Unterwegs im Magicbus

Monat: August 2024 (Seite 1 von 3)

Haute Cuisine nach dem Gewitter

Mittelfinnland verabschiedet uns mit einem letzten Hauch Nordlicht. Aurora scheint auf ein sauberes Lächeln zu stehen – denn wieder glühte es in genau diesem Moment über dem Magicbus: als wir mit Zahnbürsten aus den Waschräumen treten.

Ein verzaubert-grünes Adieu, das wir für immer im Herzen mitnehmen werden. Wissend, dass es magischer nicht mehr wird. In diesem Leben.

Heute machen wir Strecke. Der Wunsch nach einem letzten Hauch Sommer wird drängender, also fahren wir schnurstracks gen Süden – auf der einsamsten Landstraße Ostfinnlands.

Nach zwei Stunden werden aus den Nadeln Birken, die Umgebung verändert sich langsam – wenn auch nur subtil. Die Zeichen an Zivilisation nehmen langsam zu: mehr Strommasten, kleine Ortschaften mit Radwegen (im Sommer) und Schneemobilwegen (im Winter), mehr Autos als vier pro Stunde, ein verlassenes Straßenrestaurant, Briefkästen am Straßenrand.

Eines aber bleibt trotz allem immer gleich: Wald und Seen. Seen und Wald. Gewöhnen kann man sich daran – sattsehen jedoch nie.
Am Ende der heutigen Reise stehen erstmals seit langer Zeit wieder ein paar Lupinen am Straßenrand: der Südhauch des Nordens, Ende August verblüht. Weil finnischer Spätsommer unser Frühherbst ist.

Heute Nacht sind wir im Garten von Rita und Patrick zu Hause – einem sanften, finnischen Hippiepaar, das seine Katze für deren Lebensgenuss feiert und seinen Hund buddhistisch gewaltfrei erzieht und das in einer finnischen Villakuntabunt lebt.

Am Rande der Wildwiese parken wir ein: mit Blick auf Wald und See. Weil anders in Finnland gar nicht geht.

Danach fegt das härteste Gewitter seit langem über uns hinweg.

10 Minuten, dann wird es wieder schön und Zeit für einen Camprundgang.

Am Abend gibt es feinste Reste Allerlei. In Helsinki könnten wir die zusammengewürfelte Pfanne als hipp-vegan für zwanzig Euro pro Teller anbieten:
„Ein Mirepoix aus zweierlei Wurzelgemüse an fein gechoppten Spinatcrêpes; veredelt mit der feinen Säure von Limette, serviert auf einem Hauch von Quinoa.“
Heißt: zwei krüppelige Restmöhren, eine keimende Zwiebel, die letzten finnischen Spinatpfannekuchen aus der Kühltheke in Kuhmo kleingeschnitten, gebraten und unter die wieder eingesammelten Kügelchen Quinoa gerührt, die beim Kippen der Packung nicht unter unsere Kühlbox gerollt sind. En fin: Limette drüber ausgequetscht und fertig.

Haute cuisine am letzten Seecamp Finnlands geht sehr wohl auch in der Outdoorkatastrophenküche.
Oder: die gehobene Kunst der Speisenzubereitung unter freiem Himmel.
Das Beste vom Besten für einen kleinen Kreis von Kennern.

Dolce fare niente in Ostfinnland

Der scharfe Wind, der heute aus Osten bläst, kippt den einzigen Plan, den wir für heute hatten: Plastikbötchen fahren ist so nicht.
Ergo tun wir heute das, was wir eigentlich schon länger mal wieder machen wollten: gar nichts.
In der Sonne sitzen, den Wind sich um die Ohren pfeifen lassen, lesen, snacken und gut is. Es gibt nicht ein einziges Foto davon.
Und: wir planen die ungefähre Route unserer Heimreise. Nach langem hin und her in den letzten Tagen entscheiden wir uns für den Weg, den wir vorab für den am unwahrscheinlichsten hielten. Auch für uns eine Überraschung! Eine, die sich auf einmal richtig und gut anfühlt:
Immer den Winden hinterher.

Manchmal findet man nicht das, wonach man gesucht hat.

Nach einem ausgedehnten Frühstück, nach dem Fertigstellen des allerersten Schals in der gestrigen Nacht, sind wir mit vollen Bäuchen soweit: heute geht’s auf Vielfraßsuche!

Wenn nicht hier, wo dann sollten sich die hundert Bärenmarder Finnlands befinden: im tiefen, wuchernden Dickicht nahe der russischen Grenze. Nicht mehr am Rande der Taiga – sondern bereits ganz tief mittendrin.
Wohlen Mutes, dass wir sie finden werden, stapfen wir los. Weil Gleiches sich gern mit Gleichem gesellt, werden die Gierlinge schon zu uns kommen.

Der Wanderweg startet gleich hinter unserem Camp. Minimal ausgetreten, drängt sich der dichte Wald bereits jetzt sehr nahe an uns heran. Dies hier ist ein gänzlich anderer Forst als der, den ich vor zwei Tagen alleine durchlaufen bin. In einem Wald wie diesen würde ich alleine nicht einen Schritt wagen. Weil in dichten, undurchsichtigen Wäldern wie diesen schaurige Märchen ihren Ursprung haben. Auch russische.

Aus Wanderweg –minimal ausgetreten—wird schnell Stegpfad: ein schwindender.

Und auch der ist bald weg. Wir rutschen über glitschige Baumwurzeln im Unterholz, auf weichem Moos, das so tief nachgibt, dass ich bereits nach fünf Minuten bis zum Knöchel in den feuchten, nachgiebigen Boden sinke.

