Nach einem ausgedehnten Frühstück, nach dem Fertigstellen des allerersten Schals in der gestrigen Nacht, sind wir mit vollen Bäuchen soweit: heute geht’s auf Vielfraßsuche!


Wenn nicht hier, wo dann sollten sich die hundert Bärenmarder Finnlands befinden: im tiefen, wuchernden Dickicht nahe der russischen Grenze. Nicht mehr am Rande der Taiga – sondern bereits ganz tief mittendrin.
Wohlen Mutes, dass wir sie finden werden, stapfen wir los. Weil Gleiches sich gern mit Gleichem gesellt, werden die Gierlinge schon zu uns kommen.
Der Wanderweg startet gleich hinter unserem Camp. Minimal ausgetreten, drängt sich der dichte Wald bereits jetzt sehr nahe an uns heran. Dies hier ist ein gänzlich anderer Forst als der, den ich vor zwei Tagen alleine durchlaufen bin. In einem Wald wie diesen würde ich alleine nicht einen Schritt wagen. Weil in dichten, undurchsichtigen Wäldern wie diesen schaurige Märchen ihren Ursprung haben. Auch russische.
Aus Wanderweg –minimal ausgetreten—wird schnell Stegpfad: ein schwindender.

Und auch der ist bald weg. Wir rutschen über glitschige Baumwurzeln im Unterholz, auf weichem Moos, das so tief nachgibt, dass ich bereits nach fünf Minuten bis zum Knöchel in den feuchten, nachgiebigen Boden sinke.

Nach einer Viertelstunde spuckt uns der boreale Nadelwald am Ufer des Verbindungsflusses zwischen „unserem“ See und dem Lentua aus. Weiter müssen wir über eine sich auflösende finnische Brücke, deren Bohlen vielleicht vor Äonen mal intakt waren. Was übrig blieb sind dicke Steine, jeder zweite davon wackelig. Ein Knöchelwupper wie er nur in schaurigen Märchenbüchern zu finden ist.

Wieder passieren wir dichtes Dickicht. Eine Hütte im Nichts, vor deren schütternen Schuppen ein Schlitten aus den 70ern auf die Kinder von damals wartet. Eine Bärenskulptur mit Fisch, die in einem endlosen Winter mit blauen Fingern geschnitzt wurde, wartend unter einem Elchgeweih auf den zahnlosen Aussteiger, dem die Welt nichts mehr zu sagen hatte.


Im Hintergrund das wütende Rauschen von Stromschnellen. Und der Knall des ersten Kampfjets am Himmel.
An den Lentuasee gelangen wir über Stege, die surreal neu aussehen. Woher auch immer die plötzlich herkommen mögen hinter diesen unbegangenen Pfaden, die eher Wildnis, denn Wanderwege sind.


Wir setzen uns und rasten und schauen den Enten dabei zu, wie sie sich die beginnenden Rapids runtertreiben lassen– aus reiner Freude am Leben. Ein bisschen quaken, sonst Stille.
Zwei Libellen –ineinander verkeilt— fliegen vorbei. Sie suchen lange den perfekten Platz zum Liebe machen und finden ihn nicht. Irgendwann lässt die hintere genervt ab und fliegt kopfschüttelnd und alleine in Richtung Seemitte davon. Das passiert, wenn man zu lange zögert. Eine zerbrochene Liebe im Nirgendwo. Obwohl es so vielversprechend angefangen hatte.
In all der Stille und Naturharmonie knallt es plötzlich wieder. Und wieder. Und noch einmal.
Es sind die nächsten Kampfflugzeuge, die viel zu tief über uns hinweg rauschen. Ein beklemmendes Geräusch, ein bedrückendes. Und auch ein vollkommen groteskes.
Mitten in diesen endlos wirkenden Frieden platzt plötzlich das Bewusstsein eines Kriegs, den das Land dreißig Kilometer weiter östlich grundlos vom Zaun gebrochen hat. Das allerharmloseste dessen, ist das sinnlose Säbelrasseln über uns.
Krieg. Warum tut der Mensch so etwas, wenn es augenscheinlich so unzumutbar für den Menschen ist!?
Wir schlagen uns weiter ins Dickicht vor. Die Pfade werden immer schmaler bis sie gänzlich verschwinden. Hinter dem Lentuasee warnte ein Schild: „Nature trail has been demolished.“ „Zerstört“ würden wir den Pfad nicht nennen – es gibt ihn ganz einfach nicht mehr. Den ersten Kilometer lassen wir uns davon noch nicht abschrecken.

