Unterwegs im Magicbus

Monat: September 2023 (Seite 1 von 3)

Sonnenherbstauftakt in Point Roberts

Point Roberts, 1191 Einwohner auf 608 Haushalte. Plus zahlreiche Delphine und unzählbare Seehunde in der Bucht, die noch vor dem Frühstück den Tag begrüßen.

Point Roberts, eine der vier Exklaven der USA.
Steiniger Strand bei Ebbe, ein Bibel Camp hinter Wohnwagen, bunte Strandhäuser, in der Community Hall kann man heute Äpfel pressen: Cidertime. No trespassing Schilder und US-Flaggen vor den Türen, die meisten Autokennzeichen kommen aus BC – Post abholen.

Im International Marketplace gibt’s drei Eis für uns: Mandel auf Vanille. Am sonnenüberfluteten Hafen wachen langohrige Eulen über verriegelte Bootsstege, Canadian Royal Army Boote ready for rescue, die öffentlichen Waschräume timen das Licht auf 5, 10, 15 oder 30 Minuten –Temperatur entsprechend: saunaverdächtig.

Über das Ende unseres Sichtfelds, am Ende des Meeres wacht der Mount Baker, der eigentlich Kulshan heißt und ein aktiver, gletscherbedeckter Vulkan von 3286 Metern Höhe ist.

Blaues Wasser, blauer Himmel, noch mehr Seehunde. Die Schemen Vancouver Islands im Hintergrund, im Vordergrund das Geräusch kullernder Steine, die die Ebbe einfordert. Meeresvögel. Den Booten hinterherschauen.

Andy quatscht uns an – eindeutig ein berenteter CIA-Mitarbeiter: Gedient in Vietnam und Korea, danach die gesamte Welt (außer Neuseeland) bereist. Außenwirksame Betreuung der Soldatenfriedhöfe in der Normandie, dort eineinhalb Stunden mit Meryl Streep in Deauville verbracht –tolle Frau.– um danach eine Russin zu heiraten. Auf Hawaii. Womöglich doch eher ein berenteter Doppelagent?! Einer, der zweifelsohne geübt im Networken ist, wahnsinnig viel zu erzählen hat und uns schlussendlich seine alten USA-Karten mit allerlei Reisetipps vermacht .See you tomorrow. I LOVE talking to Europeans.
Davor –nach hundert Jahre Einsamkeit endlich mal wieder– „Liebe in den Zeiten der Cholera“ und süßes seufzen im Sonnenschein.
Danach: Tomatensalat und Nüdelchen.
Und dann geht die Sonne auch schon wieder unter. In Pastell.

Point Roberts: Dead end. Aber ganz sicher kein one way. Es ist ein zarter Sonnenherbstauftakt gewesen.

Ups and Downs von Sea to Sky

7 Uhr, im Regenwald regnet’s nicht mehr. Die ersten drei Tassen Kaffee beginnen zu wirken, Mail vom ADAC, Teil Nummer 074145251B ist unterwegs, Ankunft per LH 467 in Vancouver um 16:45 — beste Voraussetzungen, uns auf den Weg zur Werkstatt zu machen, da darf der Bulli auf den 80km Sea-to-Sky-Highway (oder in unserem Fall Sky-to-Sea) ruhig heulen und singen, so viel er mag.

Typisch deutsch — so langsam wird’s peinlich — rollen wir pünktlich um 10 bei Open-Road-Volkswagen ein. Al, ölverschmiert aus den Tiefen eines weiteren Problembullis auftauchend, begrüßt uns entsprechend, guten Morgen. Und nein, aus den für heute erhofften neuen Vorderreifen und Achsmanschetten wird nichts, erstere sind immer noch nicht da, letztere möchte er lieber gemeinsam mit dem Keilriemenspanner machen, und der befinden sich ja noch irgendwo über dem Atlantik…
Aus der Werkstatt ins Office zu Vögelchen Jon, neuen Termin ausmachen. No problem, Montag um 8 sind alle Teile da, nach dem long weekend wird alles gut, wir brauchen bis dahin bloß unsere Luftfracht am Airport abzuholen.

10:30 Lagebesprechung auf dem Volkswagenparkplatz — so langsam wird sie zur Gewohnheit — gut zwei Wochen nach unserem ersten Date hier in Barnaby geht es immer noch nicht vorwärts, ob wir je wieder aus Vancouver wegkommen? Frust und Ärger wäre jetzt eine sinnvolle Option, machen aber nach 3 Minuten auch keine richtige Freude mehr. Also umplanen: Die geplante Stanley-Park-Besichtigung hat sich für heute auf jeden Fall erledigt, wir brauchen eine Bleibe für‘s Wochenende. Nochmal den Sea-to-Sky-Highway rauf? Nee! Nochmal mit der Fähre auf eine des Inseln? Nee! Auf einen der zwei asphaltieren RV-Großcampings? Nee!
Bleibt in erreichbarer Ferne nur noch der Campground in Point Roberts, der US-amerikanischen Mini-Enklave am südlichen Zipfel von Vancouver, mit unseren Multiple-Entry-Visa sollte das eigentlich klappen, dort einzureisen und Montag wieder hier auf kanadischem Boden zu landen.

40km bis zu Grenze, Welcome to the United States. Sechs Tankstellen, einen Supermarkt, riesige Postbox-Anlagen (die Kanadier bestellen hier günstige US-Waren), ein Bible-Camp und ein Häfchen, mehr hats hier nicht außer unserem süßen Lighthouse Marine Park Campground am Fjord. Den Leuchtturm gibt es schon lange nicht mehr…

Die Webseite www.PointRobertsnow.com zitiert eine Studie, nach der 80% aller Besucher hier maximal 15 Minuten bleiben. Nicht gerade Las Vegas — sind wir am langweiligsten Ort der USA gelandet?