Nach einer Viertelstunde spuckt uns der boreale Nadelwald am Ufer des Verbindungsflusses zwischen „unserem“ See und dem Lentua aus. Weiter müssen wir über eine sich auflösende finnische Brücke, deren Bohlen vielleicht vor Äonen mal intakt waren. Was übrig blieb sind dicke Steine, jeder zweite davon wackelig. Ein Knöchelwupper wie er nur in schaurigen Märchenbüchern zu finden ist.

Wieder passieren wir dichtes Dickicht. Eine Hütte im Nichts, vor deren schütternen Schuppen ein Schlitten aus den 70ern auf die Kinder von damals wartet. Eine Bärenskulptur mit Fisch, die in einem endlosen Winter mit blauen Fingern geschnitzt wurde, wartend unter einem Elchgeweih auf den zahnlosen Aussteiger, dem die Welt nichts mehr zu sagen hatte.

Im Hintergrund das wütende Rauschen von Stromschnellen. Und der Knall des ersten Kampfjets am Himmel.

An den Lentuasee gelangen wir über Stege, die surreal neu aussehen. Woher auch immer die plötzlich herkommen mögen hinter diesen unbegangenen Pfaden, die eher Wildnis, denn Wanderwege sind.

Wir setzen uns und rasten und schauen den Enten dabei zu, wie sie sich die beginnenden Rapids runtertreiben lassen– aus reiner Freude am Leben. Ein bisschen quaken, sonst Stille.
Zwei Libellen –ineinander verkeilt— fliegen vorbei. Sie suchen lange den perfekten Platz zum Liebe machen und finden ihn nicht. Irgendwann lässt die hintere genervt ab und fliegt kopfschüttelnd und alleine in Richtung Seemitte davon. Das passiert, wenn man zu lange zögert. Eine zerbrochene Liebe im Nirgendwo. Obwohl es so vielversprechend angefangen hatte.

In all der Stille und Naturharmonie knallt es plötzlich wieder. Und wieder. Und noch einmal.
Es sind die nächsten Kampfflugzeuge, die viel zu tief über uns hinweg rauschen. Ein beklemmendes Geräusch, ein bedrückendes. Und auch ein vollkommen groteskes.
Mitten in diesen endlos wirkenden Frieden platzt plötzlich das Bewusstsein eines Kriegs, den das Land dreißig Kilometer weiter östlich grundlos vom Zaun gebrochen hat. Das allerharmloseste dessen, ist das sinnlose Säbelrasseln über uns.
Krieg. Warum tut der Mensch so etwas, wenn es augenscheinlich so unzumutbar für den Menschen ist!?

Wir schlagen uns weiter ins Dickicht vor. Die Pfade werden immer schmaler bis sie gänzlich verschwinden. Hinter dem Lentuasee warnte ein Schild: „Nature trail has been demolished.“ „Zerstört“ würden wir den Pfad nicht nennen – es gibt ihn ganz einfach nicht mehr. Den ersten Kilometer lassen wir uns davon noch nicht abschrecken.

Je tiefer wir in den Wald vordringen, desto stiller wird es.
Erst verschwindet das Rauschen des Wassers, dann der Vogelgesang. Als nächstes geben die Insekten das Summen auf und irgendwann ist selbst das letzte Rascheln der Nadeln im Wind weg. Auf einmal stehen wir mitten in einer geräuschlosen Wildnis ohne Pfad und plötzlich wird uns klar: wenn wir hier vom Vielfraß gefressen werden, wird niemals eine Menschenseele unsere Überreste mehr finden. Das ist der Zeitpunkt, an dem wir umdrehen.

Hinter der unbekannten Losung –auf dem Weg zurück in Richtung einziger Schotterstraße, die unsere Karte hergibt—begegnen wir nur einmal noch tierischem Leben in Form eines kolossalen Ameisenhaufens. Ein gigantischer Berg Arbeit! Hier ist es einfach mal an der Zeit, ein riesengroßes Lob auszusprechen, an all die fleißigen Arbeiterinnen, die emsig zu unseren Füßen kriechen. In dieser Einsamkeit bekommen sie zweifelsohne viel zu wenig Anerkennung für ihr großartiges Werk.

Einen Vielfraß sehen wir nicht. Genauso wenig wie die Braunbären, Luchse oder Wölfe. Wir eieren über die Brücke, die keine mehr ist, wieder nach Hause.

Zurück am Camp ist in der Zwischenzeit die Cholera und Zivilisation ausgebrochen. Direkt neben uns –rechts und links—sind andere Camper eingezogen: offensichtlich Kuschelcamper. Und die Campmama gibt uns Bescheid, dass wir ab heute bitte das Trinkwasser kochen sollen. Wegen einer kleinen Menge fieslicher E.Colis. Die Sonne scheint, 21 Grad im Schatten, die Kampfjets haben noch nichts abgeworfen.
Eine kleine Menge E.coli, sagen Sie?! Wenn´s weiter nix is….

Ich stürze mich in den See und lasse mich danach in der Hollywoodschaukel wiegend sonnentrocknen. Drei Männer poltern laut aus der Sauna hinter mir heraus: vollkommen blank, so wie Gott sie schuf.

Ich schließe die Augen und freue mich: über ihre Freiheit. Das nächste, das ich höre ist Platschen und Prusten, dann das Knacken von Dosenbier, einen herzbefreienden Rülpser und lautes Lachen. Die Finnen – haben keinerlei Verträge mit gar nix. Irgendwie beneidenswert.

Zum Abend gibt es veganes Gyros mit Paprika und Reis – gekocht auf der Mitte der Wiese des Camps, damit die Haare sonnentrocknen können.

Über dem ruhigen See geht die Sonne sanft unter. Sehnsüchtig schauen wir ihr auf dem Steg vor der Sauna hinterher.

