Unterwegs im Magicbus

Matanuska: Schönheit hinterher trauernd

Eine Nacht am Gefrierpunkt, verlassen und mutterseelenalleine im tiefschwarzen Wald.
Seltsam: Ich, die ich Angst vor allem habe, vor Zöllnern, vor Taxis, vor Krokodilen unterm Bett, fühle mich fast nirgendwo so geborgen wie an einem Ort wie diesen: menschenverlassen, Chouchou schnauft kristallern leise, stockfinster die Nacht, keine Hand vor Augen. Es knackt im Geäst, huuhhhoo, etwas schwingt durch die Bäume und der glitzernde Sonnenaufgang gegen sechs verrät mitnichten, was es gewesen ist. Dieses Wesen zwischen rauschenden Blättern und Hörnchengezwitscher. Mutterseelenallein im Dry Creek – mit einer Familie im Unterholz.

Unser Weg beginnt heute im Windschatten unserer Heiligen Ortes Nr 179: der Wrangell-St. Elias- Nationalpark. Schneebedeckte Gipfel zu unserer Linken, thront der Mount Elias im gleißenden Mittagslicht, majestätisch und still. Laut der Tlingit-Inuit braucht dieser Ort keine Wahrzeichen oder Tempel, der Berg in sich ist heilig genug. Denn von hier aus gelangen die Seelen der Toten über den Berggipfel „auf die andere Seite“. Ich bin mir nicht sicher, aber denke, damit haben die Tlingit nicht Kanada gemeint.
Wir verneigen uns demütig vor diesem heiligen Himmelstor, wir schicken Grüße über den Gipfel; dankbar, dass wir noch mal ins Tal abbiegen dürfen. Noch ein bisschen Leben leben, bevor ein letztendlicher Gipfelsturm auf uns alle wartet.

Glenn-Highway. Den Suppensee lassen wir rechts liegen, wir rollen durch zotteligen Wald, Sumpf und Seegebiete. Am Wegesrand zerschossene Straßenschilder. Chouchou meint, es sei hier Volkssport, besoffen aus dem Beifahrerfenster zu ballern. Kein Wunder, dass wir keine Bären mehr sehen. Als hochentwickelte Tiere haben sie wohl begriffen, dass der Mensch hier feindlicher als jenseits der Grenze ist und sich sicherheitshalber ins Dickicht zurückgezogen. Gut so.

Das einzig unversehrte Schild, das wir auf diesem Highway sehen ist ein selbstgemaltes. Auf dem steht in blutroten Lettern: TRUMP won 2020!
Unser Gefühlsniveau sinkt ungefähr auf das Level „Iran 2016“, als wir an hochhausgroßen Denuzierungshotlinewerbungen der Revolutionsgarden vorbeifuhren.
Rufen Sie die 113. Und ein Ayatollah, der genüsslich in die Kamera grinst…
Wobei wir befürchten, dass weniger Iraner mit dem Inhalt einverstanden gewesen sind, als die aktuellen Passanten des Glennhighways. Denn siehe: keine Patrone im Schild. Fällt wohl unter: Andere Länder, andere Sitten.

Einige deutsche Wohnmobile kommen uns entgegen. Wir sind mit unserer Nordsehnsucht nicht alleine im Land. Allerdings fahren alle anderen in die entgegengesetzte Richtung. Raus aus der Hauptsaison, ab Richtung Süden. Wir hingegen fahren rein in die so genannte Schultersaison („shoulder season“), ab Richtung Herbst. Morgen soll der Regen beginnen.
Heute aber haben wir noch prallen Sonnenschein.

Auf der Hochebene (3300 Feet, ein Fuß gleich 30cm) gibt es Bütterkes mit Ausblick: Gunsight (wen wundert´s!?) und Chugach Mountains im Süden, in der Mitte züngelt sich der Nelchina Gletscher ins Tal. Ein erhebender Anblick. Nicht nur für die Globetrottels…

Und ab hier bleibt die Natur wunderschön. Chouchou revidiert vorsichtig seine gestrige Einschätzung: Langweilig, miLord, ist es wahrlich in keiner dieser atemberaubenden Ecken mehr. Am Matanuska Gletscher wollen wir heute Nacht bleiben.

Der Matanuska Gletscher.
18000 Jahre altes Eis liegt heute –sich jährlich immer weiter zurückziehend—auf privatem Grund. Das Parken kurz vor Fuß würde 25 Dollar kosten, wir bekommen den unbezahlbaren Ausblick auf diese aussterbende Spezies von unserem Camp kostenlos.

Es sind zwiespältige Gefühle an diesem Ort stehen zu dürfen. Zeuge zu werden von beginnender Vergangenheit, einem Sterbenden zuzuschauen, schon jetzt seiner Schönheit hinterher trauernd. Wir, die wir hier hergeflogen sind, vom anderen Ende der Welt. Alles andere als klimafreundlich, hustet auch der Magicbus im Hintergrund, mit großem Hunger nach Diesel.
Daher spare ich mir nun einen Appell, sondern gehe lieber ganz still in mich.
Schönheit hinterher trauernd…

2 Kommentare

  1. Grundmann, B.

    Alles was man sich wünscht! Natur pur, Wasser, Berge, unendliche Landschaft, Tiere, Sturm und Regen! Das volle Programm! Passt gut auf euch auf 🫶🥰

    • Chérie

      Liebe Mamels,
      beschützt von guter Macht — es wird alles wunderbar werden.
      Wir drücken ganz fest vom Ende der Welt ins Zentrum,
      Deine Nani

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