chouchou braucht das nicht, er riecht ja nie.

Zum Frühstück gibt es Schweinedonuts auf die Pfote. Das geilaussehende Quietschbuntstückchen und die gerollte Zimtstange von gestern sind noch da. Fluffiger Teich, der im Munde zergeht, zuckrig weich, gaumenschmeichelnd. Zimt macht glücklich. Und Zucker auch.

Die Straße nach Seward ist reines Bauland. Im kurzen Sommer muss alles wieder passierbar gemacht werden für einen Winter, in dem die Straßen weitestgehend eh unpassierbar sind. Dank Dauerbaustelle im Sommer nun auch.

Der Magicbus gibt auf grobem Schotter sein Bestes. Mit ein wenig auf-und abschwellendem Weinen vorne rechts unterhalb der Kühlerhaube hoppelt er über tiefe Schlaglöcher den Moose Pass rauf und wieder runter und ist danach so eingesaut, dass er nun zweifelsohne zu unserem Hygieneniveau passt. Wir schreiben seinen Namen in den Staub auf unserer Wohnzimmertür und malen ein Herzchen daneben. Als Hippiemobil kann er in Seward nun auf den Hafen schauen. Ein wenig dubios scheint ihm das schon zu sein, zumindest deute ich so sein weiteres Heulen.

Seward. Neben Homer eine weitere Zivilisationshochburg der Kenai Peninsula. Der Hafen hier wirkt allerdings gebrauchsfertiger. Inklusive viel Fisch fischen von Land aus.

Das südliche Ende des Ortes ist für Scharen von Campingtouristen reserviert. Auch für uns: Ein winzig kleiner Saubulli zwischen rollenden Villen, frisch aufpoliert. Neugierige Blicke und allgemeines Mitleid sind uns hier mal wieder sicher.
In der ersten Reihe am Wasser ist nichts mehr frei. Kurzentschlossende sind in Seward Zweitreihenparker und haben damit schon Glück. In der Hauptsaison wäre hier spontan wohl kein Rad an den Boden zu bekommen. Ein Vorteil der Schultersaison.

Auch Schultersaison: Nasse Plane im Wind.
Die hängen wir grundsätzlich als erstes raus. Nicht zum trocknen, das wäre vertane Liebesmüh, sondern damit sie im Häuschen nicht gammelt. Und damit wir uns trocken in unserem Vorgarten bewegen können.

Im Vorgarten koche uns Eier mit Seeblick. Dicke Mütze auf dem Kopp, mummeliger Schal um den Hals gegen die Seebrise, Blick auf schaumiges Zweitereihewasser und Wolken, die tief hängen. Und plötzlich realisiere ich endlich wieder, was ich in den letzten Wochen irgendwie beiseite geschoben hatte: in was für einem Traum befinden wir uns eigentlich gerade? Welchen Traum dürfen wir gerade leben?

Wir stehen mit einem eingesauten Magicbus an der Küste Alaskas. Selbst hingefahren, von Halifax aus. Gesund. Und immer wieder bauen wir im Trockenen auf.
Plötzlich spüre ich es wieder – Was für ein Traum! – Beim Eier kochen mit Blick aufs Fjord im Nieselregen, im Trockenen unter wildwedelnder Plane im Wind. Ein normaler Eierkochgedanke womöglich. Innen butterweich, außen hart.

Als der Timer nach 6,5 Minuten klingelt, lacht dePabels mich vom Display an. Mitten aus dem Leben, die Eier sind fertig.
Und ich spüre, dass die Liebe niemals aufhört. Sie wird niemals weniger. Die Liebe ist immer da. Egal, wenn´s außen hart ist, Hauptsache innen butterweich.
Und in diesem Moment bin ich so dankbar, dass ich weinen muss.

…und manche finden sich wieder.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort nach Hope

Ein wenig blutet das Herzchen schon als wir unseren tiergesegneten Ankerpunkt verlassen. Trotz Regen war Anchor Point für uns ein Paradies, am Ende dieser unglaublich schönen Welt, die hier so vielen Raum gibt, in echter Freiheit leben zu dürfen:
Beflügelte, Beflosste, Fellnasen, Hündische des Meeres und sogar den Gehörnten, wie wir später selbst erleben dürfen. Aber eins nach dem Anderen.

In Soldotna, 100 Kilometer weiter, können wir einkaufen. Bei Fred Meyer – hatten wir auch noch nicht. Bisher haben uns in Alaska immer drei Bären bedient: der flächendeckenste Superstore seit 1980 heißt „Three bears Alaska“. Heute muss Fred es lebensmitteltechnisch reißen: er ist unser einziger Zivisilationskontakt und mal wieder hängen wir staunend in der Auslage.
Mineralwasser gibt es in den USA selten und wenn, dann nur zu exorbitanten Preisen. Bis dato ist mir nicht bewusst gewesen, dass Sprudel ziemlich europäisch ist. Ein geflügeltes amerikanisches Sprichwort lautet: »Don´t trust people who drink sparkeling water.« Warum auch immer!? Unsere letzten Importfläschchen Perrier hüten wir seither wie unsere Augäpfel und packen –unten den Argusaugen von Freds Angestellten– lieber vertrauenserweckendes, stilles und vor allem erschwingliches Bergquellwasser ein. Bergquellwasser: übrigens auch eine Rarität. Wenn überhaupt geht Wasser hier galonenweise nur destilliert über die Theke. An Ökos oder Bügelsüchtige, der normale Mensch nämlich trinkt Limo.

Nächste Theke: Brot. Fred hat tatsächlich Baguette gebacken. Ganz versteckt am Ende der gigantischen Bäckerei finden wir eine Stange im untersten, hinteren Regal, nachdem wir uns durch Berge von schaumgummiartigem Weißbrot gewühlt haben. Ich möchte ja nicht allzu hart werten, komme beim Thema Brot aber nur schwerlich umhin: Fred backt wirklich vorzügliches Baguette, warum bloß kaufen alle anderen Marshmallowtoast? Ist das ein Hang zur inneren Selbstverwahrlosung!? Anders kann ich es mir wirklich nicht erklären. Aber ja: Geschmäcker sind verschieden. Und Zahnstrukturen auch. Dringend Zeit, die Wertung wieder auszuschalten.
Vier klebrige Donuts landen natürlich auch im Wagen: triefend fettiger Applefritter, Schokokringel, gerollte Zimtstange und ein schreiend quietschigbuntes Gebäckstück, das ich nur haben will, weil es geil aussieht.
Das Bierchen wurde von der „Alaskan“ Brauerei gebraut: „Kölsch“. Ernsthaft. Wir kaufen es aber, weil ein Orca auf der Dose ist. Die Globetrottels als Labelingopfer.