Egal, hier ist‘s schön, vom Ufer aus wurden offenbar schonmal Orcas gesichtet (oder in der Werbeplakatversion: „Best point, to sea whales from land“) und es riecht nach Meer.
Statt Orcas gibt‘s erstmal Seehunde und Wasservögelchen und abends grandiosen Sonnenuntergang — es hätte uns wirklich schlimmer treffen können.

Zum Beispiel mit einem Anruf vom Warehouse am Flughafen, bei schlechtestem Telephonnetz aller Zeiten natürlich: Mr. Zhang informiert uns, daß der Zoll unsere Lieferung abgelehnt hat, ohne feste Adresse in Kanada geht da nix. Nicht ganz unrichtig geben wir ihm unsere kanadische Wohnanschrift, die von Volkswagen Barnaby…
Damit will Mr. Zhang sein (unser) Glück beim Zoll nocheinmal versuchen, das mit der Abholung am Wochenende können wir aber vergessen, für Privatkunden gelten die üblichen Bürozeiten, außerdem haben die Behörden langes Wochenende (da war doch was?), vor Dienstag geht da gar nichts.

Definitiv erneut Zeit für Frust und Ärger, drei Minuten reichen diesmal nicht, wir gönnen uns geschlagene fünf.

Termin bei Volkswagen auf kommenden Mittwoch verschoben, wir haben nochmal zwei Tage gewonnen. Die Globetrottels sind nun reich an Tagen in Vancouver-Region.

AliceLake — pure happiness Wutz

Der heutige Blog ist schnell geschrieben: es sei denn, man sei ein unverbesserlicher Waldliebhaber. Dann könnte man gnadenlos ausholen. Heute dürfen das vor allem die Fotos tun…

Es ist verrückt, wie aufgehoben wir beide uns in diesen endlosen Wäldern fühlen.
Ur-Wälder im Regen. Kanadischer Regenurwald. Von endlosem Leben umhüllt.
Vielleicht ist der Wald deshalb unsere Herzensheimatlandschaft!? Sein kleines Dasein einzubetten in uraltes Leben drum herum. Es ist ein bisschen wie nach Hause kommen – beschützt von weichen Moosen. Mit Mitte vierzig noch Kind sein. Und für jeden der Angst hat, singen die Epiphyten ein Schlaflied.

Moose. Und Flechten, Pilze und Farn.
Farn – der Hai unter den Pflanzen und einer meiner liebsten. Seit Millionen von Jahren nicht mehr angepasst worden an die Evolution, weil er von Anfang an perfekt war. Perfekt, ursprünglich, rau.
So wie alles hier. Wilde Harmonie in tausenden von Grüntönen. Und Tropfen auf leuchteten Pilzen, unter denen Feen leben.
Echte Glückslandschaft: Pure happiness statt brüchige Oberfläche. Alles tief.

Über rauschende Bäche, Gestein, rote Baumstümpfe – nicht tot, sondern Herberge für neues Leben—tapern wir heute vier Seen entlang. 8 Kilometer bergauf und bergab. Die meiste Zeit in einem Regen, der nicht stört, sondern die Farben besser rausholt.

Nur wenig Menschen sind mit uns hier. Wenn dann, ausnahmslos mit Welpen an der Leine.
Gebrauchswesen – vielleicht gerade beim Walmart im Angebot.

Ich möchte tatsächlich nun nicht schreiben, dass es durchaus sein Gutes hat, dass der Magicbus krankt. Weil wir ansonsten diese Zauberecke der Welt verpasst hätten. Tatsächlich aber ist es so. Die positive Herleitung ist keine innere Arbeit, sie ergibt sich alleinig durch das Augen öffnen.

Augen auf und Herz geöffnet.
Inneres Toben schwingt sich an knorrigen Ästen empor und verschwindet tosend im Gestrüpp.
Ein Epiphyten-Lullaby für alle.
Winziges Dasein, das ganz genau hier her gehört: An diesen Urwald- Familientisch.
Trink, mein Kind, aus dem Rindenkelch. Trink die Medizin, sie wird dich wieder gesund machen. Ein jeder darf hier gesunden. Man muss sich nur an den Tisch setzen.
Auf einen Platz, der schon immer reserviert gewesen ist…

Nummer 074145251B, Regenwald und Midlifecrisis

Gestern 23 Uhr – 8 Uhr in Deutschland. Frust hin, Müdigkeit her, es hilft nix, jetzt müssen wir tätig werden, das Volkswagen-Teil Nummer 074145251B auftreiben, den Power Steering Tension Roller, ohne den für den Bulli sonst bald gar nicht mehr geht.


Nummer 074145251B

23:01 Anruf bei der ADAC-Hotline in München:
Schönen guten Morgen, wir bräuchten Unterstützung bei der Ersatzteilbeschaffung für unseren Bulli.
»Tut uns leid, die gibt es nur bei der Premium-Mitgliedschaft.«
Die haben wir.
»Ehrlich? Geben Sie mir mal die Mitgliedsnummer«
26457xxxx
»Ok, die haben Sie ja tatsächlich. Aber ich kann Ihnen da nicht helfen« Wer könnte das denn?
»Vielleicht die Notrufzentrale 089-222222«
Wunderbar und vielen Dank!

