Unterwegs im Magicbus

In 11 Stunden und 11 Minuten nach Clermont-Ferrand mit Fußangst

Schlussendlich waren es kaum Tage Vorbereitung.
Was braucht man für einen Spaziergang für gute tausendfünfhundert Kilometer — wenn denn die Pfoten mitmachen?
Gefühlt haben wir es frei nach Douglas Adams gehalten: „Always take a towel.“ Und drei paar Socken pro Nase.
Mit sechseinhalb Kilo vs zehn ziehen wir heute morgen los: gefühlt einigermaßen unvorbereitet um fünf Uhr.
Möglicherweise ist das die größte Herausforderung!? Zumindest fühlt es sich nach zwei Stunden Schlaf —dank Reiseflöhen und vorauseilenden Fusspanikattacken— durchaus so an. Schön wär’s — wenn auch unrealistisch.

Die Bummelbahn nach Köln fährt um 05:22h. Bis Brühl sind wir die einzigen, die unter der tiefkühlenden Lüftung frieren. Die U18 schafft es trotz fehlender Fahrgäste bereits um diese Zeit eine ordentliche Verspätung rauszufahren. Nach fast eineinhalb Stunden erreichen wir den Dom … und unseren Thalys nach Paris nur äußerst knappig.
Unser einziger zwischenmenschlicher Kontakt bis hierher ist der Herr mit Brillenhämatom und Fahne kurz vor Gleis, der freimütig und ganz selbstverständlich bei uns ein Getränk bestellen will. Siehe: wir treten unsere Pilgerreise anscheinend mit „Eine Nacht mit Kumpels an der Bar“—Gesichtern an.

06:44h, Köln, Gleis 7:
Der Thalys ist bumsvoll. Unsere Sitznachbarin trägt Nackenhörnchen, während sie eine sehr bunte, sehr koreanische Gala durchblättert, der Schaffner spricht freundliches flämisch, lockeres luxemburgisch, heiteres holländisch, flottes französisch, deutsch und oxfordenglisch. Er staunt nicht schlecht und grinst sehr breit, als wir unsere PapierTickets nicht nur aus einer Klarsichthülle, sondern auch aus einem Bauchtäschchen zaubern.

Schau an. Das erste Mal im Leben außerhalb der Heimat unterwegs?!
Fast. „Letztes Mal war Klassenfahrt nach Nütterden“, sehr viel anders fühlt es sich tatsächlich nicht an. Jetzt fehlen nur noch die hartgekochten Eier und die selbstgemachten Frikadellen aus der Tuppabox. Und Serviettchen natürlich.

Gare du Nord, Paris — kurz vor Mittag. Halligalli ist hier der normale Ton, die Schlangen vor den Metroschaltern orakeln von fünfzehn Minuten Wartezeit bis alle ahnungslosen Reisenden ihre Tickets endlich gezogen haben.
Wir haben es nicht eilig. Unser Anschlusszug geht erst um eins. Das entspannt genauso wie die Tatsache, dass wir uns diesmal keinerlei Mühe geben müssen wie non-chalente Pariser aussehen zu wollen: nichts könnte weiter entfernt sein von Prêt-à-Portier als unser Outdoorlook. Ein schamloses Auftreten als Alemans Wanderer, die ab heute ihr Outfit monatelang nicht mehr wechseln werden — auch das nimmt seltsam Stress von einem.

Metro 4 und Metro 14 zum Gare de Bercy. Ab hier gehen nur Züge in die Bourgogne und in die Auvergne, immer zur vollen Stunde.
Zeit für ein spätes Frühstück am ZweiMännekesTisch mit Papiertischdecke im „Bristot du Metro“ ums Eck. Mit Saft und Sonnenschein und butterweichen Croissants, nach denen die Finger in munteren Fettschlieren schillern und die man hemmungslos krümeln darf.
Rechts werden dunkle Zigarillos geraucht, die so riechen, als seien sie bereits in den 90ern aus gesundheitlichen Gründen verboten worden, links wird Pastis mit Eiswürfeln kredenzt.

Am Bahnhof sitzt die Taubenfrau von Bercy. Schwarze Häkeljacke, grauer Zopf, ein altes Gesicht, das erstaunlich wenig Leben gesehen zu haben scheint. Entsprechend glatt die Haut, entsprechend verträumt die blauen Augen, der Blick verhangen in einer eigenen, wahrscheinlich schwer zugänglichen Welt, in der zentral nur ein Nähkörbchen zu stehen scheint.
Die Tauben kennen sie schon, die Träumende. Möglicherweise kommt sie täglich um halb eins, um ihre Linsen ausstreuen. Die meisten für ein einbeiniges Täubchen, das scheint sie besonders lieb zu haben.
Wir beobachten die Szene lange, lüften ein Geheimnis jedoch bis zum Schluss nicht: was bloß befindet sich in dem Nähkorb? Stricknadeln können es nicht sein, die bewegen sich nicht.
Chouchou tippt aus der Lameng auf Hase, ich aber werde den Verdacht nicht los, dass sie die lahme EinbeinTaube fangen und tauschen möchte gegen ein noch behinderteres Exemplar, das sie im Verborgenen schon lange mit sich durch die Stadt der Liebe trägt.