Und dann passiert es. Endlich. Nach 12000 Kilometern quer durch Kanada und Alaska, nach 150km durch wunderschöne Berg- und Seewelt heute. Wir hatten nicht mehr damit gerechnet, doch dann ist er da…

In tiefem Frieden, direkt am Wegesrand grasend, steht ein junger Elch. In aller Seelenruhe, voller Eleganz, ist er ganz bei sich und vollkommen unbeeindruckt, dass wir zwei Meter neben ihm halten. Wunderschöne, berührende 15 Minuten dürfen wir direkt bei ihm sein.
Koexistieren. Existieren. Miteinander: Der schönste Elch, der ganzen weiten Welt –zweifellos– und zwei zutiefst bewegte Globetrottels, bevor er langsam und gemächlich über die Straße von dannen zieht. Es ist 12:50h. Punktgenau 6 Wochen nach dem 18. Juli, abends um zehn vor elf, mitteleuropäischer Zeit. Und mein Herz läuft über. Es kann gar nicht mehr aufhören. Hoffnung.

Hope. Genauso heißt unser heutiges Ziel. Wir schlagen der Sintflut an der Ostküste der Halbinsel ein Schnippchen und sitzen den Regen heute noch im seichten Westen von Kenai aus. Natürlich voller Hoffnung, mal wieder in einer Sackgasse.

Am Ende der Straße liegt der Porcupine Campground. Vor allem Chouchou freut sich emsig über diesen Namen – wir erinnern uns an das hocheuphorische Stachelschwein aus Homer (über das ich mich noch immer kaputtlachen muss, wenn ich es auf dem Foto sehe).
Auf dem Porcupine herrscht Bärenalarm: „Soft sided camping“ und Zelte sind nicht mehr erlaubt, seit Anfang August tapst ein Schwarzbär in regelmäßigen Abschnitten über den Platz. Meist täglich, manchmal macht er auch ein paar Tage Pause. Seit vier Tagen nicht mehr gesichtet, wird es eigentlich langsam wieder Zeit.

Wir überlegen kurz, ob unser Dachzelt unter „soft sided“ fällt, das letzte freie Plätzchen mit Blick auf den Turnagain Arm ist dann aber so reizvoll, dass wir beschließen, ein HartschalenMagicbus durch und durch zu sein. Just beim Einparken schwappt die berühmte Tidal Bore den Fjordarm hoch: auch das ist ein zustimmendes Zeichen dafür, dass der Magicbus ein Hartschalenbulli ist. (Bitte nicht fragen warum, es ist einfach so.)

Heute Abend lauschen wir zartem Niesel auf unserem plötzlich ganz und gar nicht mehr „softsided“ Dachzelt, während die Sintflut im Osten der Insel runterkommt. Ab und zu linse ich mal aus dem Fenster, auf der Suche nach Belugas, die ihr Köpfchen vielleicht aus den Fluten strecken. Sie leben direkt vor uns: im Turnagain Arm und sollen vor allem im August und September hier nach Lachsen suchen. Die Chancen sind nicht allzu groß, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.
Sowieso nicht, so lange wir in Hope sind.

Bravo Fototierstory

Nach einem bombastischen, gestrigen Sonnenuntergang mit Blick auf wildes Land, badene Adler, winzige Delfine am Horizont und aktive Vulkane …

…ist heute innerer Globetrottelssonntag: Füße hoch und kaum-was-machen-day. Der Regen kommt uns entgegen. Außer zwei Spaziergängen am Meer mit einer zauberhaften Menge Wildniskontakt passiert tatsächlich nicht viel.

Lesen und unter der Bergerplane Biryani kochen. Als Snack für Chouchou eine Menge Chips und für mich eine Tüte Popcorn.

Entsprechend gibt es heute auch nur einen Zweizeilerblog. Dafür ganz viele heutige Bildergeschichten mit all den Wundern, die uns umgeben. Eh nicht in Worte zu fassen…

Morgen gibt es vielleicht wieder ein paar mehr Worte…

From Homer spit to Anchor Point — von Homers Spucke zum Ankerpunkt

Beim Klang des Wellenrauschens einschlafen. Die Wellen des Pazifiks, westlichste Wellen, die wir jemals in unserem Leben hören werden. Geborgen sein. Gehalten. Frieden.

Auf dem Homer Spit ist der ganz schnell vorbei. Die einen sagen, die Landzunge vor der Altstadt des Ortes sei Partyplace No.1 von ganz Alaska. Bösere Zungen behaupten, es sei mal wieder dringend ein Tsunami notwendig, damit dieser Schandfleck endlich weggespült wird. Für uns ist Homer Spit weder das eine, noch das andere.

Lustigbunte Häuschen und touristische Buden reihen sich eng an eng. Immer unter dem Geschrei der Möwen. Kitsch und Fisch wird gewinnbringend an eine fröhlich zahlende Kundschaft vertickt. Lachs, „Been in Homer and survived“-Tshirts, Austern, Schund. Am Wochenende meist an Ausflügler aus Anchorage, ausländische WoMos sehen wir mittlerweile nicht mehr im Herbste Alaskas.

Fähren und Taxiboote legen am Lands End ab, dort parken wir und erkunden das Zünglein zu Fuß. Ich weiß nicht, ob es am europäischen Ästhetiksinn liegt, dass wir es etwas bedauerlich finden, dass Homer Spit vor allem auf autofahrende Gäste ausgelegt ist: Die einzige Zufahrt ist pickepackevoll geparkt, man knattert von Shop zu Shop mit dem Pickup, manchmal wird der Motor einfach laufen gelassen. Der schmale Fußgängerweg am Hafen hingegen ist vollkommen leer, die Lädeneingänge zur Straße hin ausgelegt. Als zu Fuß Flanierender sieht man nur Budenpopos und riecht die Gebläse der Restaurants, die nach hinten hin auspusten. Immerhin bei Hafenblick.