23:05 »Der Pannennotruf des ADAC, wie kann ich Ihnen helfen?«
Wir stehen in Kanada und bräuchten Unterstützung bei der Besorgung von Ersatzteilen.
»Da kann ich Ihnen nicht helfen, die gibts nur für Europa«
Aber vielleicht können Ihre Fachleute uns beraten, wie wir am besten vorgehen?
»Keine Ahnung, ich verbinde Sie mal« …

23:08 »Grüß Gott, Sedelmayer, ADAC«

Und endlich beginnt der Abend erfreulicher zu werden. Super nett und super bayrisch erklärt Herr Sedelmayer uns, wie er uns helfen kann: Das Ersatzteil müssen wir selber auftreiben, sobald es ihm zugeschickt wird kann er aber Transport und Verzollung erledigen, kostenpflichtig zwar da außerhalb von Europa, aber machbar…

23:20 Anruf bei »unserer« Bulli-Werkstatt in Köln:
Viele Grüße aus Kanada, quer durchs Land und nach Alaska hat der Bulli es geschafft, jetzt hätten wir da ein Problemchen und eine Frage: Ist das wirklich so ernst mit unserem Keilriemenspanner?
Klare Antwort: »Ja, wenn der auseinanderfliegt ist der Motor vermutlich hinüber«. Vorsichtshalber könnten wir den Keilriemen ganz rausnehmen, dann würde es mit dem Lenken aber recht mühsam, geradeausfahren ginge aber wohl noch ganz gut…
Und könnt Ihr uns helfen, einen Ersatzspanner aufzutreiben?
Das folgende Telephonat macht wenig Hoffnung auf eine schnelle Lösung…

23:40 Websuche bei Volkswagen-Classic-Parts, dem sagenumwobenen Uraltersatzteillager in Wolfsburg, irgendwo sollte da Teil Nummer 074145251B noch zu finden sein, die Webseite macht aber wenig Hoffnung, Vancouver vor Weihnachten noch verlassen zu können…

23:50 Anruf bei www.bus-scheune.de. Der Bulli-Onlineshop aus Oberkrämer, irgendwo in Brandenburg, hat gleich zwei unterschiedliche Spannräder unter der gesuchten Teilenummer vorrätig. Bus-Scheunenchef Herr Krämer weiß gerade nicht, wieso bei einem der zwei Artikel »Spannrad für Schwingungsdämpfer« statt »für Servolenkung« steht, er muss da wohl noch etwas korrigieren, aber »ja«, wir können wahlweise ein VW-Originalteil oder einen Nachbau bei ihm bekommen. Und per Express könne das sogar heute noch per Post rausgehen, wenn wir online bestellen.
Jippi, machen wir!

24:00 Unser Internet streikt mal wieder, zermürbende 20 Minuten dauert es, bis das Originalteilchen bestellt ist. Per Express, direkt nach München zum ADAC.

0:25 Der ADAC-Pannennotruf ist mittlerweile zutiefst bayrisch besetzt, wir beginnen, den Tonfall zu lieben.
Herr Obermayer geht unser Problemchen entspannt an. Kein Problem, einen Fall anzulegen, er bräuchte da noch ein paar Angaben von uns. Unsere Adresse in Kanada zum Beispiel, behelfsmäßig per EInfingertippsystem die von Openroad-VW-Barnaby in seinem System einzupflegen bereitet ihm jedenfalls eine Mords-Gaudi. »Und Tipp« – »doan klick ich hier« – »uund Schwuapp« … minutenlang dürfen wir ihm bei seiner harten Arbeit zuhören… »Wie koammt euer Bulli denn eigentlich nach Kanada?« – der Gedanke reißt ihn aus der Konzentration, vor lauter Begeisterung, etwas über Verschiffung gelernt zu haben macht es ihm auch gar nichts aus, mit der Adresseingabe nochmal von vorne beginnen zu müssen…

Und wie geht es nun weiter? Sollen wir jetzt nochmal Herrn Sedelmayer anrufen? »Nein, das mach ich und ich rufe dann später am Tag zurück«
Aehm, super! Hier ist es gleich 1 Uhr morgens…
»Ach Ihr habts Zeitverschiebung!? Ich ruf in 15 Minuten zurück«

1:30 Noch kein Rückruf. Die Globetrottels werden ernsthaft müde…

1:45 Anruf bei Herr Sedelmayer, der ist mittlerweile außer Haus, Herr Saße spricht aber auch fließend Bayrisch, hat von unserem Fall schon gehört und ohrenscheinlich auch Spaß, uns zu helfen. Busscheune kennt er, die ist auch im Voralpenland erste Adresse für alte Bulli-Teile, wenn unser Teil morgen ankommt macht er es direkt klar für den Flieger, der geht ja 5 mal täglich von München nach Vancouver. Unsere Reisepasskopie und die Teilerechnung braucht er noch, dann geht die Sache klar…

2 Uhr, den Globetrottels ihr Vertrauen in den ADAC und die Menschheit ist wieder da, und natürlich wird mit dem Bulli doch alles wieder gut. Und vielleicht dauert es ja doch nicht mehr wochenlang, bis wir Richtung Kalifornien weiterkommen…

2:15 So todmüde sind wir noch nie in die Koje gekommen.

Und dann ist da noch heute. Chérie würde nun schreiben, dass wir unseren wunderbaren Campground am Alice-Lake ohne das Bulli-Problemchen niemals gefunden und damit definitiv etwas verpasst hätten – womit sie zweifelsohne mal wieder recht hätte.

Und die Wanderung durch den verregneten Regenwald ist wirklich eine der schönsten, die wir je unternommen haben. Besser als »Fifty shades of green« und »Midlifecrisis« ließen sich die wilden Pfade auch kaum betiteln.

Und das Beste: Morgen haben wir hier noch einen Tag, bevor es dann Freitag wieder zu VW geht…

Vier Welten in Vancouver

Beseelt bin ich in dieser Nacht am Orcafjord eingedüselt – mit Träumen in schwarzweiß.
Leider dauern diese nicht lang, denn gegen Mitternacht fällt das Reich der Mitte ein.
Ein tuckerndes Riesenwohnmobil (sehr wahrscheinlich in rot) knattert über unseren Kopf und uns unsanft aus süßen Träumen.
Quietschende Bremsen direkt neben unserem Zeltdach, eine Tür öffnet sich und ergießt eine unzählbare Menge wuseliger Menschen. Saftiges Tür wieder zuknallen, scharren auf dem Schotterboden von vielen kleinen Füßen. Die spitzen Münder obendrauf schnattern laut durcheinander, eine mögliche Einparkmöglichkeit diskutierend. Natürlich bei laufendem Motor. Vorwärts, rückwärts, seitswärts, ran!? Es ist ja auch gar nicht so einfach…
Nach zwanzig Minuten hat die Diskussion noch immer kein Ende gefunden. Etwas ungehalten öffne ich die Zeltluke, um abzuschätzen, in welche Richtung sich die Sache entwickelt. Einigt man sich langsam oder müssen wir mit einem Nachrücken von Truppen der Volksbefreiungsarmee rechnen?
Taschenlampen leuchten mir sofort gnadenlos in die Augen. Guerillataktik. Ich zurre den Reißverschluss schnell wieder zu: es sind zu viele und auf Chouchou kann ich nicht zählen, der schläft schon wieder. Also Oropax so tief in die Ohren pfropfen, wie es geht. Leider hilft das rein gar nix: ich höre, dass die Diskussion bis halb zwei weitergeht.