Nach Clermont-Ferrand im Sonnenschein.
Beim Einsteigen versuchen mehrere Fahrgäste hochengagiert einer Ukrainerin beim Finden ihrer Platznummer zu helfen, obwohl die schon längst auf ihrem
Plätzchen sitzt. Supportiv und ruckelnd geht’s pünktlich weiter.
Auen fliegen vorbei, ein Storch im Weiher, ein einsamer Mann schleckt Eis auf einer verwitterten Bank an einem Bach ohne Namen. Irgendwo in Frankreich.
Fast alle Passagiere schlafen irgendwann, nur in vereinzelten Reihen wird leise geschnieft. Viele Misteln in den kahlen Bäumen, Ente mit Auffahrunfall auf Container.

Ein netter Bengel mit Milchhaut und roter Fliege kommt irgendwann vorbei und schenkt Kaffee aus, während im hyperländlichen Frankreich vor dem Fenster nicht viel kaputt ist. Ein bisschen so, als sei die Welt für einen Schnellzugmoment vollkommen in Frieden mit sich.
Die Ukrainerin wird von ihrer unbekannten Sitznachbarin auf einen Kaffee eingeladen.

Welt fliegt vorbei. Es tut gut wieder zu schreiben. Auch, weil es von einem selbst ablenkt. Weil die Welt um so viel größer ist, wenn man einfach mal die Augen aufmacht und…ja… sie wirklich reinlässt in den oft so engen Kopf. Obendrein ist’s draußen oft so viel schöner als drinnen. Und auch interessanter.

16:37h.
Nach ziemlich exakten elf Stunden und elf Minuten Reisezeit rollen wir endlich in Clermont Ferrand ein. Vorher nie bemerkt: dieses Örtchen im Schatten des erloschenen Vulkans Puy de Dôme, mitten im Zentralmassiv, mitten in Frankreich.
Die Straßen um den Bahnhof: eher Gebrauchsgegend. Wir nehmen uns ein Zimmer für 44€. Das „Pression“ auf der „Roof top bar“ des Hostels: müde und köstlich, wenn auch nicht wirklich auf dem „roof“ oder „top“. Aber macht nix. Jetzt ist’s eh nur noch die Bar, die interessiert.

Eher zur Probe, denn aus Notwendigkeit wasche ich mir am Abend die Füße im Waschbecken, um sie danach mit Hirschtalg einzusalben. Das machen Pilger so, habe ich mir sagen lassen.
Ob’s was bringt? Woher soll ich’s wissen? Wir sind ja noch nicht gelaufen.
Eines aber ist sicher: gegen Fussangst hilft sie nicht.

Von meinem iPhone gesendet

4 Kommentare

  1. Dagmar

    Fussangst!
    Wahrhaftig, die hätte ich auch.
    Möge der Talg , das Wetter und viel Segen mit Euch sein.
    Meinen habt ihr ganz liebe Grüße 🙋‍♀️

    • Joana

      Liebe Dagmar!
      Segen ist immer gut — Deiner ganz besonders!
      Möge der Talg flutschen und die Füße atmen. Atmen — hilft ja angeblich auch bei (Fuß-)Panikattacken….
      Wir geben unser Bestes.
      Liebe Grüße,
      Deine Hirschtalgine

  2. micky

    Liebe Globetrottels,
    wie schön, wieder von Euch zu lesen! Bei uns steigt die Panik, in 6 Wochen geht Lola schon auf’s Schiff und nix ist fertig… Ich wünsche euch gesunde Nasen und Füße, die Euch weit tragen! LG Dunja

    • Joana

      Liebe Dunja!
      Wie schön, von Dir zu lesen.
      Aufregend: in sechs Wochen geht es schon los? So gerne würde ich ja Mäuschen spielen in Zeiten der aufgeregten Vorfreude.
      Natürlich ist nix fertig. Wird es auch nicht mehr. Gott sei dank.☺️
      Ihr werdet alles genau richtig parat haben, ich bin mir sicher.
      Sei ganz lieb gegrüßt in diese tolle Zeit des Aufbruchs,
      Deine Joana

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

© 2024 Die Globetrottels

Theme von Anders NorénHoch ↑