Auf dem zentralen Campingplatz stehen riesige Mobile eng an eng, mitten im Halligalli. Nach zwei Stündchen Rundgang entschließen wir, dass wir die Nacht stiller verbringen möchten.
Ausge-homer-t. Auch, weil wir für die zentralen Angebote „weltklasse Heilbutt fischen“, „weltklasse Lachs angeln“, „Elche schießen“ und „700 bis 1000 Dollar Flüge zu den Grizzlys“ nicht die direkte Zielgruppe sind.

Wir parken heute Nacht an einem ruhigen Meeresplätzchen ein, am Ende des Örtchens Anchor Point –in keinem Reiseführer erwähnt.

Als ich zu Beginn dieses Textes schrieb: „westlichste Wellen, die wir jemals in unserem Leben hören werden“, wusste ich, dass das gelogen war. Ich wusste es allerdings heute Morgen noch nicht.
Anchor Point ist nun wirklich der allerwestlichste Punkt, der in Alaska mit einem Magicbus erreicht werden kann. Weil die Kenai Peninsula hier nochmal ihren Bauch ausstreckt. Homer läge –wollte man weiter diesem Bild folgen– zwischen Bauch und Schamgegend, Anchor Point ist der Nabel.

Dieses ist es also wirklich: unser Ende der Welt. Ungelogen.

Wir laufen zehn Kilometer den einsamen Strand auf und ab. Einmal bis zur Mündung des Anchor Rivers ins Fjord und wieder zurück zum Magicbus. Surreales Licht über dem Wasser, wildeste Wolkenformationen, kalter Wind, Möwengeschrei. Auf der gegenüberliegenden Seite des Fjords schneebedeckte Gipfel, menschenloses Land, der einsame Augustine-Vulkan.

Weite ohne Ende, wir sind ganz alleine. Fast.
DePabels ist auch noch da.

Vom Regenlappen zu frisch geduscht in Homer

Rein dezibeltechnisch hätten wir heute Nacht auch auf der Startbahn eines internationalen Flughafens schlafen können. Oder auf einer Standspur der A3. Oder neben dem Subwoofer eines Punkkonzerts. Gefühlt fielen die gesamte Nacht faustdicke Tropfen auf ein viel zu dünnes Magicbusdach, im Whittier Creek hundert Meter weiter donnerte ein immer berstenderer, namenloser Wasserfall ins Tal. Mindestens 110 Dezibel. Und alles ohne Oropax wegen Tsunamiparanoia.
Ein Wunder, dass wir am Morgen wie aus dem Ei gepellt sind.
Der Bulli steht mittlerweile in einem Marschland, Crocs versinken in 5cm tiefen Schlick. Immerhin liegt so viel Regenwasser auf der Bergerplane, dass wir uns damit endlich mal wieder ausgiebig waschen können. Samstagswellness mit Waschlappen.

In Whittier regnet es unbeeindruckt weiter. Über Nacht hat tatsächlich doch noch ein Kreuzfahrtschiff angelegt: die Princess cruise Sapphire. 2670 Gäste, 1100 Crewmitglieder. Whirlpools und Schwimmbad an Deck, Casino, eine europäische Piazza wurde extra nachgebaut – zum internationalen flanieren. Zwölf Restaurants, sechs davon mit Sterneküche. Dann noch: Kunstgalerien, Geschäfte, Wellnessbereich und Spa, Kinos, mehrere Theater, ein Nachtclub. Nur ein Bordell wird auf der Internetseite nicht aufgeführt, ansonsten ist für alles gesorgt.
Eine Balkonkabine kostet für eine Person ab 3252 Dollar, aktueller Rabattpreis. Ohne alkoholische Getränke und Ausflüge, sieben Tage lang. Ein Trip zum PortageGletscher (wir erinnern uns an das Geisterschiff von gestern) liegt bei 200 Dollar. 200 Dollar für eine Fahrt von 6 Kilometern per Bus, durch den längsten Tunnel Nordamerikas (13 Dollar für den Magicbus und zwei Personen), ab dann auf ein Schiff in den Nebel. Man gönnt sich ja sonst nix.

Mit großen Augen fahren wir an diesem Koloss vorbei. Und fragen uns, wie das eigentlich mit dem Abwasser funktioniert. Hat die Sapphire womöglich eine eigene Kläranlage an Bord? Und wie man sich wohl so fühlt: als Gast, als Crewmitglied, als Einwohner von Whittier, wenn sich plötzlich ein solches Monstrum über den Ort erbricht. Geldmaschine für viele. Nur für die Crewmitglieder wohl eher nicht.

Für uns geht’s deutlich kostengünstiger auf die Kenai Halbinsel. Das gleiche Wetter wie die Kreuzzügler haben wir trotzdem. Nach der Hochebene verzieht sich der Regen über die Gletscher, quer durch den Chugach Nationalpark, vorbei an den Restschäden des großen Swan Lake Brandes, der 2019 fast 70000 Hektar Wald dem Erdboden gleichgemacht hat.

Am Williwaw Creek schauen wir riesigen Lachsen dabei zu, wie sie wacker stromaufwärts schwimmen. Grizzlybuffet ohne Bären in silber, pink und rot. Heute haben die Freunde Chum, Sockeye, Humpback und Coho Glück gehabt. Und auch wir können ganz in Frieden staunen.

Homer.
Am westlichsten Ort unserer gesamten Reise parken wir mit Meerblick ein. Wenn die Beringsee bald zufriert, können wir von hier aus bis nach Russland laufen. Weiter westlich geht es für uns dieses Mal nicht mehr. Ein weiterer Meilenstein.

Die Stadt schauen wir uns morgen in Ruhe an. Nach einem Plausch mit unseren Nachbarn aus Nevada (Susan und Dane mit dem wilden Hundchen Maggie, winzig, watteweich und erst ein Jahr) und einem noch netteren mit Annette (Lehrerin a.D. aus Berlin, mittlerweile in Fairbanks lebend, da sie den hiesigen Meeresgeologen der Uni vor drei Jahren geheiratet hat), wollen nur noch einen kleinen, entspannten Strandspaziergang machen. Und duschen.

