Der Wecker in Clermont Ferrand geht um halb acht, ein kollektives Geraunze aus den Kissen schallt zurück. Der erste Gedanke des Tages: warum zum Teufel machen wir das hier überhaupt?
Dringend liegen bleiben wollen…

Der Blick aus unserem Fenster geht auf den Exerzierplatz des 92. Regiments der französischen Infanterie. Junge Menschen joggen durch einen zarten Frühlingsmorgen im Zentralmassiv — bestenfalls für den Frieden. Nun gut, dafür macht es ja vielleicht auch Sinn aufzustehen: für megalomanes Pilgern für den Weltfrieden. Die Vulkankathedrale in der Ferne blickt stumm und dunkel.

Frühstück.
Nacheinander fallen mir diverse Utensilien aus der Hand: die Kaffeetassen, ein Glas, die Saftkaraffe. Es kommt einem Wunder gleich, dass nichts nachhaltig zerstört wird. Eine aufrichtige Entschuldigung beim netten Servicemenschen für meine unerklärliche Tapsigkeit folgt. „Pas de problème“, sagt der. Ich sei doch nicht tapsig, sondern lediglich „stark im Ausdruck“. Wie freundlich und aufbauend.

Die erste Überforderung des Tages setzt bereits mein Zusammenpacken der Rucksäcke ein.
Kaum was dabei, machen gerade die wenigen Überschaulichkeiten einen riesigen Schlamassel. Warum bloß? Ich weiß es nicht.
Beim Anziehen der Schuhe die erste Mittelfusspanikattacke: einen Moment lang bin mir ich mir sicher, bereits jetzt schon eine Marschfraktur zu haben. Im Kopf. Dort, wo der Weg anfängt.

Nächste Herausforderung: Handling der Zahnbürste.
Aus Gewichtsspargründen haben wir keine Zahnpasta dabei, sondern lediglich Zahnputzdragees, die lustigerweise wie überdimensionierte Valiumtabletten aussehen. Auch äußerst passend.

Am Busbahnhof gibt’s unverständliche Querelen, den Bus nach Aumont-Aubrac (140km für unglaubliche 2€) erwischen wir trotzdem pünktlich. Wie es von dort aus weiter geht, wissen wir allerdings noch nicht. (Geschweige denn, wo wir heute Nacht unterkommen.)
Am liebsten würden wir in St Chély d‘Aubrac wieder auf den Jakobsweg einsteigen. Dort, wo wir 2022 ausgestiegen sind. Allerdings scheint es bis dorthin keinen öffentlichen Nahverkehr zu geben. Stichwort: Hyperländischer Raum Frankreichs.
Ob wir ab mittags die 50km von Aumont-Aubrac bis St Chély nochmals zu Fuß gehen müssen? Peut-être.
Vielleicht aber finden wir noch einen Tingelbus, der uns weiter heranträgt an unseren Wunsch-Jakobswegwiedereinstiegpunkt. Zumindest bis Nasbinals!? Von dort wären es bis St. Chély d’Aubrac nur noch schöne 16km…
Das heutige Programm also lautet:
Mit Öffis so weit es geht wieder Anpirschen an St Chély d‘Aubrac. Was wie wo wann wohin geht, wird sich auf dem Weg ergeben. Ergo: das Abenteuer hat bereits begonnen.

Im Bus nach Aumont-Aubrac.
Schlierige Sonne über dem Zentralmassiv, ungewöhnlich warm mit 17 Grad für Ende März. Auf fernen Bergkuppen aber liegt noch Schnee.

Bus fahren über Hügel ist fein. Weil man Höhen bestaunen kann, die man nicht zu Fuß hoch oder runter muss.
Ein Greifvogel über Aubrac-Kuh, eine der schönsten Rinderart der Welt mit großen, weiß umrahmten Kulleraugen, tollen Hörnern und flauschig braunem Fell. Da sind sie wieder: die Wunderkühe, in die wir uns 2022 —beim Überwandern der Hochebene— unsterblich verliebten.

Busstopp: St Chely d‘Apcher.
Der Geruch von Rasierwasser wird geboardet. Alte, verwitterte Steinhäuschen, rau pittoreskes Dorf im Zentralmassiv. Ab hier pest der Bus nun über Land. Zackige Kurve, enge Holperstrassen, eigentlich müsste man ab hier anfangen, den Passagieren Tüten anzubieten.

