Beseelt bin ich in dieser Nacht am Orcafjord eingedüselt – mit Träumen in schwarzweiß.
Leider dauern diese nicht lang, denn gegen Mitternacht fällt das Reich der Mitte ein.
Ein tuckerndes Riesenwohnmobil (sehr wahrscheinlich in rot) knattert über unseren Kopf und uns unsanft aus süßen Träumen.
Quietschende Bremsen direkt neben unserem Zeltdach, eine Tür öffnet sich und ergießt eine unzählbare Menge wuseliger Menschen. Saftiges Tür wieder zuknallen, scharren auf dem Schotterboden von vielen kleinen Füßen. Die spitzen Münder obendrauf schnattern laut durcheinander, eine mögliche Einparkmöglichkeit diskutierend. Natürlich bei laufendem Motor. Vorwärts, rückwärts, seitswärts, ran!? Es ist ja auch gar nicht so einfach…
Nach zwanzig Minuten hat die Diskussion noch immer kein Ende gefunden. Etwas ungehalten öffne ich die Zeltluke, um abzuschätzen, in welche Richtung sich die Sache entwickelt. Einigt man sich langsam oder müssen wir mit einem Nachrücken von Truppen der Volksbefreiungsarmee rechnen?
Taschenlampen leuchten mir sofort gnadenlos in die Augen. Guerillataktik. Ich zurre den Reißverschluss schnell wieder zu: es sind zu viele und auf Chouchou kann ich nicht zählen, der schläft schon wieder. Also Oropax so tief in die Ohren pfropfen, wie es geht. Leider hilft das rein gar nix: ich höre, dass die Diskussion bis halb zwei weitergeht.

Um sechs klingelt unser Wecker. Die Sonne denkt noch lange nicht ans Aufstehen. Im Halbdunkel erkenne ich, dass man sich im Reich der Mitte anscheinend irgendwann für stramm links herum entschied. Mao würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wie lange diese Entscheidung gedauert hat.
Es braucht drei starke Kaffee bis wir los nach Vancouver können.

Klassisch wie die Alemans rollen wir um 08:28h auf den Hof von OpenRoads, unser Termin ist um halb neun. Der Bulli verstummt vor seinem Facharzttermin. Auch ein Klassiker: monatelang gelitten und wenn man dran ist, ist nix mehr. Schön wäre es ja…

Jon, das Vögelchen, empfängt uns fröhlich-verschnupft: „Puh! Thank God, thank God, thank God you received my mail!“ Fünfmal hat er die Terminverschiebung an „globetrotters“ geschickt und immer kam die Mail zurück. Weired. Al war es, der Jon –nach seinen kaltschweißigen Versuchen–irgendwann mitfühlend zur Seite sprang und auf die Idee brachte, doch mal das Wort „idiots“ auf Deutsch zu googlen. Irgendetwas haben die beiden doch erzählt bezüglich einer seltsamen Postadresse. Und siehe da: der Googletranslator kennt natürlich das Wort „Trottel“. Nur das „s“ hintendran hat er –orthographisch natürlich vollkommen falsch!—unterschlagen.
Wie dem auch sei: Jons Mail haben wir trotzdem bekommen. Nicht fünf-, aber immerhin zweimal. Und zweimal haben wir brav geantwortet. Die Antworten wiederum hat Jon nicht gelesen: „I don´t check my mails too often.“ Jon, das Vögelchen. Liest nicht nur nicht seine Mails, sondern macht auch keine der abgesprochenen Bestellungen. Das allerdings sollen wir erst später erfahren.

Zuversichtlich tippeln wir um 9h vom Hof. Wir haben nicht nur mit Jon, dem Vögelchen, sondern auch mit Al, dem Bulliexperten, besprochen, was das Magicbusproblem konkret sein kann. Al wird sich der Sache annehmen und uns –über Jon, das Vögelchen– gegen 13h eine erste Rückmeldung per Whatsapp schicken. Die Nummer checken wir gegen –nicht, dass irgendwo noch ein „s“ fehlt—und schweben von dannen, um in der Zwischenzeit Vancouver Downtown zu erleben.