Um sechs klingelt unser Wecker. Die Sonne denkt noch lange nicht ans Aufstehen. Im Halbdunkel erkenne ich, dass man sich im Reich der Mitte anscheinend irgendwann für stramm links herum entschied. Mao würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wie lange diese Entscheidung gedauert hat.
Es braucht drei starke Kaffee bis wir los nach Vancouver können.

Klassisch wie die Alemans rollen wir um 08:28h auf den Hof von OpenRoads, unser Termin ist um halb neun. Der Bulli verstummt vor seinem Facharzttermin. Auch ein Klassiker: monatelang gelitten und wenn man dran ist, ist nix mehr. Schön wäre es ja…

Jon, das Vögelchen, empfängt uns fröhlich-verschnupft: „Puh! Thank God, thank God, thank God you received my mail!“ Fünfmal hat er die Terminverschiebung an „globetrotters“ geschickt und immer kam die Mail zurück. Weired. Al war es, der Jon –nach seinen kaltschweißigen Versuchen–irgendwann mitfühlend zur Seite sprang und auf die Idee brachte, doch mal das Wort „idiots“ auf Deutsch zu googlen. Irgendetwas haben die beiden doch erzählt bezüglich einer seltsamen Postadresse. Und siehe da: der Googletranslator kennt natürlich das Wort „Trottel“. Nur das „s“ hintendran hat er –orthographisch natürlich vollkommen falsch!—unterschlagen.
Wie dem auch sei: Jons Mail haben wir trotzdem bekommen. Nicht fünf-, aber immerhin zweimal. Und zweimal haben wir brav geantwortet. Die Antworten wiederum hat Jon nicht gelesen: „I don´t check my mails too often.“ Jon, das Vögelchen. Liest nicht nur nicht seine Mails, sondern macht auch keine der abgesprochenen Bestellungen. Das allerdings sollen wir erst später erfahren.

Zuversichtlich tippeln wir um 9h vom Hof. Wir haben nicht nur mit Jon, dem Vögelchen, sondern auch mit Al, dem Bulliexperten, besprochen, was das Magicbusproblem konkret sein kann. Al wird sich der Sache annehmen und uns –über Jon, das Vögelchen– gegen 13h eine erste Rückmeldung per Whatsapp schicken. Die Nummer checken wir gegen –nicht, dass irgendwo noch ein „s“ fehlt—und schweben von dannen, um in der Zwischenzeit Vancouver Downtown zu erleben.

Vancouver Downtown.
Eigentlich treten wir mit wenig Erwartungen an diese Stadt heran. Der Titel: „eine der lebenswertesten Städte der Welt“ lässt diese Wenigen allerdings sehr groß erscheinen. Entsprechend tief ist die Fallhöhe.
Gespannt steigen wir gegen 10h aus dem hochmodernen Skytrain, der führerlos durch die City braust, und wollen die Innenstadt von der Wasserfront her aufrollen. Wir haben nun vier Stunden, in der wir vier –teils streng voneinander getrennte—Welten erleben. Das allerdings wissen wir an der Waterfront noch nicht.

In Welt Nummer eins—an der Waterfront– ist alles sauber, adrett und nett.
Im Hafen liegen dicke Kreuzfahrtschiffe im Dock, deren Passagiere sich in moderne Wolkenkratzerfluchten erbrechen. Touristenshuttles, teure Hotels, Startup-Unternehmen in durchsichtigen Bürotürmen. Kunst an der Flaniermeile am Wasser in Form eines phallusartigen Megatropfens und eines Lego-Orca. Der angrenzte Park ist eine ausdrückliche „Liquor allowed zone“. Wasserflugzeughafen, bunte Herbstbäume, ein Haus auf Stelzen.

In Welt Nummer zwei –in Gastown, zwei Häuserzeilen weiter—sind die Hippster zu Hause.
Baristatempel, die Lattes und Macchiatos mit Gurana und Drachenfruchtsirup ausschenken, minimalistische Vernissagen, beäugt von modischen Menschen, die aussehen, als hätten sie es geschafft. Modeläden, an denen man klingeln muss, neben veganen Burgerbuden, aus denen Rockabilly tönt. Etablissements, von denen Berlin 2032 träumt. Und eine Dampfuhr, die tutet.

Welt Nummer drei ist Chinatown, drei Minuten Gehstrecke von Welt Nummer zwei aus.
Das Millennium Gate, 2002 vom kanadischen Premierminister eingeweiht, bittet den Besucher „sich an die Vergangenheit zu erinnern und in die Zukunft zu blicken“. Ist hier nicht allzu einfach, hier kippt die Nummer nämlich langsam: Erster Müll auf brüchigen Bordsteinen, leere Häuser, blättriger Putz. Läden mit unbekannten Produkten, die niemand außerhalb des Reichs der Mitte jemals konsumiert hat. Weil nicht nur das Was, sondern auch das Wie ein großes Fragezeichen ist. Verstaubte Werbeplakete mit Pandas drauf, die mahnen: „Demystify Chinatown“. Das hingegen ist einfach, weil die ersten Clochards neben einem Totem campieren.