Manchmal findet man nicht das, wonach man gesucht hat.
Heute, an diesem Donnerstag, wollten wir einen Vielfraß suchen – und haben einen Ameisenhaufen gefunden: ein Meisterwerk des Teamworks und der Beharrlichkeit.
Der Stille der Natur wollten wir lauschen – und haben Kriegsgeräusche vernommen: ein Symbol dafür, wie brüchig unser Frieden sein kann.
Manchmal findet man nicht das, wonach man gesucht hat, aber stößt auf etwas noch Zentraleres.
Dankbar möchte ich sein: für den Frieden, in dem wir leben dürfen.
Und dankbar möchte ich sein: für die Freiheit. Zu platschen, zu prusten, laut zu lachen.
Auch angezogen und ohne Dosenbier.

Vielfraß mit Michelinstern

Und wieder war es beim Zähneputzen – diesmal aber bei Chouchous Beißerchen:
„Chérie, komm schnell! Schnell!!!“
In dieser Nacht aber ist es kein einzelnes Licht, das einsam am Himmelzelt steht. In dieser Nacht ist es das gesamte Firmament, das in bunten Farben leuchtet. Aurora ist wieder da.

Ewig stehen wir in der stürmischen Kälte und können uns gar nicht sattsehen – an diesem Privatspektakel hoch oben über uns.
In sich ständig verändernden Formationen dreht sich grün um pink – mal als senkrechter Strahl, mal als satte Fläche, mal als waagerechtes Band.

Erst um zwei schaffen wir uns loszureißen gen ins Bett – mit Füßen wie Eiszapfen und beim Einschlafen denke ich:
Nie wieder werde ich darüber jammern, dass der Magicbus keine Nasszelle hat! Denn hätten wir uns über einem Verpasserwaschbecken bettfertig gemacht, wäre Aurora still an uns vorbei gezogen. Nie wieder also werde ich darüber stöhnen, dass der Magicbus kein Bad hat.

Vor uns liegen heute 170 Kilometer gen Osten. Über wellige Straßen und durch einen einzigen Ort namens Sotkamo, wo wir tanken.

Weiter bis es in Finnland nicht mehr geht: bis Kuhmo, dem angeblichen Tor zur wahren Wildnis Finnlands. Für Menschen, denen es bis hierhin noch nicht naturnah und verlassen genug war.
In Kuhmo selbst ist bereits der Hund begraben. Das anvisierte Naturinformationszentrum hat zu, ein paar rostanfällige Autos kurven zwischen Tanke und schneesicherem Schulgebäude umher. Im wohlsortierten S-Markt aber tummelt sich Mensch.
Mal wieder packen wir nur das Leckerste ein, der heutige Hit: eine Fetablätterteigtasche und undefinierbare Pfanneküchlein (vielleicht?!) aus dem Kühlregal.
An der Kasse steht ein älterer Herr mit einer Sammlung an Pfandbons hinter uns. Der Versuch ihn vorzulassen, löst allgemeine Irritationen aus. Irgendwann aber traut sich der Herr, sich still und leise vor unseren vollen Wagen zu schleichen. Und mich beschleicht auf einmal das ungute Gefühl, dass wir möglicherweise ein zu lautes Bohei gemacht haben bei einem unauffälligen Versuch, kurz vor Monatsende die Rente aufzubessern.

Fünfzehn Kilometer hinter dem Dorf –Richtung Urheilkukeskus und Russland– liegt der Nationalpark Luonnonsuojelualue.

Mit einem einzigen, verlassenen Camp, das von einer älteren Dame geführt wird, die nebenbei noch selbstgestrickte Socken verkauft.
Mein „Valitettavasti en puhu suomea!“ (=Leider spreche ich kein finnisch.) versteht sie auf Anhieb, eine gemeinsame Sprache haben wir damit nicht, auch wenn ihr Englisch einen Tick besser ist als mein finnisch. Einen Tick.
Mit Händen und Füßen verstehen wir aber auch so sehr schnell, was die Augen bereits sahen: der Platz ist vollkommen menschenleer. Und wir dürfen hier überall sein.

Über dem See nieselt es sich am Nachmittag etwas ein.
In Finnland macht das gar nix, weil in Finnland die nächste Sauna nie weit ist. In unserem Fall: nicht mal weit weg vom See. Genaugenommen knappe fünf Meter.
Die Campmama hackt Holz und heizt ein, schwitzen darf ich ganz alleine: zwischen dem Knistern von Holz, das wie Zunder brennt und dem Zischen des Aufgusses. Auf einem klassisch-finnischen Einmalsitzläppchen hockend frage ich mich, wie ich jemals eigentlich weiterleben soll – ohne Finnsauna und anschließendem Eisbad im kalten See!? Und der Heizkessel brodelt und ruft: „Nicht nachdenken. Komm Fußbad machen.“

Am Abend kocht Chouchou unter der sich plusternden Bergerplane.

Hungrig wartend in einem Wimmelbild, das sich „zu Hause“ nennt, gibt es genau zum richtigen Zeitpunkt beste vegane Chorizo-Hotdogs. Mit Liebe in der Pfanne gewendet vom begnadetsten Chefkoch östlich von Kuhmo, der diesen Schmaus mit einem Dessert aus Heidelbeeren und Quark abrundet.

Sicher ist: bis zur russischen Grenze kocht hier niemand besser.
Oder hast Du schon mal einen Vielfraß mit Michelinstern gesehen?

Nur für Wuzzlovers und Mushroom-maniacs — könnte Spuren von Pilzen enthalten

Ein müder Tag, an dem wir beide etwas angekränkelt sind. Chouchou geht schon seit gestern nicht gut und mir –rein stellvertretend– also mit. Weil wir nach fast eineinhalb Jahren wie ein Ei funktionieren. Ein Ei, dass heute ein besonders gesundes Frühstück bekommt; also: ich. Chouchou isst wie eh und je Nutellabrot.

