Unterwegs im Magicbus

Dead end: Whittier

Ein trockener Morgen. Ein Morgen, der für uns beide mit einem großen Herzenshüpfer beginnt. Bestens ausgeschlafen –Chouchou ohne ein einziges Hüsteln– ist sie plötzlich wieder da: die unbändige Lust Welt zu entdecken. Nicht als Verpflichtung; nicht, da man da weiterzumachen hat, wo man aufgehört hatte—es geht ja nichts anders, sondern aus purer Neugier am Leben.
Beim zweiten Kaffee verstehen wir erst tiefgehend, dass Transkanada hinter uns liegt. Eine Reise, die in jedem Aspekt so anders lief als geplant. Beim dritten Kaffee fühlen wir uns das erste Mal wieder richtig angekommen. Hier. In einer neuen Reise. Ganz Alaska liegt vor uns.

Auf unserem Morgenspaziergang am Ufer des Turnagain Arms (indem übrigens Belugas leben) entdecken wir zwar nicht die weltbekannte Gezeitenwelle, die bei Flut geräuschvoll ins Fjord donnert und von einigen Kühnen sogar gesurft wird. Dafür ist zu Ebbeebbe. Aber wir freuen uns an wilden Gewächsen, urwaldlichem Riesenfarn, leuchtendroten Beeren und lila Puschelblumen. Am Wegesrand wächst kniehohes Kraut, mit dem ich mich so sehr identifiziere, dass ich mit tiefer Gewissheit sagen kann: werde ich das nächste Mal als Pflanze wiedergeboren, dann wäre ich ganz genau dieses Gestrüpp: Zerzaust, saftiggrün, wilddurcheinander, blütenlos, aber bodennah. Mit starken, tiefen Wurzeln.

Den Turnagain Arm fahren wir weiter hoch: immer am Wasser entlang bei Ebbeebbe, wolkenumwattete Berggipfel und diesige Gletscher am Horizont.

Kurz hinter Girdwood liegt das Alaska Wildlife Conservation Center: Non-profit-Auffangbecken für alle großen, kranken Tierchen, die leider nicht mehr ausgewildert werden können und hier ein restliches Gnadenleben verbringen dürfen. Außerdem hat man es sich hier zur Aufgabe gemacht Waldbisons zu züchten. Sie sollen die einzigen sein, die irgendwann wieder in Freiheit leben können: Reintroduction, nachdem der Mensch sie fast ausgerottet hat.
Alles in allem ein schönes Projekt – wenn auch sehr amerikanisch in seiner Aufmachung, aber wir sind ja schließlich in den USA, wie sollte es also anders ein? Für Nature-and-adventure-Angsthasen wie uns ist es eine tolle Gelegenheit, den großen Geschöpfen dieses Erdteils einmal ganz nah zu sein. Beschützt durch dicke Zäune, die melancholisch stimmen könnten, wäre es ein normaler Zoo. Ist es Gott sei Dank aber nicht.

Auf dem Weg zum Portage Gletscher drückt sich bodennaher Nebel durchs Tal. Eine Fahrt durch die Wolken, Sicht bei maximal 50 Metern. Angeblich ist der Portage Gletscher einer der schönsten Gletscher dieser so wunderbaren Welt. Wir wollen es von Herzen glauben, als wir am graudiesigen See stehen, einen Gletscher im verhangenen, möglicherweise nicht mehr existenten Süden erahnend; dort, wo gerade ein brüchiges Geisterschiff knarzend aus dem Nebel auftaucht. Entweder mit Untoten an Bord oder Touristen, die diese Tour pauschal vor 6 Monaten in einem Reisebüro gebucht haben. Bezahlt ist bezahlt. Die erste Variante halte ich aber für wahrscheinlicher.

Nach Whittier führt nur ein Tunnel –one way– der längste Nordamerikas, einspurig und auf rutschigen Bahngleisen daherschlitternd. Keine Empfehlung für Menschen, die zur Klaustrophobie neigen. Schlierenhaftes Zwielicht, von den Wänden tropft das Eis, raues Gestein sehr nah. Umkehren, anhalten, ausscheren gibt´s nicht. Und vor allem: aus Whittier führt kein einziger Weg mehr hinaus. Es sei denn, ein Boot ginge. Bei diesem Wetter nicht mehr. Außerdem sind die Alaska Marine Highways gnadenlos unterbesetzt: ein Großteil der Boote wird dieses Jahr selbst bei strahlendem Sonnenschein nicht mehr auslaufen. Whittier ist dead end.

