Verrückt. Man kann tatsächlich im Elfbettzimmer ganz gut schlafen. (Auch, weil Pierre-Eve und Annick nicht schnarchen, aber das muss der sauberen Erkenntnis-halber ja nicht erwähnt werden.)

Check out um 8h, wir zögern —gemeinsam zu viert— bis 9 hinaus. Auch, um Zeit zu gewinnen für eine herrlich kurze Etappe heute: Wellness wandern für schlappe 10 Kilometer. Weil wir auf Punkt vier der Foto Challenge langsam keine Lust mehr haben: den ewigen Schmerz.

Der angeblich obligate Schmerzaspekt des Pilgern geht uns heute seelisch nach.
Ehrlich und tief in uns hinein gehört, spüren wir: Auf Schmerz haben wir einfach keinen Bock mehr! Sorry, lieber Jakobus, aber diesem Aspekt können wir einfach nichts abgewinnen. Körperliche Herausforderung: ja. Gerne auch über eine längere Zeit.
Meinetwegen auch Grenzgang. Das Konzept des dauerhaften Schmerzes aber, bekommen wir nicht mit unseren Lebensideen überein. Wir haben es wirklich versucht — vielleicht sogar auch ein bisschen verstanden. Manchmal reicht das.
Und daher treffen wir eine sehr wichtige Entscheidung:

In St Jean Pied Le Port steigen wir aus. Oder besser gesagt: in 100 km steigen wir um. Von pilgern auf weitwandern.
Die gleiche Nummer, aber ohne Schmerzen und bezahltem Pilgergefühl. Weg von Asphaltstraßen und Selbstkasteiung, hin zu mehr Natur, mehr Selbstbestimmtheit und vielleicht auch Einklang.
Bis dahin werden wir knappe 700 km gepilgert sein, bis dahin kann man sagen, dass wir einen einigermaßen guten Überblick bekommen haben, was dieses Konzept bedeuten kann: Pilgern.
In St Jean ist diese Etappe für uns rund. Ende der Via Podiensis, ab hier ginge der Camino frances los. Den sparen wir uns für später. Irgendwann.
Eine große Entscheidung. Eine wichtige.
Inklusive dem Gefühl, trotzdem nicht vorzeitig hingeschmissen zu haben. Auch das ist (spannenderweise) sehr wichtig für uns…

Was folgt ist ein sehr entspannter Tüdeltag. Am Wegesrand rosa weiße Gänseblümchen, ein zwängig angeordnetes Steinhaus. Blick auf die Pyrenäen, wenn die Wolken denn wollen. Und natürlich immer wieder Yogiteesprüche am Wegesrand. Diese bauernschlauen Sprüchlein hier und da, die aus einem Wander- einen Pilgerweg machen.

Blumenwiesen, wilden Spargel knabbernd, quer durch violettes Gras hoch zu einer zauberhaften Kapelle kurz vor Arthez.
Auf kaltem Altar meditiert, auch das wohl ein Unterschied zwischen Pilger- und Wanderweg: engmaschige Meditationsräume dort und hier, kulturelle Zeugen der menschlichen Suche nach Sinn und Antwort.

Arthez de Bearn: hat angeblich alles.
Für heute sind wir also wieder mal da.
In der alternativen Pinguinbar bekommen wir vom maulfaulen Wirt zumindest eine Cola. Essen hat er nicht, Musik gibt’s heute Abend ebenso wenig, für Bier aber könnten später wiederkommen. Ein Willkommen der Pyrenäen-atlantischen Art.
Warten vor der Kirche auf endlich Check in um 15:00 Uhr, es beginnt zu gießen. Also ab in die Bäckerei: drei Törtchen bestellen.
Ein Schmaus. Das Mango-Pistazien-Törtchen schlägt beinah seinen Kompagnon „L‘oran“ aus Cahors. Falls irgendjemand mal dort hinfahren sollte: dringend merken, wer Gaumenhimmel auf Erden erleben will.
Bitte, gern geschehen.

Wir schlüpfen heute bei Aisha unter. In einer Pension. Wahnsinn, wie viel Luxus das ist nach mehreren Tagen Herberge.
Duschen und Handwäsche, die auf einem beheizten Handtuchhalter trocknen kann. Der Inbegriff von „freshness“.

Abends gibt es statt Herbergseiern Pizza. Ums Eck: unser maulfauler Wirt, der nach sechs wirklich Bier spendiert und einen Pilger-Punkrock-Stempel.
Wenn’s nicht so wolkenverhangen wäre, könnte man durch die Scheibe, die von sehr vielen Fliegen umworben wird, die Pyrenäengipfel sehen. Eine alte Katze döst auf dem Stuhl neben uns. Über ihr ein ihr gewidmetes Kunstwerk: „Chabbogy“.
Irgendwann spielt unser Wirt extra für uns neudeutsche Klänge. Irgendwas zwischen Stereototal und Die Sterne und ich beschließe: sollte ich irgendwann ein Auto kaufen, wird es eine Ente sein.

Das Auf und Ab des Pilgern. Eines des größten Abenteuer, das wir jemals in Angriff genommen haben, ohne es vorher zu ahnen.
Eines bleibt —neben der heutigen Entscheidung, dem Schmerz Adieu zu sagen— trotz allem sicher: auf den letzten 600 Kilometern haben wir unzählbare Erinnerungen gesammelt, die sich fest in Herz und Hirn brennen.
Das ist immer ein guter Grund loszuziehen.
Und ein guter Grund zu pilgern.