Der kleine, entspannte Strandspaziergang eskaliert natürlich kurz hinter der ArtGallery.

Hätten wir gestern dem Seebären in Whittiers Bärenunterführung besser zugehört, hätten wir uns merken können: Alaska ist niemals nur klein oder entspannt. Alaska ist immer „a wild place“. Und so wird aus dem Spaziergang eher ein Steinchenhopsen, ein über ins-Meer-mündende-Bergbäche-springen, ein Schwitzen und auch ein kleines bisschen fluchen über „nasse Föß“ – trotz wasserfesten Schuhe. It´s a wild place, selbst beim Strandspaziergang. Monströse Algen sind außerdem extrem rutschig. Wir brauchen dringend Gummistiefel.

Die heiße Dusche danach haben wir uns auf jeden Fall verdient. Eine dauerhaft heiße, zeitlich unlimitierte, ganz private, supersaubere Dusche mit gutem, harten Wasserdruck.
Es ist enorm, wie man sich darüber so sehr freuen kann: zwei Schneekönige, blitzeblank, in Kaisers neuen Kleidern.
Vier Tage ohne fließend Wasser machen demütig. Und sehr dankbar.
Achtsamkeit kommt da ganz von selbst. Dafür braucht es keine Anleitungen.

Dead end: Whittier

Ein trockener Morgen. Ein Morgen, der für uns beide mit einem großen Herzenshüpfer beginnt. Bestens ausgeschlafen –Chouchou ohne ein einziges Hüsteln– ist sie plötzlich wieder da: die unbändige Lust Welt zu entdecken. Nicht als Verpflichtung; nicht, da man da weiterzumachen hat, wo man aufgehört hatte—es geht ja nichts anders, sondern aus purer Neugier am Leben.
Beim zweiten Kaffee verstehen wir erst tiefgehend, dass Transkanada hinter uns liegt. Eine Reise, die in jedem Aspekt so anders lief als geplant. Beim dritten Kaffee fühlen wir uns das erste Mal wieder richtig angekommen. Hier. In einer neuen Reise. Ganz Alaska liegt vor uns.

Auf unserem Morgenspaziergang am Ufer des Turnagain Arms (indem übrigens Belugas leben) entdecken wir zwar nicht die weltbekannte Gezeitenwelle, die bei Flut geräuschvoll ins Fjord donnert und von einigen Kühnen sogar gesurft wird. Dafür ist zu Ebbeebbe. Aber wir freuen uns an wilden Gewächsen, urwaldlichem Riesenfarn, leuchtendroten Beeren und lila Puschelblumen. Am Wegesrand wächst kniehohes Kraut, mit dem ich mich so sehr identifiziere, dass ich mit tiefer Gewissheit sagen kann: werde ich das nächste Mal als Pflanze wiedergeboren, dann wäre ich ganz genau dieses Gestrüpp: Zerzaust, saftiggrün, wilddurcheinander, blütenlos, aber bodennah. Mit starken, tiefen Wurzeln.

Den Turnagain Arm fahren wir weiter hoch: immer am Wasser entlang bei Ebbeebbe, wolkenumwattete Berggipfel und diesige Gletscher am Horizont.

Kurz hinter Girdwood liegt das Alaska Wildlife Conservation Center: Non-profit-Auffangbecken für alle großen, kranken Tierchen, die leider nicht mehr ausgewildert werden können und hier ein restliches Gnadenleben verbringen dürfen. Außerdem hat man es sich hier zur Aufgabe gemacht Waldbisons zu züchten. Sie sollen die einzigen sein, die irgendwann wieder in Freiheit leben können: Reintroduction, nachdem der Mensch sie fast ausgerottet hat.
Alles in allem ein schönes Projekt – wenn auch sehr amerikanisch in seiner Aufmachung, aber wir sind ja schließlich in den USA, wie sollte es also anders ein? Für Nature-and-adventure-Angsthasen wie uns ist es eine tolle Gelegenheit, den großen Geschöpfen dieses Erdteils einmal ganz nah zu sein. Beschützt durch dicke Zäune, die melancholisch stimmen könnten, wäre es ein normaler Zoo. Ist es Gott sei Dank aber nicht.

Auf dem Weg zum Portage Gletscher drückt sich bodennaher Nebel durchs Tal. Eine Fahrt durch die Wolken, Sicht bei maximal 50 Metern. Angeblich ist der Portage Gletscher einer der schönsten Gletscher dieser so wunderbaren Welt. Wir wollen es von Herzen glauben, als wir am graudiesigen See stehen, einen Gletscher im verhangenen, möglicherweise nicht mehr existenten Süden erahnend; dort, wo gerade ein brüchiges Geisterschiff knarzend aus dem Nebel auftaucht. Entweder mit Untoten an Bord oder Touristen, die diese Tour pauschal vor 6 Monaten in einem Reisebüro gebucht haben. Bezahlt ist bezahlt. Die erste Variante halte ich aber für wahrscheinlicher.

Nach Whittier führt nur ein Tunnel –one way– der längste Nordamerikas, einspurig und auf rutschigen Bahngleisen daherschlitternd. Keine Empfehlung für Menschen, die zur Klaustrophobie neigen. Schlierenhaftes Zwielicht, von den Wänden tropft das Eis, raues Gestein sehr nah. Umkehren, anhalten, ausscheren gibt´s nicht. Und vor allem: aus Whittier führt kein einziger Weg mehr hinaus. Es sei denn, ein Boot ginge. Bei diesem Wetter nicht mehr. Außerdem sind die Alaska Marine Highways gnadenlos unterbesetzt: ein Großteil der Boote wird dieses Jahr selbst bei strahlendem Sonnenschein nicht mehr auslaufen. Whittier ist dead end.