Je tiefer wir in den Wald vordringen, desto stiller wird es.
Erst verschwindet das Rauschen des Wassers, dann der Vogelgesang. Als nächstes geben die Insekten das Summen auf und irgendwann ist selbst das letzte Rascheln der Nadeln im Wind weg. Auf einmal stehen wir mitten in einer geräuschlosen Wildnis ohne Pfad und plötzlich wird uns klar: wenn wir hier vom Vielfraß gefressen werden, wird niemals eine Menschenseele unsere Überreste mehr finden. Das ist der Zeitpunkt, an dem wir umdrehen.

Hinter der unbekannten Losung –auf dem Weg zurück in Richtung einziger Schotterstraße, die unsere Karte hergibt—begegnen wir nur einmal noch tierischem Leben in Form eines kolossalen Ameisenhaufens. Ein gigantischer Berg Arbeit! Hier ist es einfach mal an der Zeit, ein riesengroßes Lob auszusprechen, an all die fleißigen Arbeiterinnen, die emsig zu unseren Füßen kriechen. In dieser Einsamkeit bekommen sie zweifelsohne viel zu wenig Anerkennung für ihr großartiges Werk.

Einen Vielfraß sehen wir nicht. Genauso wenig wie die Braunbären, Luchse oder Wölfe. Wir eieren über die Brücke, die keine mehr ist, wieder nach Hause.

Zurück am Camp ist in der Zwischenzeit die Cholera und Zivilisation ausgebrochen. Direkt neben uns –rechts und links—sind andere Camper eingezogen: offensichtlich Kuschelcamper. Und die Campmama gibt uns Bescheid, dass wir ab heute bitte das Trinkwasser kochen sollen. Wegen einer kleinen Menge fieslicher E.Colis. Die Sonne scheint, 21 Grad im Schatten, die Kampfjets haben noch nichts abgeworfen.
Eine kleine Menge E.coli, sagen Sie?! Wenn´s weiter nix is….
Ich stürze mich in den See und lasse mich danach in der Hollywoodschaukel wiegend sonnentrocknen. Drei Männer poltern laut aus der Sauna hinter mir heraus: vollkommen blank, so wie Gott sie schuf.

Ich schließe die Augen und freue mich: über ihre Freiheit. Das nächste, das ich höre ist Platschen und Prusten, dann das Knacken von Dosenbier, einen herzbefreienden Rülpser und lautes Lachen. Die Finnen – haben keinerlei Verträge mit gar nix. Irgendwie beneidenswert.
Zum Abend gibt es veganes Gyros mit Paprika und Reis – gekocht auf der Mitte der Wiese des Camps, damit die Haare sonnentrocknen können.


Über dem ruhigen See geht die Sonne sanft unter. Sehnsüchtig schauen wir ihr auf dem Steg vor der Sauna hinterher.

Manchmal findet man nicht das, wonach man gesucht hat.
Heute, an diesem Donnerstag, wollten wir einen Vielfraß suchen – und haben einen Ameisenhaufen gefunden: ein Meisterwerk des Teamworks und der Beharrlichkeit.
Der Stille der Natur wollten wir lauschen – und haben Kriegsgeräusche vernommen: ein Symbol dafür, wie brüchig unser Frieden sein kann.
Manchmal findet man nicht das, wonach man gesucht hat, aber stößt auf etwas noch Zentraleres.
Dankbar möchte ich sein: für den Frieden, in dem wir leben dürfen.
Und dankbar möchte ich sein: für die Freiheit. Zu platschen, zu prusten, laut zu lachen.
Auch angezogen und ohne Dosenbier.