Welt Nummer vier tummelt sich im Umkreis der West Hastings Street. Wobei „tummeln“ ein vollkommen falsches Wort ist. Eigentlich gibt es kaum Worte für diese Szenen, mit denen wir in keinster Weise gerechnet haben, von denen wir schockiert Zeuge werden in „einer der lebenswertesten Städte der Welt“.
Die gesamte Hauptstraße, inklusive zahlreicher Nebenstraßen, ist ein Abbild des Elends und tiefer Verwahrlosung. Hunderte von cracksüchtigen Seelen, die zum größten Teil vor sich hin dämmern – auf Planen, in provisorischen Unterschlüpfen, in dreckigen Rollstühlen, auf dem blanken Boden. Taumelnde Menschen in Reihe mit Pfeifen in den schmutzigen Händen, schwer vorn übergebückt, fertig –fix und fertig. Nur die Wachen krakelen psychotisch vor sich hin bis zur nächsten Pfeife.
Die Müllabfuhr fegt Erbrochenes weg, eskortiert von der Polizei. Eine Sozialarbeiterin lugt unter Planen, sie macht Lebendkontrollen. In einer abgehalfterten Gemeinde singt ein Hoffender für Seelen, die ihm schon lange nicht mehr zuhören können.
Chouchou und ich, wir beiden sind nicht bange, was die Arbeit mit süchtigen Menschen angeht. Und unerfahren so oder so nicht. Aber das, was wir hier sehen, schlägt allen Fässern den Boden aus.
Wir sind sprachlos, schockiert und wirklich betroffen. In einer der lebenswertesten Städte der Welt.
Das hier ist nicht nur Opioidkrise. Das ist Cracksturm.
Und: wenn das Vancouver ist, wie bitte sieht denn dann Detroit aus?

Sprachlos flüchten wir uns zurück nach Gastown. Der vegane Burger im Rockabillyschuppen schmeckt surreal und schal. Ketchup zu den Pommes? Warum nicht. Ein Hauch von Scham und Dekadenz liegt in der Luft – es ist die gleiche, wie zwei Straßen weiter, wo ums nackte Überleben nur noch gedämmert wird.

Mit dem Skytrain geht’s um 14h zurück in Richtung OpenRoads. Da der Chefsessel noch frei ist, fahre diesmal ich. Es ist die einzige Möglichkeit, das Beobachtete irgendwie zu integrieren: zumindest in den Phantasie so tun, als könne man einen führerlosen Zug steuern.
Wir werfen uns in die Kurven, entgegenkommende Kollegen werden freundlich gegrüßt. Manchmal ist nur das der Weg, um mit dem Wahnsinn und der Gleichzeitigkeit des Lebens einigermaßen ins Reine zu kommen.

OpenRoads.
Wie sich herausstellt, ist die Straße für uns noch nicht allzu schnell wieder offen.
Jon, das Vögelchen, hat mit Al, dem Bulliexperten, gesprochen, der sich –während wir vier Welten durchwanderten—das Magicbusproblemchen genauer angeschaut hat.
Fakt ist: der Keilriemerspanner muss getauscht werden. Leider ist der nicht vorrätig, um das Ersatzteil müssen wir uns selbst kümmern. Die Achsmanschetten sind auch hinüber – die haben sie aber: am Freitag. Genauso wie die neuen Vorderreifen, die wir eigentlich schon vor 10 Tagen bestellt hatten und heute gemacht werden sollten. Bueno. Also neuer Termin am Freitag.
Wo auch immer wir jetzt einen Keilriemerspanner herbekommen…. Oder eine Bodenwanne. Die nämlich fehlt auch. Anscheinend schon immer….

Ein wenig frustrierend ist es schon. Unter anderem, weil Jon, das Vögelchen, vor 10 Tagen behauptet hat, dass er alles zum heutigen Termin bestellen würde. Hat er leider nicht. Und leider hat er uns auch nicht frühzeitig mitgeteilt, dass wir uns gegebenenfalls um den Keilriemerspanner selbst kümmern müssen.
Ach, es wäre doch so schön viel Zeit dafür gewesen: damals auf Vancouver Island.
Wäre, wäre, hätte, hätte. Damit kann man leider nicht arbeiten. Also müssen wir jetzt ran: in diesen Tagen, die wir nun in Kanada erneut geschenkt bekommen. Die USA muss also noch warten.

Nach kurzer Überlegung, wo wir die nächsten Tage im Regen verbringen wollen, entscheiden wir uns für den Alice Lake. 100 Kilometer über den „Sea to sky“-Highway in Richtung Whistler, mitten im Wald am See.
Zwischen Moos und Nebel ergattern wir mal wieder einen der letzten Plätze – die günstigen State Campgrounds rund um Vancouver sind beliebt und immer rappelvoll. Es ist schön, dass es im Wäldchen nicht auffällt – weil alle und jeder ganz viel Platz hier hat.

Die Bärchen kommen laut Hinweistafel am Eingang „daily“ vorbei. Und auf dem Alice Lake tanzen die Wolken. Der Regen hat uns in Vancouver in Ruhe gelassen, hier in den Bergen prasselt er wieder aufs Dach.

Wir werden uns in diesen gewonnen Tagen neue Bücher runterladen. Und mit Bärspray durch den Wald tigern.
Wir werden irgendwo her hoffentlich einen Keilriemenspanner auftreiben. Und nachsinnen:
Über „people make plans and God laughs“ und über Vögelchen. Über ein „The clouds looked no nearer when I was lying on the streets“ am Hochhaus im Hippsterviertel, drei Straßenzüge neben tiefstem Elend. Und über all diese unterschiedlichen Welten, die immer und überall parallel laufen…

Orcas mit Post-Dusche-vollgesprenkelten Waden

Ein Regentag in Porteau Cove.
Aus dem gestern angekündigten Starkregen wurde –Gott sei Dank—nicht allzu viel. Große Pfützen vor dem Magicbus aber sind silbrige Zeugen, das ein ergiebiger Dauerregen trotz allem die Nacht niederkam und mit Nichten daran denkt aufzuhören. Er soll uns vergönnt sein, denn wir halten es weiterhin damit: Regen bedeutet ausruhen und die Welt in Frieden lassen, bedeutet dankbar sein, dass die Waldfeuer in British Columbia hoffentlich bald ein Ende haben, bedeutet, dass durstiges Land endlich trinken kann.