Ein kleiner Hafen am Ende der Welt, eingerahmt von Gipfeln und Gletschern, die sich heute hinter einem kühlen Regenschleier verstecken. Von den Bergen rinnt Wasser, überall, stürzt ins Tal und dann in den Prince William Sound. Kreuzfahrtschiffe legen hier heute nicht mehr an. Zurück bleiben 200 gezeitengesottene Einheimische, alle verbunden mit dem Meer, alle klatschnass, denn auf den Straßen fließt nichts mehr ab. Das Hafenbecken ist voll.

In den 40ern von der US Army aus dem Boden gestampft, hat die sich zwanzig Jahre später auch schon wieder verabschiedet. Hinterlassen hat sie in Whittier die Hafengebäude und zwei Sichtbetonbaracken, die dem Brutalismus alle Ehre machen.
Das eine, das Buckner Building, thront auf der Sonnenaufgangsseite über dem Ort. Blick auf den Hafen, verlassen, verlottert, asbestverseucht, hermetisch abgeriegelt. Auf zertrümmerten Treppen wachsen Laubbäume. Trespassers will be shot.

Das andere, die Begich Towers, läge in der Mittagssonne. Wenn die schiene. 14 Stock hoch, saniert, Hafen- oder Bergblick. Die Außenfassade wurde gestrichen: lachs, türkis und beige. Mehr als drei Viertel des Ortes lebt hier: in einem eigenen Mikrokosmos mit Postzentrale und Gemüseladen im Erdgeschoss. Nach Fisch riechende Utensilien müssen draußen gewaschen werden, ein Hundehäuflein kostet 50 Dollar, das zweite dann 100. So steht es an der Haustür.

Am Hafen herrscht Alaskasommerabendstimmung im Sturzregen: Kurze Hosen, Gummistiefel, Regenjacke ist nun wirklich kein Muss. Klatschnasses Haar tropft auf klatschnasse T-Shirts.
Manchmal neben bunten Häusern, manchmal auf patriotische Fahrräder.

Die Essensbude ist bumsvoll, wir setzen uns in den überdachten Patio und bestellen die Karte einmal rauf und runter. Heute ist Fisch vegetarisch, wir bekommen Clam Chowder (sämig-wärmende Muschelsuppe), Heilbutt paniert und Cole Slaw (Krautsalat mit Cremedressing).

Hafenausblick durchs Fischernetz. Prickelige Tropfen auf der Wasseroberfläche, die Pfützen werde immer größer. REM spielt im knackenden Radio. Neben uns sitzt ein Fischer um die 30 oder um die 60 mit besagten kurzen Hosen und Gummistiefeln. Sein Blick melancholisch in eine Ferne schweifend, die der Nebel verhüllt, Dosenbier in wettergegerbter Hand. Der Alaska Railway Zug tutet sich den Weg in den Tunnel frei. Ein Adler gleitet durchnässt über schwankende Boote. Auf dem Weg hierher hat uns ein Einheimischer in der Unterführung erzählt, dass ihm gestern –just in diesem engen Gang– ein Schwarzbär entgegen gekommen sei. Einfach an ihm vorbeigerannt, entgegen der Tsunamifluchtrichtung, die im ganzen Ort großzügig angeschlagen ist.

Die Marine startet einen Testnotruf über den Warnlautsprecher, er wabert über den Ort hinweg. In case of emergency, please listen to the radio. Da spielt REM „Losing my religion“.
Und seit Monaten habe ich mich nicht mehr so gefühlt, wie in diesem Moment. An einem verregneten Hafen am Ende der Welt. Sturzregen. Dead end. Endlich wieder angekommen. Und glücklich.

Schultersaison. Nass.

Ab heute verstehen wir, warum die Hauptreisezeit in Alaska Mitte August bereits endet: es hat wohl mit dem Wetter zu tun.
Der Morgen begrüßt uns mit zartem Tröpfeln auf dem Dach. Es soll ganz bald zu Sturzregen werden. Der alaskanische Sommer ist aufgebraucht, einer nasser Herbst im Anmarsch.
Kurz hinterm Gletscher beginnen erste bunte Blätter an windverwehten Laubbäumen, die nadeligen Brüder sind gewichen.

Unser erster Stopp soll heute 60 Meilen hinter dem Gletscher sein. Wir fahren im strömenden Regen nach Palmer, 6094 Einwohner, agrikulturelles Bollwerk in mitten menschenfeindlicher Umgebung. Kurz nach der großen Depression (–ich Klugscheißer darf aufklären: wir befinden uns in einem sonnigen Mai im harten Jahre 1935–) kam Präsident Roosevelt auf die grandiose Idee, verarmte Farmer aus Michigan, Minnesota und Wisconsin nach Palmer zu verfrachten, um dort ein riesiges landwirtschaftliches Experiment zu starten: Baut, baut, ihr armen Socken, riesige Farmen in dies öde Tal. Mögen die Gemüsegötter mit euch sein, in einem Wimpernschlagsommer, einem endlos, nassen Herbst und ewigem Winter. Viel Glück und nieder mit der Prohibition.
Wie zu erwarten, ist es den meisten Farmern nicht geglückt. Ein paar wenige allerdings bewiesen unter der Mitternachtssonne einen äußerst fruchtiggrünen Daumen. Gigantische Kürbisse, Monsterkarotten und exorbitante Kohlköpfe waren die Folge. Noch heute brüstet sich der ansonsten so bescheidene Ort stolz mit seinen Rekordwerten:
Dickster Kohl: 62,5 Kilo. Moppeligster Kürbis: 935 Kilo. Größte Möhre: knapp 30 Kilo.

Die gigantischen Farmen mit ihrem gigantischen Gemüsen gibt es noch immer, hier kurz unterhalb des nördlichen Polarkreises, geführt von –meist christlich gesplitterten– Enkelkindern der Gründäumlinge.

Ein wenig surreal wirkt das schon. Und äußerst spannend für eine leidenschaftliche Balkongärtnerin wie mich. Auch Chouchou zeigt sich tapfer: er tapert in den verregneten Stadtgarten mit, wo ich mich an öffentlichen Himbeeren und winzigen Zieräpfeln („crabapple“) satt esse und posiert danach kühn neben einem monströsen Plastikkohl. What´s love got to do…

Weiter geht’s nach Anchorage, mittlerweile in frontal schneidendem Binsenregen.

