Im usseligsten Wetter, das die Welt je gesehen hat werden wir wach. So eingeregnet wie an diesem Morgen war es auf der gesamten Reise noch nie. Wir tragen den Regen hinein. Nach den ersten Kaffees ist der gesamte Innenraum des Magicbus feucht und kühl, als hätte man draußen im peitschenden Regen einen Sturmkocher bedient.
Durch tiefe Pfützen zur Pitstoilette hüpfen, auf denen ein Ölregenbogen träumt.
Kiruna.
Sieht genauso aus, wie man sich eine Eisenerzcity über dem Polarkreis so verstellt.

Der Großteil der Stadt liegt unter einem dichten Nebel, der sich ausweint.
Wir rollen durch das neue Viertel, das bereits versetzt wurde. Bunte Reihenhäuser kämpfen gegen graue Tristesse. Ein Bande schwarzer Vögel im Dunst, vor der neuen Aurora-Bibliothek lungern Taubenskulpturen herum und warten auf ein Futter, das nie kommen wird.

Sehr viel Industrie im Nebel, versteckt hinter einem neugebauten Hotel. Man kann ihn nicht verschleiern: den Geruch von gewaltsamer Penetration der Erde im kalten Regen.

Den anvisierten Mekonomen — Schwedens SupergünstigAutoteilemarkt— finden wir selbst im dritten Anlauf nicht. Stattdessen erstehen wir im Industriegebiet bestes (und doppelt so teures) LiquidMoli-Öl und verbuchen es als Wellnesseinheit für den Magicbus.

Im ICA tun wir das, was wir bereits im REMO1000 gestern in Norwegen taten: unsere liebsten Leckrigkeiten, die es sonst nirgendwo gibt, in den Wagen zu packen. In Schweden sind das Himbeersnusis, rote Currynudeln, perfekt geschmierte Knäckebrote, vegane Kaviarpaste in der Tube und Toscabullar.

Toscabullar: der ultimative Gebäcktraum! Zarte Mandel auf weichem Vanilleteig, am Gaumen zerdrückbar und trotzdem knusprig. Ein Seelentröster par excellence, der klebt wie Hölle. Gut, dass der ICA auch feuchte Tücher im Angebot hat.
Bei Abfahrt kreischt der Keilriemen herzzerreißend. Und fängt sich dann doch wieder. Wie schade, dass der Magicbus statt Zahnriemen keine Zähne hat. Zum Trost hätte auch er jetzt ein Toscabullar verdient.
Wir rollen durch den Herbst. Die Bäume sind mittlerweile gelblich. Endlose Straße immer geradeaus, straight in Richtung Osten. Links ein Eishotel, das noch keine Contenance angenommen hat, rechts diverse Angebote für Huskyschlittentouren, die momentan genauso im Spätsommerschlaf liegen.
Wunderschöne, entspannte Straße: die Tannen grün, die Laubbäume gelb. Obwohl wir noch immer über dem Polarkreis cruisen, fühlt sich die Welt auf dieser Seite deutlich hyggeliger als in Norwegen an. Beruhigender, weniger aufgeregt, gemütlicher. Vielleicht ist diese Umgebung für Gemüter, die von Natur aus schon aufgeregt genug sind, einfach heilsamer!?
Weniger bombastisch. Passt besser zu uns.
Was dazu allerdings so gar nicht passt, ist das Weltuntergangswetter vom Feinsten, dass hinter Gällivare auf uns hinunterprasselt. Bis hierhin war es ungemütlich, jetzt wird es apokalyptisch.
Die Pfützenschwapper von der Gegenfahrbahn knallen wie Geschosse auf unsere Windschutzscheibe. Die Straße fließt, wir schwimmen auf einer Aquaplaningvorzeigespur.
Man muss kein großes Herz haben, um hier für Schutzhütten eigens für Elche zu plädieren. Es wäre dringend an der Zeit für eine Petition.
Polarkreis.
Im strömenden Regen rollen wir hinüber – diesmal in Richtung niedrigerer Gefilde. Dass ich bei der Überquerung vor vier Wochen in Richtung Norden ein kurzes, blaues Kleid trug, lässt sich in diesem Moment kaum glauben.
Genauso wenig glaubwürdig wirkt der Szenenwechsel, der uns keine fünfzig Kilometer später erwartet. Über dem scharfen Wind lässt sich plötzlich die Sonne blicken.
Weitere fünfzig Kilometer und ich spiele mit dem Gedanken, das kurze Blaue wieder rauszukramen.
Weil es auf der Strecke liegt und weil Rörbäck ein so guter Ort für uns war, wollen wir für eine Nacht wieder an der Bottenwieck halten. Wie vor vier Wochen, als es Zeit war dösende Robbe auf den Felsen im Meer zu spielen.
Der charmante Mensch von damals ist wieder da. Diesmal sagt er nicht: „Ihr kommt mir irgendwie bekannt vor,“ diesmal ist sofort klar, dass wir einander kennen. Auch das: ein Wunderschönes, ein Heimkehrgefühl. Auch das: ein Merkmal für diesen herzenswarmen Ort.
Leider können wir uns heute nicht zu den Zelten gesellen, da wir dringend die austrocknende Heizung, ergo Strom, brauchen. Den gibt es nur bei den „Dickschiffen an Weißware“, wie Chouchou die normalen Wohnmobile nennt. Aber auch hier lässt es sich prima sein.
Während das Dorf heute seinen Surströmming (durch Milchsäure konservierter Fisch, der angeblich so intensiv faulig stinkt, dass einer deutschen Mieterin nach mutwilligem Öffnen einer Dose im Treppenhaus 1981 die Wohnung fristlos gekündigt wurde – laut Gericht zu Recht) zelebriert und verputzt, gibt es für uns olfaktorische Feiglinge eine riesige Portion Bolognese „sin carne“ – sturmgekocht.
Über dem Camp geht ein riesengroßer Halbmond auf, während auf der anderen Seite dieser Minihalbinsel langsam die Sonne untergeht. Der Robbenfelsen liegt verlassen da. Genauso wie der Strand davor.
#img19#
In zwei Tagen sind wir vom nördlichen Westen Norwegens über die Berge bis in den nördlichen Osten Schwedens gefahren. Um noch einmal das letzte Stückchen unsalzige Ostsee zu erleben.
Weil es magischer Orte nie genug sein kann. Und: Weil wir hier –wenn man ganz genau schaut– unseren persönlichen Polarkreis angemessen schließen: in Herzform.
#img20#