Trotz aller Schlappigkeit aber hilft es nix: ich muss Gassi gehen. Und weil Chouchou der echte Kranke ist und ich nur eingebildet, darf er heute im Magicbus bleiben, während ich mich alleine in die finnischen Wälder schlage.

Es ist eine sehr spannende Erfahrung, sich ganz alleine in diesen Wäldern zu verlaufen. Hier, wo die große Taiga langsam beginnt, wo sich kein Mensch weit und breit mehr verliert.
Vier Kilometer laufe in den lichten Wald hinein, der –sehr erstaunlich—überhaupt keine Angst macht. Weil ich mich ganz und gar nicht alleine fühle.
Der Wind in den Baumwipfeln leistet mir akkustisch Gesellschaft, genauso wie die Spechte, die mit Nachdruck an ihren Baumhöhlen kloppen.

Armeen von Termiten bauen sich große Paläste, während ich langsam vorüber schlendere und in einer kleinen Höhle abseits des Pfads piept´s.

Pilze, Moose und Beeren überall – in dieser Vielfalt kann man nicht einsam sein.

Je tiefer ich komme, desto wohler fühle ich mich. In dieser Herzensheimat, die sich Wald nennt.
Ich wandere am einsamen Waldsee Särkinen vorbei, in dem ein Reiher verschreckt das Weite sucht, als er mich anhoppeln hört. Genauso wie sein Compagnion: der große Raubvogel, der soeben fette Beute geschlagen hat.
Durch die Bäume hinweg getaucht und zwanzig Minuten später folgt das Moor, umarmt von weißen Flechten, auf denen rote Preiselbeeren wie kleine Alarmknöpfchen thronen.

Ich werfe mich ins Moos, um die perfekten Pilze zu fotografieren –mushroom maniac–und kein geduldiger Chouchou, der warten muss, bis ich endlich fertig habe.

Nach weiteren 30 Minuten taucht ein Tümpel ohne Namen zwischen den Bäumen auf. Auf den Stegen gelange ich bis ans Ufer und raste.

Zwei Schwäne keifen schimpfend in den Wind – ein Geräusch, das so gar nicht zu ihrem eleganten Gleiten auf dem Wasser passt. Eine kleine Libelle fliegt vorüber.

Harmonie…bis ich mich fast zu Tode erschrecke!
Aus dem absoluten Nichts reißt plötzlich ein Überschallknall die Waldsymphonie mit einem Donnerschlag auseinander. Mein Herzklopfen aber hört hier niemand. Und als ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, lautet dieser: 140 Kilometer bis zur russischen Grenze. Wie gut, dass Finnland letztes Jahr der NATO beigetreten ist.

Nach drei Stunden bin ich wieder am Magicbus. Chouchou geht es etwas besser.
Unser Pizzawunsch scheitert, weil die Campingküche dicht hat, also gibt es Nudeln.
Wir quatschen über die Fragilität der Demokratie, lesen über BitCoins, hören einen Podcast über Tiefseemeeresbiologie, filmen einen NATO-Flieger inklusive echtem Geist, stricken Rechtsmaschen und duschen heiß. Dem Lesenden darf überlassen sein zu raten, wer von uns beiden was macht.

Ein stürmisch sonniger Herbsttag in Finnland…

…ganz im Zeichen der Rekonvaleszenz –dessen flammender Sonnenuntergang auf den Kämmen der Wellen ans Ufer gespült wird.

So, als hätten sie einen Goldrand.

Rennen durch den finnischen Wald

Das heutige Tagebuch ist fix getippt.
Nach einem zehnstündigen Sturmschlaf für Fortgeschrittene gibt es Frühstück so spät und üppig, dass man eher von Brunchen sprechen muss. Mit Kresse und Ei, Blaubeeren auf Vanillequark, Nutella auf dem letzten norwegischen Superbrot für Chouchou und Avocado für mich. Leider passt die vegane Kaviarpaste nicht mehr rein. Und der Sekt, den wir nicht haben.

Danach folgt Rennen durch den finnischen Wald.
Acht Kilometer lang unter meditativ gleichförmigen Bäumen hindurch. Die hiesigen Preisel- und Blaubeeren, Moose und Pilze haben schon lange keine Wandersleut mehr gesehen, wir sind vollkommen alleine unterwegs bis zur Inselspitze.

Dort brennt im perfekten deluxe-Shelter ein Lagerfeuer. Frisch aufgelegt und kein Mensch in Sichtweite. Ein bisschen unheimlich ist das schon. Aber toll.

Das Rätsel, wer denn nun der ominöse Feuerteufel war, löst sich nach zehn Minuten ganz von selbst.
Zwei Finnen mit zwei Golden Retrievern kriechen aus dem Gebüsch. Sie sind die Firestarter, die jetzt Würstchen auspacken. Wo auch immer sie herkommen, bleibt es so trotz allem weniger mystisch. Wir nämlich hatten schon wieder die Trolle in Verdacht.

Am Steilufer der Insel treten wir den Rückweg an, nachdem wir ein undeutbares Schild nicht deuten.

Entlang zahlreicher entwurzelter Bäume, die der Sturm in Richtung Landesinnere gefällt hat. Fassungslose Baumwurzeln, die sich haltlos wie ein stummer Vorwurf gen See strecken.

„Jätä puut seisomaan!“ (Lass die Bäume stehen.) Auch sie hat der Wind anscheinend nicht verstanden. Erodierend-bröselnder Uferweg, eine Hürdenhopsetappe.

Zurück am Magicbus knurren die Hopsemägen. Also muss ein essbares, finnisches Allerlei her. Als Vorspeise gibt es Gurkiisaalat, zum Hauptgang Linsensuppe à la Konserve.