Ein kleiner Hafen am Ende der Welt, eingerahmt von Gipfeln und Gletschern, die sich heute hinter einem kühlen Regenschleier verstecken. Von den Bergen rinnt Wasser, überall, stürzt ins Tal und dann in den Prince William Sound. Kreuzfahrtschiffe legen hier heute nicht mehr an. Zurück bleiben 200 gezeitengesottene Einheimische, alle verbunden mit dem Meer, alle klatschnass, denn auf den Straßen fließt nichts mehr ab. Das Hafenbecken ist voll.

In den 40ern von der US Army aus dem Boden gestampft, hat die sich zwanzig Jahre später auch schon wieder verabschiedet. Hinterlassen hat sie in Whittier die Hafengebäude und zwei Sichtbetonbaracken, die dem Brutalismus alle Ehre machen.
Das eine, das Buckner Building, thront auf der Sonnenaufgangsseite über dem Ort. Blick auf den Hafen, verlassen, verlottert, asbestverseucht, hermetisch abgeriegelt. Auf zertrümmerten Treppen wachsen Laubbäume. Trespassers will be shot.

Das andere, die Begich Towers, läge in der Mittagssonne. Wenn die schiene. 14 Stock hoch, saniert, Hafen- oder Bergblick. Die Außenfassade wurde gestrichen: lachs, türkis und beige. Mehr als drei Viertel des Ortes lebt hier: in einem eigenen Mikrokosmos mit Postzentrale und Gemüseladen im Erdgeschoss. Nach Fisch riechende Utensilien müssen draußen gewaschen werden, ein Hundehäuflein kostet 50 Dollar, das zweite dann 100. So steht es an der Haustür.

Am Hafen herrscht Alaskasommerabendstimmung im Sturzregen: Kurze Hosen, Gummistiefel, Regenjacke ist nun wirklich kein Muss. Klatschnasses Haar tropft auf klatschnasse T-Shirts.
Manchmal neben bunten Häusern, manchmal auf patriotische Fahrräder.

Die Essensbude ist bumsvoll, wir setzen uns in den überdachten Patio und bestellen die Karte einmal rauf und runter. Heute ist Fisch vegetarisch, wir bekommen Clam Chowder (sämig-wärmende Muschelsuppe), Heilbutt paniert und Cole Slaw (Krautsalat mit Cremedressing).

Hafenausblick durchs Fischernetz. Prickelige Tropfen auf der Wasseroberfläche, die Pfützen werde immer größer. REM spielt im knackenden Radio. Neben uns sitzt ein Fischer um die 30 oder um die 60 mit besagten kurzen Hosen und Gummistiefeln. Sein Blick melancholisch in eine Ferne schweifend, die der Nebel verhüllt, Dosenbier in wettergegerbter Hand. Der Alaska Railway Zug tutet sich den Weg in den Tunnel frei. Ein Adler gleitet durchnässt über schwankende Boote. Auf dem Weg hierher hat uns ein Einheimischer in der Unterführung erzählt, dass ihm gestern –just in diesem engen Gang– ein Schwarzbär entgegen gekommen sei. Einfach an ihm vorbeigerannt, entgegen der Tsunamifluchtrichtung, die im ganzen Ort großzügig angeschlagen ist.

Die Marine startet einen Testnotruf über den Warnlautsprecher, er wabert über den Ort hinweg. In case of emergency, please listen to the radio. Da spielt REM „Losing my religion“.
Und seit Monaten habe ich mich nicht mehr so gefühlt, wie in diesem Moment. An einem verregneten Hafen am Ende der Welt. Sturzregen. Dead end. Endlich wieder angekommen. Und glücklich.

2 Kommentare

  1. Anonymous

    Wie schön, dass die Amis es schaffen, diesen so wunderbaren Tieren ein einigermaßen friedliches Leben angedeihen zu lassen! 🫶

  2. Grundmann, B.

    Wie schön, dass die Amis diesen nicht mehr in der Freiheit lebenden Tieren, eine Möglichkeit geben, den Lebensabend
    irgendwie genießen zu können!
    Wir leben in einer wunderbaren Welt, die wir unbedingt erhalten müssen! 🫶

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