Die Hauptstadt Alaskas: graumelliert, verwahrlost, weitestgehend charmefrei. Statt –wie geplant– in einer LGBTQIA+-Bar weltbürgerliche Flagge zu zeigen, gehen wir hier nur einkaufen. Neben Kontakt mit Mechanikern und Elchjägern auch eine sehr beliebte Aktivität, um die Menschen vor Ort zu beobachten: im Walmart zum Beispiel, oder noch besser im Cabelas.

Der Walmart wimmelt vor Inuits. Die meisten tragen Gummistiefel, Shorts und Regenponchos, unter denen man noch rauchen kann. „Healthy meals“ sind extra ausgeschrieben, dreieinhalb Kilo koschere Gurken und zwei Kilo Rinderpopo im Angebot, die längste Schlange bildet sich an der großzügig ausgestatteten Pharmacy.

Die Dame an der Kasse heißt Ginger. Sie liest unsere Produkte in retardierter Zeitlupe ein. Während des Scanvorgangs habe ich mehr als einen lockeren Moment, um in den Washrooms zu verschwinden und frisch gewaschen wieder aufzutauchen. Ginger hat derweil drei weitere Produkte eingetippt. Drei von 79. Eigentlich könnte ich nochmal los, mir die Haare zu waschen. Wie schön, dass die Menschen hier noch Zeit haben.

Und dann ganz schnell den Einkauf durchs Unwetter retten.

Endlich wieder Cabelas. Dieses unglaubliche, aus der Welt gefallene Outdoorkaufhaus.

Alle Tiere Alaskas, die größer als ein Dackel sind, findet man hier ausgestopft an den Wänden (darunter den süßesten Bagder der Welt, leider tot), in einem Aquarium schwimmen Lachse. Hinten links findet man die Schnellfeuerwaffen, mittig die Armbrüste, rechts Angeln und Kajaks.

Wir brauchen lediglich Moskitospray und Gaffeegochkas – vorne rechts. Vorne links ist das Trockenfleisch und die dazugehörigen Chilisoßen, die in ausgefallenem Humor gelabelt sind.
Veteranen dürfen bei Cabelas direkt vor dem Eingang parken und bekommen natürlich Extrarabatte. Als Dank am Dienst fürs Vaterland. Die Wohnmobilflotte muss sich etwas abseits stellen, ist als Übernachtungsgast aber durchaus auch gerne gesehen.

Cabelas ist für sich alleine sehenswert, offenbahrt es doch ganz viel Seele dessen, was außerhalb der Wände –was dort draußen– vor sich geht.

Dort draußen geht für uns vor allem die Welt erstmal weiterhin im Starkregen unter. Für Anchorage und die Kenai Halbinsel sind bis Sonntag mögliche Überschwemmungen angesagt. Sonne – nirgendwo mehr in Sicht.

Auf der Küstenstraße gen Süden weht es böenartig und hart. Unser Tankdeckel fliegt im dauerhaften Gegenwind knallend auf, die Bäume am Ufer neigen sich demütig gen Norden. Schrumpelige Ebbe, das Restwasser schäumt wildlinksweiß, aus dem Golf von Alaska zieht ein erwachsener Sturm herauf. Alaskawetter Ende August.

Am Bird Creek parken wir für die Nacht ein: Schnauze windabgewandt, weit genug weg vom Bächlein, beschützt durch eine gute Hecke. Ab heute verstehen wir, warum die Hauptreisezeit in Alaska Mitte August bereits endet: es hat wohl mit dem Wetter zu tun.
Schultersaison. Nass.
Wir kuscheln uns im Magicbus ein, vor dem die gute, alte Bergerplane verzweifelt den pazifischen Winden strotzt. Sie wird es schon machen.

*It´s a different world up here. *
Ganz besonders, wenn der Sommer sich plötzlich geneigt hat.

Matanuska: Schönheit hinterher trauernd

Eine Nacht am Gefrierpunkt, verlassen und mutterseelenalleine im tiefschwarzen Wald.
Seltsam: Ich, die ich Angst vor allem habe, vor Zöllnern, vor Taxis, vor Krokodilen unterm Bett, fühle mich fast nirgendwo so geborgen wie an einem Ort wie diesen: menschenverlassen, Chouchou schnauft kristallern leise, stockfinster die Nacht, keine Hand vor Augen. Es knackt im Geäst, huuhhhoo, etwas schwingt durch die Bäume und der glitzernde Sonnenaufgang gegen sechs verrät mitnichten, was es gewesen ist. Dieses Wesen zwischen rauschenden Blättern und Hörnchengezwitscher. Mutterseelenallein im Dry Creek – mit einer Familie im Unterholz.

Unser Weg beginnt heute im Windschatten unserer Heiligen Ortes Nr 179: der Wrangell-St. Elias- Nationalpark. Schneebedeckte Gipfel zu unserer Linken, thront der Mount Elias im gleißenden Mittagslicht, majestätisch und still. Laut der Tlingit-Inuit braucht dieser Ort keine Wahrzeichen oder Tempel, der Berg in sich ist heilig genug. Denn von hier aus gelangen die Seelen der Toten über den Berggipfel „auf die andere Seite“. Ich bin mir nicht sicher, aber denke, damit haben die Tlingit nicht Kanada gemeint.
Wir verneigen uns demütig vor diesem heiligen Himmelstor, wir schicken Grüße über den Gipfel; dankbar, dass wir noch mal ins Tal abbiegen dürfen. Noch ein bisschen Leben leben, bevor ein letztendlicher Gipfelsturm auf uns alle wartet.

Glenn-Highway. Den Suppensee lassen wir rechts liegen, wir rollen durch zotteligen Wald, Sumpf und Seegebiete. Am Wegesrand zerschossene Straßenschilder. Chouchou meint, es sei hier Volkssport, besoffen aus dem Beifahrerfenster zu ballern. Kein Wunder, dass wir keine Bären mehr sehen. Als hochentwickelte Tiere haben sie wohl begriffen, dass der Mensch hier feindlicher als jenseits der Grenze ist und sich sicherheitshalber ins Dickicht zurückgezogen. Gut so.