Ein Spaziergang darf natürlich trotzdem sein: am südlichsten Fjord Nordamerikas, dem Howe Cove. Die nächsten Fjorde kommen dann erst in Chile wieder, bis dahin kommen wir auf dieser Reise nicht. Es wird also bis auf Weiteres unser letztes Fjord sein. Ausgehend vom größten Ozean der Welt: dem Pazifik. Last orders please.

Bei diesem Wetter kommt Walhallastimmung auf: 50 shades of grey über dem Fjord, gräuliche Tannen auf der anderen Seite der Bucht, Tropfen über Wasser und auf dösigen Wellen.

Eine Robbe schaut belustigt dabei zu, wie Globetrottels mit rutschigen Schuhen auf nassen Steinen den Strand entlangschliddern. Bei Ebbe, fast windstill, findet man kleine Wunder am Wegesrand: ein perfektes Herbstblatt, kleine Muscheln an alten Baumriesen, angeschwemmt vor Ewigkeiten.

Am Ponton des Porteau Cove lernen wir, dass europäische, grüne Krabben eine invasive Spezies sind (Sorry, wir bleiben nicht lang.).
Neben der Brücke hat man Skulpturen im Meer versenkt, um den Rockfish wieder anzusiedeln, ein paar kunstaffine Taucher machen sich auf die Suche, denen kann das Wetter wumpe sein: unter dem Meer regnet es ja nicht.

Nach dem Morgenspaziergang gibt’s gebratene Nudeln von gestern mit den letzten Eiern von morgen– die müssen langsam weg, da (hoffentlich) die Einreise in die USA nicht mehr weit ist. Kochen unter der Bergerplane mit Meerblick. Danach wird das dritte Buch in drei Tagen aufgeklappt und der Regen prasselt unbeirrt weiter.

Nachmittag. Das Dauertröpfeln auf dem Dach macht wunderbar dösig und die 24 Grad im Magicbus tun ihr Übriges. Drinnen wird Sommer gefeiert, draußen tobt Herbst. Eine Diskrepanz, die sich aushalten lässt, weil zwei Jahreszeiten auf einmal auch ein Gewinn sein können. Auch ein Gewinn: die Dusche ums Eck.
Bedüselt und beseelt sammele ich meine Duschutensilien zusammen. Bedüselt und beseelt stehe ich unter einer heißen Dusche, beäugt von einer Großfamilie Schnacken. Zweimal Spülung, statt Shampoo macht butterweiches Haar, das Duschgel hat Kühlungseffekt –Summer edition—um das What-a-feeling-Sommergefühl im Bulli zu unterstützen. Hartes Handtuch auf Eukalyptushaut, eine frische europäische, grüne Krabbe. In Zeitlupe gehts minzig gekühlt durch den Regen wieder zurück in Richtung Magicbus, zwei Spülungen in den Hand und leider keine Kamera.

Im Pfützenslalom ist der Blick eher gen Boden gerichtet, damit die Waden nicht allzu schnell wieder allzu vollgesprenkelt sind. Der Blick aufs Fjord ist –rein aus Hygienegründen– eher sporadisch. Aus dem Augenwinkel sehe ich sie trotzdem. Denn das, was man sein Leben lang schon sucht, lässt sich nicht übersehen, wenns plötzlich neben einem auftaucht. Orcas.

In einem Kickstart der Sonderklasse schieße ich wie eine Rakete aus meinem bedüselten Zustand hinaus. ORCAS!! Ungefähr 20 Meter vom Ufer entfernt. DA schwimmen ORCAS!!
Seit Tagen starre ich nonstop gebannt aufs Meer, hielt Bojen und Baumstämme, hielt Robben und Seelöwen für alles andere als das, was sie waren. Immer auf der Suche nach Orcas, immer in der großen Hoffnung. Just in diesem Moment weiß ich: Orcas sind nicht zu übersehen. Drei riesige Tiere –so unverwechselbar—an der Uferkante. Keine Boje sieht so aus. Und auch kein Seehund. DA schwimmen ORCAS!! Unverkennbar.

In meinen schlabberigen Crocs renne ich los durch die Pfützen und rufe lauthals nach Chouchou: „Chouchou!! Komm schnell! Da schwimmen Orcas!! CHOUCHOU!!! ORCAS!!“
Leider sind es noch 500 Meter Spurt bis zum Bulli. Der ganze Campground hört mich, die Orcas auch, sie geben Gas. „Chouchou!! ORCAS!!“ Nur Chouchou hört mich leider nicht: er ist noch 500 Meter weg, in einem Magicbus, in dem die Heizung auf 24 Grad dröhnt und der Regen laut auf dem Dach klopft.
Dreieinhalb Minuten später knalle ich mit vollgesprenkelten Waden, hochrotem Kopf und vollkommen außer Atem an die Bullitür, schreie durch die Scheibe: „Chouchou!! Schnell!! ORCAS!!“, dreh mich auf dem Crocabsatz wieder um und renne sofort zurück… einen verdutzenden Chouchou im Schlepptau.
Fix und fertig kehren wir an den Tatort zurück. Zwei kleine Mädchen am Strand starren uns mit großen Augen an: zwei röchelnde, euphorische Wesen mit Feuermeldergesichtern und aufgerissenen Augen. Eine der Kleinen sagt: „Just three minutes ago a family of Orcas had been swimming by.” I KNOW!!!
Three minutes ago. Manchmal können drei Minuten eine ganze Welt sein:
Die Orcas sind weiter geschwommen…

Der Verlauf des restlichen Tages ist damit klar: Ich muss Stellung beziehen:
Alleine auf dem Ponton für zwei Stunden, dann wird es zu kalt, ich kehre in den Bulli zurück. Dort: auf der Rückbank, den Blick mit viereckigen Augen aufs verregnete Fenster geheftet, drei Stunden lang, dann wird es zu warm. Chouchou animieren, nochmal mit aufs Ponton zu kommen: dePabels bekommt den Logenplatz mit Blick aufs Fjord, Augen, die hektisch übers ruhige Wasser gleiten, eine Stunde lang. Doch die Orcis lassen sich nicht mehr blicken.