Beides reines Vorgeplänkel für den wahren Star des Abends: das Dessert.
Nachdem wir nach wochenlanger Suche endlich fündig wurden, präsentieren die Globetrottels ihren Bäuchen den nordfinnischsten Nachtisch aller: Leipäjuusto mit Moltebeermarmelade.
= Gebratener Brotkäse mit der lediglich wild wuchernden Nordbeere, die nur zwischen dem 54. und 78. Breitengrad wächst. Ein Genuss, der quietscht beim reinbeißen.

Bevor es in die heiße Dusche geht, geht es einfach nicht anders: es muss einmal im kleinen See gedippt werden.
Ein Platsch in tiefschwarzes Wasser, das ein Assoziationsfest für jeden Phantasiebegabten darstellt. Ich traue mich nicht einen einzigen Meter hinauszuschwimmen und bin trotzdem frisch wie Bolle danach.

Mittlerweile geht die Sonne wieder unter. Jeden Tag früher, und jede Nacht wirkt dunkler denn je zuvor.
Um halb neun dippt auch die Sonne in den See – allerdings den großen.

Der Herbst kommt in großen Schritten. Es werden nicht mehr viele Nächte sein, in denen ich mein Augenkläppchen brauche…

Mit den Polarlichtern zurück nach Finnland

Und dann waren sie plötzlich da! Auf dem Weg zurück vom Zähneputzen, kurz vor Mitternacht.
Erst ein sanfter Wirbel, der sich schlierenartig über den Himmel zog – fast grau. Und der dann wie ein Chamäleon seine Farbe änderte in ein sattes, magisches Grün:
Polarlichter!

Vor entrückter Ehrfurcht weiß ich gar nicht, wohin mit mir. Zeuge zu werden von etwas so Großem, von etwas so Unbegreifbaren.
Als würde sich –für einen klitzekleinen Moment—ein Fenster in Richtung Unendlichkeit öffnen. Als würde das große Ganze uns für einen Augenblick kosten lassen von seiner Allmächtigkeit. Als würde man einen Wimpernschlag lang den Blick werfen dürfen in die Ewigkeit des Universums. Als wäre unsere Vergänglichkeit nur eine Illusion.
Und als ich des Nachts raus muss –es ist gegen halb drei—höre ich Kinderlachen.

Der Abschied aus Rörbäck fällt uns am Morgen nicht leicht. Auch wenn das Wetter es uns etwas einfacher macht. Der Himmel weint mal wieder.
Beim herzigen Adieu treffen wir die Frau des Charmanten. Und es freut mich immer so sehr, wenn man die Partner von liebenswerten Menschen trifft und spürt, dass diese ganz genauso reizend sind wie ihr Herzensmensch. Zu wissen, dass zwei Richtige sich getroffen haben, macht mich stellvertretend glücklich.

Nach einem Einkauf (Vorrats-Toscabullar) passieren wir die finnische Grenze und es bleibt verrückt, dass wir just ab diesem Moment –genau wie beim letzten Mal–keinerlei ausländische Autos mehr sehen.
Während Norwegen –allen voran die Lofoten—in fester Hand deutscher Touristen ist, werden es in Schweden schon weniger und in Finnland sind sie gänzlich fort.

Warum auch immer niemand hier her fährt? Unsere Herzchen voller Finnlandliebe können es in keinster Weise nachvollziehen.

Wir rollen durch ein Dorf namens „II“. Nicht wissend, ob es sich nun um „i-i“ oder „el-el“ oder „i-el“ oder „el-i“ handelt.

Weiter in Richtung Oulu: der nördlichsten Großstadt der EU, bekannt für „ausgeprägte Wellnesskultur“, die Luftgitarrenweltmeisterschaft und den schreienden Männerchor „Mieskuoro Huutajat“, deren Mitglieder nicht singen, sondern brüllen.

Kurz dahinter, beim Ölcheckstop im Nichts, schleicht sich ein finnisches Paar an uns heran. Zahnlos und neugierig, hängen sie sich gemeinsam mit uns in den Motorraum, um das Öl zu prüfen. Wild gestikulierend, weil wir keine einheitliche Sprache haben und durchaus verbunden: Menschen unterwegs in Schrottautos. Sie zuckeln genauso zögerlich von dannen, wie auch wir mit unserem Magicbus immer starten.

Die Straßen werden kleiner, die Wälder dichter. Irgendwann biegen wir rechts ab auf eine wellige Piste, deren Asphalt deutlich bessere Zeiten gesehen hat, in Richtung der Binneninsel Manamansalo. Hier wollen wir ein paar Tage bleiben.

Beim Einchecken ins Camp möchte ich meinen zwei Stunden lang geprobten finnischen Satz testen: „Leider spreche ich kein finnisch. Darf ich englisch sprechen?“
Heißt auf finnisch: „Valitettavasti en puhu suomea. Osaanko puhua englantia?“ Und scheitere gnadenlos. Betretenes Schweigen auf allen Seiten. Die Campeltern wissen nun zumindest, dass die einzigen Gäste auf dem Platz ziemliche Vollhonks sind. Einen Platz dürfen wir uns trotzdem aussuchen.

Zwischen schlanken, hohen Bäumen parken wir ein. Wenn man sich streckt, kann man vor hier aus den See sehen.
Ein Buntspecht arbeitet hart, ein paar Bachstelzen kommen vorbei, der Wind pfeift mächtig in den Baumwipfeln, die Sonne fächert sich fingerig über dem Wasser auf.

In der Nacht hören wir dem Sturm zu. Es scheint derjenige zu sein, der hier das Sagen hat.
Wir liegen mucksmäuschenstill in unserem Dachzelt und ich traue mich nicht zu rufen: „Bitte lass die Bäume stehen!“ Heißt auf finnisch:“Jätä puut seisomaan!“;
wissend, dass er mich eh nicht verstehen wird.