Bahnhof Aumont Aubrac:
Ein eisiger Wind pfeift über den verlassenen Bahnhofsplatz. Auf 1000 Höhenmetern wirken die 17 Grad gleich deutlich frischer.
Wie befürchtet, fahren von hieraus tatsächlich keine Öffis mehr weiter nach Nirgendwo. Also in den Ortskern eiern in der Hoffnung auf eine taxieske Transportmöglichkeit. Denn klar ist: um eins am Mittag wollen wir die 26km bis Nasbinals zu Fuß auf keinen Fall mehr antreten. Nicht in unserem Trainingszustand, wir kämen heute nicht mehr an. Und ein wildes Zeltcamp auf der Aubrac’schen Hochebene ist uns am ersten Tag bei 5 grad nachts ein etwas zu abenteuerlicher Start.

In der Autowerkstatt können wir ein Taxi bestellen. Weil Werkstatt hier auch Tanke und Taxi macht. Mit einem Fahrer. Den muss die Dame an der Theke aber telefonisch erstmal erreichen…

Nach 30 Minuten brausen wir los. Schnittiger Mann um die sechzig am Steuer, ein Typ, der in einer Welt ohne Mittelstreifen und Fahrbahnbegrenzung lebt. Lockeres Steuerverreißen im angeregten Gespräch, um kurz vor drei schaffen wir drei es lebend bis nach Nasbinals. Über diese zauberhafte Aubrac‘sche Ebene— wir haben nie vergessen, wie wunderschön es hier ist. Und wie besonders. Nicht nur wegen der Kühe.

Nasbinals, 15h.
Unsere anvisierte Herberge hat zu. Sehen wir an den Bettskeletten im Garten, hören wir am Telefon — das Internet hat geflunkert bezüglich der Öffnungszeiten „toute de l´année“.

Gegenüber dem Hotel de France aber hat’s noch zwei Bettchen für uns. Stilecht übereinander mit knallbunten Filzdecken. Bisher ist nur Evan hier. Er arbeitet temporär in einem der zwei Restaurants des Orts und spielt für uns Bob Marley ein. Noch hoffen wir, dass der Rest der Gite heute Nacht für uns drei bleibt. 15 Euro pro Nacht inklusiver privater Delphintasse, die ich mir sofort für morgen reserviere, nachdem ich sie nochmal gespült habe. Zusammen mit Evans Müslischüssel, die anscheinend schon etwas länger auf einen Schuss Spüli einsam im Küchenbecken wartet.

Da wir noch nicht wissen, was Pilger nach dem Einchecken in eine Herberge sonst noch so tun, waschen wir erste Unterwäsche und T-Shirts im Waschbecken — eher aus Verlegen-, denn Notwendigkeit. Im Hochebenenwind und unter Hochebenensonne flattert sie sich flott frisch. Ein bisschen stolz.

Nasbinals ist schnell durchlaufen:
In der schlichten Kirche verewigen wir uns im goldenen Kirchenbuch und zünden ein paar Hände voll Kerzen an. Für alles Wichtige und gegen Fußangst.

In der Touri-Info holen wir uns den ersten Stempel und verstehen uns ganz wunderbar mit dem Mitarbeiter, indem wir ein Jibbrish aus Französisch, Deutsch und Spanisch anschlagen. Auch er ist schon den Jakoksweg ab Le Puy gepilgert: 40km pro Tag. „Un pocito loco,“ sagt er selbst, ein bisschen stolz, wie unsere Wäsche. „Un pocito loco …. y superb! Wirklich sehr,!“ sagen wir.

Im Minimarkt ums Eck kaufen wir Nüdelchen und Kronenbourg: weil in der Herberge heute auch gekocht und getrunken werden muss. Denn Evans Restaurant öffnet erst um 20h und hat nur Kuh auf der Speisekarte.

Bei der Rückkehr in die Gite hat diese sich —wie durch ein einbrechendes Wanderwunder— plötzlich gefüllt. Sehr gut, dass wir die Delphintasse und den Kuhbecher bereits reserviert haben.
Bei einem ersten Bierchen auf den Terasse bewundern wir die schönen Dächer um uns herum, schauen der Wäsche beim Flattern zu, Restsonne auf der Nase.

Und dann sind wir ganz schnell drin im ersten Pilgersetting. Beim Kochen kommt Liam zu uns, später dann Souvanna. Im Gespräch landen wir zügig unterhalb der oberflächlichen Themen, zackig schnell dran am Leben. Über Schuhangst und Unsterblichkeit..
Ein guter Vorgeschmack auf diesen, unseren, Camino, der eigentlich noch gar nicht begonnen hat.