Manchmal glaubt man, ein Foto zu brauchen: von den besonderen Augenblicken im Leben. Um für sich selbst das Unglaubliche sichtbar zu machen, um Erinnerung zu konservieren, um Momente zu halten.
Meistens gibt es keine Bilder von eben diesen Wimpernschlägen, auf die man so lange hoffte, die dann unerwartet, plötzlich über einen hineinbrechen. Oft ließe sich das Erlebte womöglich auch gar nicht fotographisch festhalten, selbst wenn man eine Kamera zur Hand gehabt hätte.
Momente, die auf einen niederregnen, wenn man am allerwenigsten damit rechnet.
Vollkommen unvorbereitet.
Zum Beispiel: Am letzten Fjord im Dauerregen, mit zwei Spülungen in der Hand und mit post-Dusche-vollgesprenkelten Waden.

Hören denn sehen lassen in Porteau Cove

Unsere Texte momentan sind überschaubar, weil unsere Erlebnisse zur Zeit überschaubar sind.
Die Globetrottels in Warteposition – das ist gewöhnungsbedürftig und wenig wir-konform. Sehr wahrscheinlich aber tut es uns auch mal ganz gut: wenig erleben, um Erlebtes überhaupt erstmal sacken zu lassen.

Mit gemischten Gefühlen verlassen wir daher Vancouver Island.

Einerseits erwartungsfreudig, weil es weiter geht, andererseits mit einem Hauch von Weh, da diese Insel zu Recht einen Sehnsuchtsort abgeben kann, so wunderschön wie sie ist.

Die Seelöwen bellen uns auf Wiedersehen. Wir sind sicher: das werden wir.
Wenn die Bande denn dann Zeit für uns hat und nicht erneut mit einem Einbruch beschäftigt ist – wie im März diesen Jahres. Da hat ein Teil der leu´schen Meermafia nämlich eine Lachsfarm nahe der Insel besetzt und sich vehement geweigert diese wieder zu verlassen. Also hat man die Löwen sich satt fressen lassen – an einem Kontingent, das eine halbe Millionen Lachse zählte.
Möglicherweise haben wir sie daher tagelang nicht gesehen, sondern nur gehört: ein sattes Seelöwenrülpsen mit einem Bauch voll Lachs, so kann man ja auch niemanden unter die Augen treten.

Die Überfahrt zurück nach Horseshoe Bay (btw: was ist eigentlich ein Pferdeschuh? Der Huf oder das Hufeisen?)bleibt ein Traum: Blau in Blau bei Kaiserwetter.

Die Orcas sind natürlich weiterhin nicht vor Ort. Möglicherweise haben sie die Lachsfarm nach den Löwen besetzt und zeigen sich aus gleichem Grunde nicht: vollgefressener Bauch mit saftigem Lachsrülpser unter Wasser. In so einem Zustand besser nur hören, denn sehen lassen.
Obendrein habe ich vergessen, mein schwarzweißes Schlauchkleid anzuziehen. Es ist also niemand an Bord der „Queen of Cowichan“ mit dem sich die vollgefutterten Orcis identifizieren können. Selbst Schuld – also, ich. Die Orcas können gar nichts dafür, die liegen ja schließlich im Fresskoma.
Wir werden also irgendwann zurückkehren müssen auf diese Insel. Wenn alle Lachse weggesnackt sind und wir beide Schlauchkleid tragen.

Auf dem „Sea to sky“-Highway ist der Weg für den Magicbus und uns heute nicht weit. Der Bulli dankt es mit freudigem Flöten: Die Porteau Cove liegt 30 Kilometer vom Fährhafen entfernt.

Direkt am Wasser mit Blick über den Fjord hat es ein Plätzchen für uns (fürs Phantom: Nr 29). Das angetriebene Treibholz hat Tiergesichter: mit uns sind ein Holzrobbe, ein umgedrehter Fisch und ein meditierender Adler an Bord, wir teilen uns den Ausblick also zu fünft.

Nach dem Zweiplattenmenü beginnt ein zarter Nieselregen, der sich –laut Wetterapp– möglicherweise später noch in einen Starkregen verwandeln wird. Dank Stromanschluss können wir im Bulli zumindest hemmungslos heizen und mummeln uns flott gemütlich ein.

Porteau Cove: zwischen Fjord und Sea to Sky-Highway, vor den Toren der großen Stadt. Das Auge sieht nach hinten endlose Natur, das Ohr hört nach vorne hinaus den anrollenden Puls der Großstadt. In so einem Zustand besser nur sehen, denn hören lassen. Unter Wasser ist das anders herum…

Ein Tag am Meer: Uhren neu gestellt

Halb sieben, Wecker klingeln. Für einen Sonnenaufgang und einen Kaffee.
„Resilienz fördern“ kann man das auch nennen. Nach einem Tag, an dem man sich so geärgert hat, muss es etwas Gutes und Weltschönes sein, um die „Spirits upzuliften“. Sonnenaufgang über dem Meer, zum Beispiel. Mit einem dampfenden Kaffee in der Hand.
Kaum etwas wirkt besser.