Ein Herz für den Polarkreis

Im usseligsten Wetter, das die Welt je gesehen hat werden wir wach. So eingeregnet wie an diesem Morgen war es auf der gesamten Reise noch nie. Wir tragen den Regen hinein. Nach den ersten Kaffees ist der gesamte Innenraum des Magicbus feucht und kühl, als hätte man draußen im peitschenden Regen einen Sturmkocher bedient.
Durch tiefe Pfützen zur Pitstoilette hüpfen, auf denen ein Ölregenbogen träumt.

Kiruna.
Sieht genauso aus, wie man sich eine Eisenerzcity über dem Polarkreis so verstellt.

Der Großteil der Stadt liegt unter einem dichten Nebel, der sich ausweint.
Wir rollen durch das neue Viertel, das bereits versetzt wurde. Bunte Reihenhäuser kämpfen gegen graue Tristesse. Ein Bande schwarzer Vögel im Dunst, vor der neuen Aurora-Bibliothek lungern Taubenskulpturen herum und warten auf ein Futter, das nie kommen wird.

Sehr viel Industrie im Nebel, versteckt hinter einem neugebauten Hotel. Man kann ihn nicht verschleiern: den Geruch von gewaltsamer Penetration der Erde im kalten Regen.

Den anvisierten Mekonomen — Schwedens SupergünstigAutoteilemarkt— finden wir selbst im dritten Anlauf nicht. Stattdessen erstehen wir im Industriegebiet bestes (und doppelt so teures) LiquidMoli-Öl und verbuchen es als Wellnesseinheit für den Magicbus.

Im ICA tun wir das, was wir bereits im REMO1000 gestern in Norwegen taten: unsere liebsten Leckrigkeiten, die es sonst nirgendwo gibt, in den Wagen zu packen. In Schweden sind das Himbeersnusis, rote Currynudeln, perfekt geschmierte Knäckebrote, vegane Kaviarpaste in der Tube und Toscabullar.

Toscabullar: der ultimative Gebäcktraum! Zarte Mandel auf weichem Vanilleteig, am Gaumen zerdrückbar und trotzdem knusprig. Ein Seelentröster par excellence, der klebt wie Hölle. Gut, dass der ICA auch feuchte Tücher im Angebot hat.

Bei Abfahrt kreischt der Keilriemen herzzerreißend. Und fängt sich dann doch wieder. Wie schade, dass der Magicbus statt Zahnriemen keine Zähne hat. Zum Trost hätte auch er jetzt ein Toscabullar verdient.

Wir rollen durch den Herbst. Die Bäume sind mittlerweile gelblich. Endlose Straße immer geradeaus, straight in Richtung Osten. Links ein Eishotel, das noch keine Contenance angenommen hat, rechts diverse Angebote für Huskyschlittentouren, die momentan genauso im Spätsommerschlaf liegen.

Wunderschöne, entspannte Straße: die Tannen grün, die Laubbäume gelb. Obwohl wir noch immer über dem Polarkreis cruisen, fühlt sich die Welt auf dieser Seite deutlich hyggeliger als in Norwegen an. Beruhigender, weniger aufgeregt, gemütlicher. Vielleicht ist diese Umgebung für Gemüter, die von Natur aus schon aufgeregt genug sind, einfach heilsamer!?
Weniger bombastisch. Passt besser zu uns.

Was dazu allerdings so gar nicht passt, ist das Weltuntergangswetter vom Feinsten, dass hinter Gällivare auf uns hinunterprasselt. Bis hierhin war es ungemütlich, jetzt wird es apokalyptisch.
Die Pfützenschwapper von der Gegenfahrbahn knallen wie Geschosse auf unsere Windschutzscheibe. Die Straße fließt, wir schwimmen auf einer Aquaplaningvorzeigespur.
Man muss kein großes Herz haben, um hier für Schutzhütten eigens für Elche zu plädieren. Es wäre dringend an der Zeit für eine Petition.

Polarkreis.
Im strömenden Regen rollen wir hinüber – diesmal in Richtung niedrigerer Gefilde. Dass ich bei der Überquerung vor vier Wochen in Richtung Norden ein kurzes, blaues Kleid trug, lässt sich in diesem Moment kaum glauben.

Genauso wenig glaubwürdig wirkt der Szenenwechsel, der uns keine fünfzig Kilometer später erwartet. Über dem scharfen Wind lässt sich plötzlich die Sonne blicken.
Weitere fünfzig Kilometer und ich spiele mit dem Gedanken, das kurze Blaue wieder rauszukramen.

Weil es auf der Strecke liegt und weil Rörbäck ein so guter Ort für uns war, wollen wir für eine Nacht wieder an der Bottenwieck halten. Wie vor vier Wochen, als es Zeit war dösende Robbe auf den Felsen im Meer zu spielen.
Der charmante Mensch von damals ist wieder da. Diesmal sagt er nicht: „Ihr kommt mir irgendwie bekannt vor,“ diesmal ist sofort klar, dass wir einander kennen. Auch das: ein Wunderschönes, ein Heimkehrgefühl. Auch das: ein Merkmal für diesen herzenswarmen Ort.
Leider können wir uns heute nicht zu den Zelten gesellen, da wir dringend die austrocknende Heizung, ergo Strom, brauchen. Den gibt es nur bei den „Dickschiffen an Weißware“, wie Chouchou die normalen Wohnmobile nennt. Aber auch hier lässt es sich prima sein.

Während das Dorf heute seinen Surströmming (durch Milchsäure konservierter Fisch, der angeblich so intensiv faulig stinkt, dass einer deutschen Mieterin nach mutwilligem Öffnen einer Dose im Treppenhaus 1981 die Wohnung fristlos gekündigt wurde – laut Gericht zu Recht) zelebriert und verputzt, gibt es für uns olfaktorische Feiglinge eine riesige Portion Bolognese „sin carne“ – sturmgekocht.