Das einzig unversehrte Schild, das wir auf diesem Highway sehen ist ein selbstgemaltes. Auf dem steht in blutroten Lettern: TRUMP won 2020!
Unser Gefühlsniveau sinkt ungefähr auf das Level „Iran 2016“, als wir an hochhausgroßen Denuzierungshotlinewerbungen der Revolutionsgarden vorbeifuhren.
Rufen Sie die 113. Und ein Ayatollah, der genüsslich in die Kamera grinst…
Wobei wir befürchten, dass weniger Iraner mit dem Inhalt einverstanden gewesen sind, als die aktuellen Passanten des Glennhighways. Denn siehe: keine Patrone im Schild. Fällt wohl unter: Andere Länder, andere Sitten.

Einige deutsche Wohnmobile kommen uns entgegen. Wir sind mit unserer Nordsehnsucht nicht alleine im Land. Allerdings fahren alle anderen in die entgegengesetzte Richtung. Raus aus der Hauptsaison, ab Richtung Süden. Wir hingegen fahren rein in die so genannte Schultersaison („shoulder season“), ab Richtung Herbst. Morgen soll der Regen beginnen.
Heute aber haben wir noch prallen Sonnenschein.

Auf der Hochebene (3300 Feet, ein Fuß gleich 30cm) gibt es Bütterkes mit Ausblick: Gunsight (wen wundert´s!?) und Chugach Mountains im Süden, in der Mitte züngelt sich der Nelchina Gletscher ins Tal. Ein erhebender Anblick. Nicht nur für die Globetrottels…

Und ab hier bleibt die Natur wunderschön. Chouchou revidiert vorsichtig seine gestrige Einschätzung: Langweilig, miLord, ist es wahrlich in keiner dieser atemberaubenden Ecken mehr. Am Matanuska Gletscher wollen wir heute Nacht bleiben.

Der Matanuska Gletscher.
18000 Jahre altes Eis liegt heute –sich jährlich immer weiter zurückziehend—auf privatem Grund. Das Parken kurz vor Fuß würde 25 Dollar kosten, wir bekommen den unbezahlbaren Ausblick auf diese aussterbende Spezies von unserem Camp kostenlos.

Es sind zwiespältige Gefühle an diesem Ort stehen zu dürfen. Zeuge zu werden von beginnender Vergangenheit, einem Sterbenden zuzuschauen, schon jetzt seiner Schönheit hinterher trauernd. Wir, die wir hier hergeflogen sind, vom anderen Ende der Welt. Alles andere als klimafreundlich, hustet auch der Magicbus im Hintergrund, mit großem Hunger nach Diesel.
Daher spare ich mir nun einen Appell, sondern gehe lieber ganz still in mich.
Schönheit hinterher trauernd…

Alaska zieht die Zapfpistole

Unser Abend endet bekanntermaßen ohne Heizung, dafür mit bisher unbekannten Erkenntnissen über einen Teil der Seele Kanadas. Dank TVs – und dem Telefonbuch des Yukons, das bunt ausgestreckt auf dem Nachtschrank liegt:

Im Fernsehen laufen die Nachrichten:
British Columbia im Ausnahmezustand. Waldbrände greifen zügellos und kaum aufhaltbar um sich: 27000 Menschen wurden evakuiert, 35000 Menschen warten auf die Evakuierung.
Werbung: dank eines neuen Gesetzes verjährt nun Kindesmissbrauch nicht mehr. Heimische Anwälte bieten kostenlose Unterstützung bei Klagen.
„House hunters“: gesucht werden vor allem Domizile mit Pool und drei Bädern. Gerne Meernähe, am liebsten ohne Nachbarn. In den USA.
Newsflash: Mit Justin Trudeau sind weniger als 50% der Kanadier noch zufrieden. Weil der den sozialen Hausbau scheinbar nicht hinkriegt. Siehe „House hunters“.
NWT: Chiefs der First Nations der North Western Territories kommen zusammen: in Tracht und mit Federschmuck auf dem Haupt. Sie beschweren sich, dass Kinder und hilflose Alte ohne Wissen der Familien Tausende von Kilometern evakuiert wurden. Für sie riecht das zu sehr nach den 60er Jahren, als indigene Kinder ihren Eltern entrissen wurden zur Umerziehung durch die katholische Kirche.
Die indische Community hat übrigens ihren eigenen kanadischen Sender. Dort laufen nicht nur Bollywoodfilme, sondern vor allem Neuigkeiten aus der punjabi Gemeinschaft im Exil: indische Nachrichten aus Kanada.

Das Telefonbuch des gesamten Yukons:
Abgegriffen, bunt und dünner als das Bocholter Telefonbuch Ende der 90er. Alle –ohne Ausnahme, alle!–stehen drin. Spannend sind die Oberrubriken, die Ausdruck dafür sind, worum es im Alltagsleben des Yukons so geht:
Aboriginal Relations über Abuse of children und Alkoholinformation.
Bärensicherheit über Bingo und Burning permits.
Flut und Waldfeuer.
Mental health und Minen.
Sexuell übertragbare Krankheiten über Sheriff und Schneebeseitigung.

Gerne hätten wir uns auch am folgenden Morgen weiter durch die Programme gezappt. Aber es hilft nix: wir müssen weiter. Vorbei am kaputten Kühlschrank vor unserer Motelzimmertür, vorbei an den munter schnatternden Bikern, die morgens um halb 8h äußert fröhlich wirklich nur absolut Unsinniges von sich geben, vorbei an der indischen Dame, die ohne zu klopfen unsere Tür aufreißt, als wir noch in den Betten liegen: “Door is OPEN!“ Ja, natürlich. Weil wir auf unsere Heizung warten…

Um 10:30h sitzen wir wieder im Magicbus. Noch 30 Kilometer bis zur Grenze. Ein Weißkopfadler thront einsam auf einem solitären Baum im Moor. Anscheinend ist er es, der uns aus dem Yukon verabschieden soll.

Grenze Alaska, 11h. Ein buntes Schild weist darauf hin: „We got bigger problems than mosquitos.“ Was auch immer das zu bedeuten hat. Der Zöllner winkt uns ran: parken, aussteigen, mitkommen.

Als wir das Büro betreten ist es 10h. Zeitumstellung.

