Wir räumen unsere Rigaepisode bis halb elf. Vier Nächte hat uns unser „romantisches Boho“-Appartement nun charmante Dienste geleistet – voller Luxus für die Nebenhöhlen. Gut getan hat das: den Näschen und den Seelen.
Mit einem kreischenden Quietschen geht es für den Magicbus heute ein Stück weiter gen Heimat. Im Gegensatz zu uns hat ihm die Pause anscheinend nicht allzu gut getan. Sein Weinen hält bis kurz vor Rigas Stadtgrenze an. Genauso wie unsere tröstenden Worte: „Nur noch zweizweitausend Kilometer! Du machst das ganz wunderbar, Du tapferster Magicbus von allen.“
Nach Rigas gigantischer Brücke, dem Metropolenstau und tristen Randblöcken folgt Lettlands längste Autobahnbaustelle: mit 50km/h hoppeln gen Westen.

So wild durchgeschüttelt, dass wir unsere Ausfahrt verpassen und an einer Mautstelle kurz vor Halbinsel landen.
Mit beidem haben wir Wirrköppe nicht gerechnet: weder mit Peninsula, noch mit Péage.

Wir rollen an eine hochmoderne Säule, auf der in großen Lettern steht: „Pay station Jumala“, bitte bezahlen Sie jetzt! Da wir keinerlei Ahnung haben, wofür der günstige Obulus nun genau sein soll, rufe ich die Hotline an. Und werde mit einem sehr lustigen Gespräch beschenkt.
„Hallo. Joana hier. Ich wollt kurz fragen, wofür die drei Euro sind?“
Lachen: „Das ist das Eintrittsgeld für die Stadt Jumala.“
„Ah. Und lohnt sich das?“
Lachen: “Na ja. Ist eine schöne Stadt. Ob es sich lohnt ist jetzt auch egal, ihr könnt ja gar nicht mehr umdrehen.“
Stimmt! „Ok. Wenn wir schon mal da sind: wat gibbet denn Schönes zu sehen?“
„Villen, Wald und Strand.“
„Ah. Dann ist es ja sehr gut, dass wir mal nach Jumala fahren.“
„Unbedingt. Willkommen in Jumala.“
„Danke. Nach Jumala wollte ich immer schon mal…“
Zum Schluss schmeißen wir beide uns weg: angesteckt vom Lachen des Anderen. Und weil´s lustig ist, über ein Gespräch zu lachen, das eigentlich gar nicht so äußerst lustig ist. Ein Lachen einfach des Lachens wegen, das sollte man öfter mal machen. Vor allem gemeinsam mit Fremden.
So rollen wir also –einigermaßen unfreiwillig– durch Jumala: einen schnicken Vorort der großen Stadt, der eingepfercht auf einer Halbinsel liegt.
Schicke Häuser hat es in der Tat. Und Blumenkübel am Straßenrand. Und Wald dahinter. Und ein Meer, das wir von der Straße aus nicht sehen können. Dafür macht ein frischer, lettischer Siegfried gerade den Drachen kalt und über allem liegt ein winziger Hauch von Amerika.

Für unsere drei Euro gehen wir einmal kostenlos Pipi machen, auf der Peninsula der Schönen und Reichen. Na, wenn sich das nicht gelohnt hat!
Hinter der Halbinsel folgt sehr viel kostenloser Wald, an dem wir knappe 200 Kilometer vorbei rollen.
Ab und zu taucht ein Dörfchen auf, meist mit ganz viel baltischem Bullerbü-Charme. In einem davon gehen wir einkaufen.

Manchmal sehen wir den Meerbusen von Riga, meist aber nur Bäume.
In Kolka –der Spitze der Landzunge, an der unsere Straße scharf links führt– wollen wir einen schnellen Blick aufs Cap werfen: auf den einzigen Ort in ganz Lettland, an dem man sowohl Sonnenauf- als auch -untergang über dem Meer bewundern kann. Das Parken aber soll drei Euro kosten – genau das Taschengeld, was wir bereits für Jumala ausgegeben haben.
Jetzt hilft es nur noch, sich für ganz besonders schlau zu halten und fünfhundert Meter weiter auf den kostenlosen Parkplatz zu fahren, dort auf den sehr hohen Turm zu klettern, in der Hoffnung, das Cap von hier aus zu erspähen. Anstrengend, atemberaubend und natürlich: erfolglos.
Aber ganz viel Ostsee – die sehen wir! Immerhin.
Durch den Slītere Nationalpark geht’s für uns noch ein kleines Stückchen gen Süden auf der menschenleeren P124. Rechts und links sehr viel Wildnis, vorbei an einer Natur, die seit über hundert Jahren nicht durch Menschenhand verschandelt wurde.
In Miķeļtornis wollen wir heute Nacht bleiben: einem verlassenen Geisterdörfchen, das nur über eine sehr zerpflückte Schotterstraße mit der P124 verbunden ist. Das einzige, was hier noch menschlich belebt ist, ist der Campingplatz – auch, wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht.
Per Fernruf kontaktieren wir den Camppapa herbei. „Ich sehe Euch,“ lässt er uns über knarzenden Funk zukommen. Sehr lange Stielaugen muss er haben, denn der Rest seines Körpers ist erst fünfzehn Minuten später bei uns.
Zwischen sehr viel Gedönekes erzählt er uns zwei spannende Dinge.
Erstens: dass das Baltikum seit Russlands Angriffkrieg touristisch ziemlich leer ausgeht, weil Kriegsangst herrscht, obwohl alle drei baltischen Länder Mitglied der NATO sind.
Und zweitens: dass die Schweden massenweise Holz aus Lettland importieren, frei nach dem Motto: besser den baltischen Forst abholzen, als den eigenen.
Wir drücken ihm zwanzig Euro steuerfrei auf die Kralle – für Camp und Stories – und sind für heute Nacht zu Hause, am Rande des Geisterdorfs.
Ein flotter Nachmittagsrundgang durchs geheimnisvolle Miķeļtornis.
Eine verlassene Kirche, ein leeres Haus. Eine verfallene Fabrik, eine nachgebildete Schiffssetzung der Wikinger. Ein altes Bauernhaus vor einem Leuchtturm, der nicht mehr erreicht werden kann.

Nichts regt sich. Außer kurze Schattenschemen aus einer längst verflossenen Vergangenheit. Spechte klopfen Gedichte in die Bäume, die schon sehr lange von niemandem mehr rezitiert wurden. In diesen Gräbern dreht sich seit Ewigkeiten niemand mehr um.
Auch der Ostseestrand –200 Meter weiter über zugewachsene Sperrwiese und Wald…

…liegt gänzlich verlassen da. Obwohl zahlreiche Fußspuren frisch sind. Als wäre noch vor Kurzem eine ganze Horde Menschen hier entlang gelaufen und dann plötzlich spurlos verschwunden.

Wo auch immer alle hin sind, die bis vor kurzem hier spazieren gingen!?
Sie sollen mir bloß nicht heute Nacht –zwischen grauen Träumen und düsteren Uhurufen–mit leisem Wispern ins Ohr flüstern….