Vancouver Downtown.
Eigentlich treten wir mit wenig Erwartungen an diese Stadt heran. Der Titel: „eine der lebenswertesten Städte der Welt“ lässt diese Wenigen allerdings sehr groß erscheinen. Entsprechend tief ist die Fallhöhe.
Gespannt steigen wir gegen 10h aus dem hochmodernen Skytrain, der führerlos durch die City braust, und wollen die Innenstadt von der Wasserfront her aufrollen. Wir haben nun vier Stunden, in der wir vier –teils streng voneinander getrennte—Welten erleben. Das allerdings wissen wir an der Waterfront noch nicht.

In Welt Nummer eins—an der Waterfront– ist alles sauber, adrett und nett.
Im Hafen liegen dicke Kreuzfahrtschiffe im Dock, deren Passagiere sich in moderne Wolkenkratzerfluchten erbrechen. Touristenshuttles, teure Hotels, Startup-Unternehmen in durchsichtigen Bürotürmen. Kunst an der Flaniermeile am Wasser in Form eines phallusartigen Megatropfens und eines Lego-Orca. Der angrenzte Park ist eine ausdrückliche „Liquor allowed zone“. Wasserflugzeughafen, bunte Herbstbäume, ein Haus auf Stelzen.

In Welt Nummer zwei –in Gastown, zwei Häuserzeilen weiter—sind die Hippster zu Hause.
Baristatempel, die Lattes und Macchiatos mit Gurana und Drachenfruchtsirup ausschenken, minimalistische Vernissagen, beäugt von modischen Menschen, die aussehen, als hätten sie es geschafft. Modeläden, an denen man klingeln muss, neben veganen Burgerbuden, aus denen Rockabilly tönt. Etablissements, von denen Berlin 2032 träumt. Und eine Dampfuhr, die tutet.

Welt Nummer drei ist Chinatown, drei Minuten Gehstrecke von Welt Nummer zwei aus.
Das Millennium Gate, 2002 vom kanadischen Premierminister eingeweiht, bittet den Besucher „sich an die Vergangenheit zu erinnern und in die Zukunft zu blicken“. Ist hier nicht allzu einfach, hier kippt die Nummer nämlich langsam: Erster Müll auf brüchigen Bordsteinen, leere Häuser, blättriger Putz. Läden mit unbekannten Produkten, die niemand außerhalb des Reichs der Mitte jemals konsumiert hat. Weil nicht nur das Was, sondern auch das Wie ein großes Fragezeichen ist. Verstaubte Werbeplakete mit Pandas drauf, die mahnen: „Demystify Chinatown“. Das hingegen ist einfach, weil die ersten Clochards neben einem Totem campieren.

Welt Nummer vier tummelt sich im Umkreis der West Hastings Street. Wobei „tummeln“ ein vollkommen falsches Wort ist. Eigentlich gibt es kaum Worte für diese Szenen, mit denen wir in keinster Weise gerechnet haben, von denen wir schockiert Zeuge werden in „einer der lebenswertesten Städte der Welt“.
Die gesamte Hauptstraße, inklusive zahlreicher Nebenstraßen, ist ein Abbild des Elends und tiefer Verwahrlosung. Hunderte von cracksüchtigen Seelen, die zum größten Teil vor sich hin dämmern – auf Planen, in provisorischen Unterschlüpfen, in dreckigen Rollstühlen, auf dem blanken Boden. Taumelnde Menschen in Reihe mit Pfeifen in den schmutzigen Händen, schwer vorn übergebückt, fertig –fix und fertig. Nur die Wachen krakelen psychotisch vor sich hin bis zur nächsten Pfeife.
Die Müllabfuhr fegt Erbrochenes weg, eskortiert von der Polizei. Eine Sozialarbeiterin lugt unter Planen, sie macht Lebendkontrollen. In einer abgehalfterten Gemeinde singt ein Hoffender für Seelen, die ihm schon lange nicht mehr zuhören können.
Chouchou und ich, wir beiden sind nicht bange, was die Arbeit mit süchtigen Menschen angeht. Und unerfahren so oder so nicht. Aber das, was wir hier sehen, schlägt allen Fässern den Boden aus.
Wir sind sprachlos, schockiert und wirklich betroffen. In einer der lebenswertesten Städte der Welt.
Das hier ist nicht nur Opioidkrise. Das ist Cracksturm.
Und: wenn das Vancouver ist, wie bitte sieht denn dann Detroit aus?