Mit uns sind auch die Seelöwen aufgewacht. Heute machen sie sich nicht mehr unsichtbar, heute springen sie Salti über Wasser. Ein Reiher schaut nicht schlecht, die Welt färbt sich pastell, bevor ein glutroter Ball aufzieht: ein neuer Tag. Mit dem Fokus auf die schönen Dinge des Lebens. 2023, nicht mehr kurz vor zwölf, die Uhr stellt sich neu. Komm, wir fangen alle nochmal an. Friedlich und miteinander. Heute gebe ich mir wieder mehr Mühe beim zuhören.

Momentan wirbeln viele Gefühle zwischen Seele, Herz und Hose. So ist es wohl, wenn das Herz im Grundgerüst am Boden liegt, weil Trauer herrscht. Es gibt zur Zeit nicht nur „ein bisschen“, es gibt lediglich das volle Programm: Rührung, Wut, Entsetzen, Hoffnung, Freude, Dankbarkeit. Ich mag es auch nicht zudecken, es will ja alles raus. Also soll es fließen. So wie dieser Tag – in Selbstfürsorge.

Avocado und butteriges Ei zum Frühstück –zwei. Der Geruch von frisch gewaschener Wäsche zwischen Nadelbäumen. Sonnenschein von sieben bis sieben auf nackter Haut. Frischer Wind und Sonnenmilch mit Glitzer. Ein gutes Buch. Füße im kalten Wasser.

Möwenkreischen und Wellenrauschen. Erinnerungen. Lachen und Tränen. Ein vertrautes Herzensgespräch. Füße im warmen Sand.
Kochen unter freiem Himmel, lecker Essen fürs Herz, mit Estragon. Ingwertee am Abend, ein Geschenk bekommen und eins planen.

Gedanken ohne Sorgen vor Bewertung niederschreiben. Endloser Himmel über uns. Und blau. Blau, blau und blau. Draußen statt drinnen.

Was für ein heilender und wunderbar Tag – ein Tag am Strand von Rathtrevor.

Komische Vögel kurz vor zwölf

Heute ist Tag der komischen Vögel.
Nach tagelangen Annäherungen unsererseits reden unser Nachbarn aus Ukee zum Abschluss erstmalig mit uns: ein bärtiger Dad, der morgens dreimal die Nase wie ein startender Düsenjet hochzieht und ausrotzt, seine drei Kinder, seine schweigsame Frau und der Hund. Er war bis dato der einzige, der zu uns Kontakt aufnahm – sehr zum Missfallen des Bärtigen, der „Ruby“ am laufenden Band zu Recht weist. Armes, kommunikatives Tier an der Kette, nicht mal streicheln sollen wir dich, dafür werden alternativ Deine Häufchen unter dem Wohnwagen gesammelt.
Unser nächster schräger Kontakt sind zwei Rentner aus Wesel. Die parken am Wasserfall, an dem wir auf dem Weg gen Osten frühstücken, direkt neben uns ein. Mit einem sehr großem Kommunikationsbedürfnis. So wie Ruby, aber sie liegen an keiner Kette. Zumindest an keiner sichtbaren.
Geduldig hören wir uns ihre Geschichten an: Die Reise lief nicht nach Plan, in San Franscisco gab´s Nebel, bei einer Panne in Thunder Bay zeigte sich der deutsche ADAC nicht hilfreich. Die Route 66 sei sehr enttäuschend – genauso wie die Umweltauflagen in Oberhausen.
In Port Alberni geht’s für uns zum Walmart. Eine kroatische Lady in unserem Alter pest auf uns zu: wegen des Bullis. Den hat sie mit ihrem Mann auch in Kroatien gefahren. Nun leben beide in Kanada – ein fruchtbares Land, endlich wurden sie hier schwanger, allerdings liefen die Dinge politisch hier mittlerweile aus dem Ruder.
Wir stutzen. Hier in Kanada? Was läuft den hier aus dem Ruder?
Die Lady fährt aufgeregt fort, dass sie gestern auf einer Demo war, obwohl sie mittlerweile Angst habe den Mund aufzumachen, da sie ansonsten als „Hater“ verschrien würde.
Ein bisschen riecht es schon jetzt faul, nach dem kruden Motto: „In dieser Diktatur man ja gar nichts mehr sagen“, da gehen alle Alarmlampen an. Und sie fährt munter fort: in den staatlichen Schulen würde den Kindern nur noch Unsinn erzählt. Zum Beispiel, dass sie sich aussuchen können, ob sie Junge oder Mädchen sein wollen.
„Verstehe, es ist Dir also zu liberal hier?“ Jetzt stutzt sie. „Wir als Globetrottels würden uns gerade deshalb hier in Kanada sehr, sehr wohl fühlen.“ Vielen Dank und auf Wiedersehen, das Gespräch ist hiermit beendet.
Mit Verlaub, wir sind bestimmt bereit uns andere Sichtweisen anzuhören, aber in diesem Moment, an diesem Ort, kommt mir echt die Galle hoch. Ich habe mittlerweile so was von gar keinen Bock mehr auf diese gequirrlte, intolerante, „man darf ja gar nichts mehr sagen“-Scheiße des rechten Mainstreams.
Diese Wut –und sie ist groß– braucht etwas Zeit um wieder abzuflauen. Genau genommen bis Rathtrevor Beach.
Hier ist die Welt wieder in Ordnung. Ohne queerfeindlichen Mist.
Nichts gegen komische Vögel. Wir sind bestimmt selbst welche. Alles erlaubt, was Welt und Andersartigkeit einlädt.
Aber sich die –durch innere Enge und Angst hervorgerufene– Feindlichkeit anderer auf einem Supermarktparkplatz ungefragt an den Kopf werfen lassen zu müssen, das möchte ich einfach nicht mehr in diesem Leben. Ein Mädchen möchte ein Junge möchte ein Mädchen sein. So what!? Lass sie doch.
Mal auf die Uhr geschaut?! Es ist 2023. Und manchmal glaube ich: kurz vor zwölf, wenn ich so einen Bullshit höre…

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