Über dem Camp geht ein riesengroßer Halbmond auf, während auf der anderen Seite dieser Minihalbinsel langsam die Sonne untergeht. Der Robbenfelsen liegt verlassen da. Genauso wie der Strand davor.
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In zwei Tagen sind wir vom nördlichen Westen Norwegens über die Berge bis in den nördlichen Osten Schwedens gefahren. Um noch einmal das letzte Stückchen unsalzige Ostsee zu erleben.
Weil es magischer Orte nie genug sein kann. Und: Weil wir hier –wenn man ganz genau schaut– unseren persönlichen Polarkreis angemessen schließen: in Herzform.

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Vanlife und frei stehen in der Nicht-Instagram-Version

Beim ersten Öffnen der Magicbustür peitscht uns eiskalter Nieselregen ins Gesicht. Dusche: erledigt!
Der Himmel macht heute Morgen wahr, was die Wettervorhersage seit Tagen gedroht hat: der Sommer über dem Polarkreis ist ein für alle Mal vorüber.
Nachdem wir gestern lange überlegten, wie es heute für uns weiter geht, sehen wir den kühlen Sprüh – der ungehemmt unter den Pulli und durch die Hose kriecht– als Unterstrich, als Ausrufezeichen! Auch für uns ist es an der Zeit, Abschied zu nehmen vom hohen Norden.

Ein Tag zum Strecke machen. Vorbei an den Schäfchen, geht´s über die Hälfte der Lofoten zurück in Richtung Osten. Von dieser Seite wirkt diese unwirkliche Welt fast noch magischer als bei der Anfahrt.

Vielleicht, weil der Regen von höher fällt?! Und vielleicht auch, weil wir wissen, dass dies unsere letzten Fjorde der Reise sein werden. Ein 200 Kilometer Goodbye.

Bevor wir Norwegen verlassen, gönnen wir uns einen letzten REMO1000-Einkauf. Im Wagen landen die besonderen Leckrigkeiten, die es ansonsten nirgendwo gibt. Eine letzte Freya ApfelsinenSalz-Schokolade, eine bis oben hin gefüllte Bunte Tüte mit veganen, palmölfreien Regenbogenweingummis, das beste Instant-TikkaMasala der Welt – mit indischem Geist in der Flasche. Wer sie öffnet, wird unverzüglich mitten hinein katapultiert ins pulsierende Zentrum Mumbais.

Nach den Fjorden folgt letztes, norwegisches Fjell. Mal wieder ist es an der Zeit, dass der Magicbus sich –verächtlich kühlwasservernichtend– die Berge hinaufackern muss. Hoch, hoch bis auf den Pass.
Wir sind wieder in Schweden.

Feinste Bergwelt empfängt uns. Wir rollen an Gestrüpp und Gestein vorbei. Am Himmel stehen wilde Wolken und kalter Wind, der an den Farnen zerrt. Bis zu Chouchous Sehnsuchtsort Abisko ist es nicht mehr sehr weit. Hier endet der nördliche Kungsleden – in einem rauen, kargen Bergtraum. Ein Traum, den wir unerfüllt mitnehmen werden. Denn leider ist es für zartbesaitete Globetrottels hier oben mittlerweile zu nass und zu kalt, als dass wir uns für ein paar Tage einsam ins Fjell stürzen wollten. Ein guter Grund, um irgendwann noch einmal wieder zu kommen. In einem Hochsommer.

Über 400 Kilometer rollen wir so daher – mit einem Herz voller Träume – bis kurz vor Kiruna. Eine Stadt, die mittlerweile drei Kilometer nach Osten umgezogen werden muss, da der Boden durch exzessiven Erzabbau gnadenlos absackt und die Stadt zu versinken droht.

Für die Nacht halten wir an einem Parkplatz nahe der E10. Im hippen „vanlife“ würde man wohl von „frei stehen“ sprechen. Das klingt um so vieles besser und abenteuerlicher als das, was es schlussendlich ist: neben dicken WoMos auf einem Rastplatz mit Pitstoiletten nahe der Hauptstrasse zu übernachten.

Endlose Güterzüge beladen mit Eisenerz rattern geräuschvoll vorbei, der Verkehr zwischen Schweden und Norwegen fließt zwischen vergessenen Bahnhöfen.

Ein leichter, kalter Niesel fällt von West, er tropft auf zwei Globetrottels, die als einzige draußen ihr Essen kochen, bevor sie durch den Schauer zu den Pitstoiletten eilen.
Thermounterbuxen an, ein Deckchen um die Schultern gegen die eisige Kälte, die ohne Erbarmen über die Berge kriecht. Um so lange wie möglich Heizung zu sparen, weil die ausgelatschte Magicbusbatterie nicht mehr viel hergibt.
Heute Nacht wird mit Oropax geschlafen (gegen die Züge) und Mütze (gegen die Kälte), nachdem wir uns mit dem eingeteilten Wasser aus unserem Wasserkanister gewaschen und die Zähne geputzt haben.
„Vanlife“ und „frei stehen“ – in der Nicht-Instagram-Version.

Für Henning, die lofotische Begleithummel

Der einzige sonnige Tag für Wochen brennt uns aus den Federn. Um acht steht die Sonne bereits hoch.
Aufgestanden! Es ist an der Zeit, diesen einen Tag Leben auf den Lofoten zu leben.

Kaffee auf dem Hügelchen am Meer mit Rundumsicht. Ein leichter Wind bläst freundlich, er treibt den letzten Sommertag über dem Polarkreis weich wehend vor sich her.

Frühstück gibt es erst spät. Dafür aber mit allem Zick und Zack. Zuckerzufuhr für den sportlichen Teil des Tages.