Sprachlos flüchten wir uns zurück nach Gastown. Der vegane Burger im Rockabillyschuppen schmeckt surreal und schal. Ketchup zu den Pommes? Warum nicht. Ein Hauch von Scham und Dekadenz liegt in der Luft – es ist die gleiche, wie zwei Straßen weiter, wo ums nackte Überleben nur noch gedämmert wird.

Mit dem Skytrain geht’s um 14h zurück in Richtung OpenRoads. Da der Chefsessel noch frei ist, fahre diesmal ich. Es ist die einzige Möglichkeit, das Beobachtete irgendwie zu integrieren: zumindest in den Phantasie so tun, als könne man einen führerlosen Zug steuern.
Wir werfen uns in die Kurven, entgegenkommende Kollegen werden freundlich gegrüßt. Manchmal ist nur das der Weg, um mit dem Wahnsinn und der Gleichzeitigkeit des Lebens einigermaßen ins Reine zu kommen.

OpenRoads.
Wie sich herausstellt, ist die Straße für uns noch nicht allzu schnell wieder offen.
Jon, das Vögelchen, hat mit Al, dem Bulliexperten, gesprochen, der sich –während wir vier Welten durchwanderten—das Magicbusproblemchen genauer angeschaut hat.
Fakt ist: der Keilriemerspanner muss getauscht werden. Leider ist der nicht vorrätig, um das Ersatzteil müssen wir uns selbst kümmern. Die Achsmanschetten sind auch hinüber – die haben sie aber: am Freitag. Genauso wie die neuen Vorderreifen, die wir eigentlich schon vor 10 Tagen bestellt hatten und heute gemacht werden sollten. Bueno. Also neuer Termin am Freitag.
Wo auch immer wir jetzt einen Keilriemerspanner herbekommen…. Oder eine Bodenwanne. Die nämlich fehlt auch. Anscheinend schon immer….

Ein wenig frustrierend ist es schon. Unter anderem, weil Jon, das Vögelchen, vor 10 Tagen behauptet hat, dass er alles zum heutigen Termin bestellen würde. Hat er leider nicht. Und leider hat er uns auch nicht frühzeitig mitgeteilt, dass wir uns gegebenenfalls um den Keilriemerspanner selbst kümmern müssen.
Ach, es wäre doch so schön viel Zeit dafür gewesen: damals auf Vancouver Island.
Wäre, wäre, hätte, hätte. Damit kann man leider nicht arbeiten. Also müssen wir jetzt ran: in diesen Tagen, die wir nun in Kanada erneut geschenkt bekommen. Die USA muss also noch warten.

Nach kurzer Überlegung, wo wir die nächsten Tage im Regen verbringen wollen, entscheiden wir uns für den Alice Lake. 100 Kilometer über den „Sea to sky“-Highway in Richtung Whistler, mitten im Wald am See.
Zwischen Moos und Nebel ergattern wir mal wieder einen der letzten Plätze – die günstigen State Campgrounds rund um Vancouver sind beliebt und immer rappelvoll. Es ist schön, dass es im Wäldchen nicht auffällt – weil alle und jeder ganz viel Platz hier hat.

Die Bärchen kommen laut Hinweistafel am Eingang „daily“ vorbei. Und auf dem Alice Lake tanzen die Wolken. Der Regen hat uns in Vancouver in Ruhe gelassen, hier in den Bergen prasselt er wieder aufs Dach.

Wir werden uns in diesen gewonnen Tagen neue Bücher runterladen. Und mit Bärspray durch den Wald tigern.
Wir werden irgendwo her hoffentlich einen Keilriemenspanner auftreiben. Und nachsinnen:
Über „people make plans and God laughs“ und über Vögelchen. Über ein „The clouds looked no nearer when I was lying on the streets“ am Hochhaus im Hippsterviertel, drei Straßenzüge neben tiefstem Elend. Und über all diese unterschiedlichen Welten, die immer und überall parallel laufen…