Miss Forbes ist diejenige, die darüber entscheidet, ob wir mitsamt dem Magicbus einreisen dürfen. Genau genommen, mit zweieinhalb Pässen, denn Chouchous Visum ist in einem mittlerweile ziemlich abgelaufenen Pass, zerschnitten.
Miss Forbes ist außergewöhnlich gut drauf. Lockerer Pflechtschwanz, geboren in Kalifornien, hat sie die letzten Jahrzehnte im Winde North Dakotas verbracht. Miss Forbes ist erst seit einem Jahr in Alaska. Ist im Winter gar nicht so schlimm, zwei Zwiebelschichten müsste sie immer wieder ausziehen, sie zieht sich irgendwie immer zu dick an.
Über Miss Forbes hängt ein ausgestopfter Bär. Der fletscht die Zähne, Miss Forbes Gott sei Dank nicht. Nur die Tomaten und die Avocado müssten wir da lassen. Miss Forbes weiß nicht genau warum und lacht. Dann haben wir zwei Stempel in den Pässen. Den abgelaufen Pass stempelt sie nicht.

10:40h: Alaska!
Kilometer sind zu Meilen geworden, Meter zu Feet, Grad sind jetzt Fahrenheit, außerdem gibt es Inches, amerikanischer statt kanadischer Dollar und nur noch Galonen statt Liter zu tanken. Gut, dass wir eine Stunde gewonnen haben, um das alles erstmal nachzurechen…

Alaskahighway in Alaska. Die ersten zwei Kilometer sind äußerst geschmeidig. Als wollte man den Kanadiern mal zeigen, wie das eigentlich geht: Heyho and cheereeohhy Champ, so baut man gute Straße auf Permafrost! Die Nummer wird allerdings nicht lange durchgehalten.
Nach zwei Kilometern landen wir in der längsten Baustelle der Welt. Eingereiht in einen Pulk von Pickups, der Magicbus startet mittig hinter dem Pilotwagen.
5 Kilometer Gehoppel („Dip“ oder „Bump“) weiter: der Pilotwagen hat uns gnadenlos abhängt, die Pickups auch, als der Magicbus vom Dauergerappel die Nase voll hat und einfach sein Windshield von sich wirft. Bremsen quietschen auf Schotter, das Schild wird im tiefen Staub wieder ein sammelt, der Magicbus hoppelt mal wieder als letzter ins Ziel. Ohne Pilotfahrzeug. Aber immerhin da. Und dann kommt Tok.

Tok, 1214 Einwohner. Nach Whitehorse die größte Stadt im großen, weiten Umkreis. Hier müssen wir unsere Vorräte aufstocken. Und unsere ersten Kontakte mit den Alaskanern machen. Nach Miss Forbes natürlich – aber die ist ja eigentlich aus North Dakota.

Erster Stopp: tanken. Bei Shell fühlen wir uns sicher. Eine Galone Diesel für 4,44 Dollar. Die Visakarte wird am Tankterminal nicht akzeptiert. Ich marschiere in den Laden. Die nette Dame, ungefähr im doppelten Rentenalter, auch mit Flechtzopf wie Miss Forbes, und sehr zugewandt, schaltet problemlos Säule 8 frei. Wieviel Liter eine Galone ungefähr sind, kann sie mir auch nicht sagen, machen wir also PiMalDaumen 50 Dollar. Locker zur Säule zurückgeschlendert, wo Chouchou –den Tränen nah—schon mit dem Zapfhahn rangelt. Der ging ganz problemlos in den Magicbus hinein, wirklich!, nur leider, leider so gar nicht mehr hinaus. Und Diesel, nee, der kam auch nicht. Wir brauchen also einen Fachmann. Nach 90 Minuten Alaska.

Das Schöne an der ganzen Situation ist ja, dass man Länder am allerbesten kennenlernt, indem man sich mit dessen Mechanikern auseinander setzen muss. Oder, indem man mit den Elchjägern billigen Fusel in einer rauchigen Spelunke trinkt. Das zweite wäre uns lieber gewesen, wir müssen nun mit dem ersten erstmal Vorlieb nehmen.
Chouchou ist derjenige, der nach Hilfe fragt (meine Nerven sind natürlich schon wieder aufgebraucht, aber ich bin auch in Trauer) und kurz darauf mit zwei stattlichen Männern zurück an die Säule tritt. Die rücken mit einem beherzten Nasehochziehen ihre Bieberfellmützen zurecht, spucken aus und fackeln nicht lange. Statt mit zärtlichem Biegen und sanftem Rütteln wird ein paar Mal mit eiserner Manneskraft auf dem Magicbus eingeprügelt –ohne Rücksicht auf Verluste, nimm das! Mit einem herzzerreißenden Knall und ein bisschen Funkenschlag befördern sie die Pistole nach zwei exzessiven Gewaltminuten aus der viel zu kleinen Tanköffnung des Bulli wieder heraus. „There you go.“ Und jetzt ab an Tanksäule 6 mit Euch. Die, mit dem kleinen Hahn, what else!? Ja. What else eigentlich!?
Im Supermarkt hingegen läuft alles reibungslos.

Über seichte Berge rollen wir wieder raus aus der Stadt. Durch eine endlose Landschaft, die viel geordneter, zivilisierter und homogener wirkt als auf yukonischer Seite. Chouchou beschreibt es quälend exakt: auch ein bisschen langweiliger. Aber wirklich nur ein sehr kleines bisschen.

Unser erstes Camp bauen wir auf einem menschenverlassenen Campingplatz auf: Dry Creek State Recreation Site, in einem Wäldchen nahe der Zweihäusersiedlung Gulkana. Außer uns sind nur eine Menge Mosquitos da. Und ein paar Hörnchen, die seltsamerweise nicht normal klackern, sondern zwitschern als wollten sie Vögel imitieren, von Angesicht eher Kobold als Streifenhorn.

Alaska. Wir sind tatsächlich hier. Die Globetrottels und der Magicbus. Nach 11100 Kilometern in Kanada. Nach Wind und Wetter und einem gewonnenen Kampf über die Zapfpistole. Mitten im Reich der Mücken und Koboldhörnchen.
Was für ein Meilenstein.

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