Kurz vor Mittag ist es endlich mal wieder Zeit für Das Bøøt. Viel zu lange liegt es schon geduldig wartend im Kofferraum. Noch nie hat es Norwegen gesehen. Sein letzter Einsatz auf dem Vildmarksvägen in Schweden. Vor gefühlten Ewigkeiten. Zu lang her.

Das Aufpusten läuft erwartungsvorfreudig zackig: innerhalb von 10 Minuten sind wir drei startklar. Und der Magicbus ist froh, dass er ausnahmsweise heute mal nicht dran ist. Dass er den Aktivitätsdrang abgeben kann an halbstarkes Gummi ohne Salzwassererfahrung.

Auf dem Fjord ist es windiger als man auf Land vermutet. Unter uns blauklares Wasser, von dem wir gar nicht wissen wollen, was alles darin schwimmt, wie tief es schlussendlich wird und welche Einwohner potentiell nach uns schnappen könnten. Wohlwissend, dass das nach uns greifende Seegras womöglich das harmloseste von allen ist.

Gegen den Wind paddeln wir in Richtung Miniinsel – sehr viel langsamer und mit deutlich mehr Muskelkraft als erwartet. Sehr schnell merken wir: Dies hier ist gänzlich anderes Paddeln als auf einem schwedischen See. Mit Böen von vorne und unsichtbaren Strömungen von unten, die Männchen mit uns spielen könnten – wenn sie es denn wollten.

Heute aber will das keiner: Njörd –nordischer Gott des Meers und der Winde– sei Dank. Weder Wind, noch Wasser oder Meeresgetier greift nach uns. Nur eine Hummel weicht uns nicht von der Seite. Ohne sie „bodyshamen“ zu wollen muss man ehrlich sagen: sie ist sehr, sehr dick. Henning, unsere Begleithummel.
Wir treiben von rechts nach links, zwei vor, drei zurück. Das Bøøt dreht sich in Richtungen, die unerklärlich sind für uns: erstaunte Wesen an der Wasseroberfläche.
Es macht Spaß – auf einem Meer, das selbst an freundlichen, zarten Tagen wie diesen keinerlei Zweifel daran lässt, dass mit ihm niemals zu spaßen ist. Eine sehr aufregende Sache.

Nach drei Kilometern (Chouchou meint „bergauf“), wollen wir unser nautisches Anfängerglück nicht weiter herausfordern. Und sind trotz allem bändig happy: die Globetrottels sind auf dem Polarmeer gepaddelt!
Pustekajak auf den Lofoten fahren – das hätte zweifelsohne auf unserer Bucketlist stehen können. Wenn wir denn eine hätten.

Der Nachmittag vergeht mit Maschen und Meerblick, Reality-Filmchen schneiden und Science fiction lesen. Um vier ist der perfekte Zeitpunkt für Fjorddip. Danach gibt’s lange, heiße Dusche für umme.

Kochen im letzten Sommersonnenschein. Es gibt Blumenkohl und Tikka Masala. Großes Seelenessen in reichlicher Menge.

Beim Zusammenfalten von Das Bøøt krabbelt plötzlich die dicke Hummel auf halbstarkem Gummi (jetzt mit Salzwassererfahrung!) vorbei. Fast hätten wir ihn mit eingerollt: Henning, die Begleithummel.
Vollkommen entkräftet von der Reise auf hoher See, bewegt er sich keinen Zentimeter, sondern tastet nur noch lethargisch mit dem Rüsselchen umher. Vollkommen fix und fertig.
Ganz sachte helfen wir Henning erst einmal runter von Das Bøøt. Wir betten ihn auf den Tisch und überlegen, wie wir ihm am besten helfen können. Ein Hummelsanatorium muss her!
Aus einem Zewa errichten wir den Zauberberg. Henning thront müde auf dem Gipfel und interessiert sich initial noch wenig für das, was um ihn herum passiert.

Zu Hennings Linken gießen wir einen Nektarsee (aus Agavendicksaft), zu seiner Rechten entsteht ein frischer Pool (Quellwasser angerichtet in einem Flaschendeckel).
Nach vier Minuten beginnt Henning mit seinem Rüssel vorsichtig nach dem Nektarsee zu tasten. Leider ist er etwas ungeschickt dabei. Nachdem er den Saft für gut befunden hat, tapst er vor lauter Gier mit all seinen dicken Hummelfüßen mitten hinein und klebt danach am Zauberberg fest. Mensch Henning.
Als nächstes also muss gebadet werden.
Mit der Stricknadel löse ich Hennings klebrigen Fuß und tauche ihn in den Flaschendeckelpool. Henning beginnt sich zu putzen, indem er ins Wasser taucht und sich dann genüsslich die dicken Hummelzehen leckt.
Nach dem Wellnessbad (es dauert ewig!) erneuern wir das Poolwasser. Henning soll jetzt Zeit haben, sich vollkommen zu relaxen.

Ich setze mich auf den Chefplatz mit Blick übers Fjord und beginne, diesen Tag zu tippen. Ein paar Austernfischer fliegen krächzend vorbei, bevor sie sich kamikazeähnlich ins Wasser stürzen.
Ich schreibe von unserem letzten Tag am norwegischen Polarmeer. Ein Bilderbuchtag, der besser nicht hätte sein können.

Zurück am Magicbus will ich nach Hennings Gesundheitszustand schauen.
Aber der Zauberberg liegt verlassen da.
Der Nektar aufgeschlabbert, der Pool halbleer, von Henning keine Spur mehr weit und breit.
Und ich!? Ich könnte glücklicher nicht sein.
Wissend, dass dieser Tag zu Ende geht mit nicht einer Hummel weniger dort draußen.
Weil Henning eines dieser Rädchen im großen Ganzen ist, auf das es ankommt. Weil er den Unterschied macht.
Weil Henning dieser eine ist, auf den wir niemals –nie!– verzichten können.
Genauso wie Du.

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