Als unser Feuer brannte, kam unser Nachbar zu Besuch: ein deutscher Outlaw, der seit zwanzig Jahren in nördlichen Schweden lebt. Als erstes muss er seinen Frust über die Dortmunder rechts von uns abgelassen: Unmöglich, wie man das „Allemansrätt“ – das schwedische Jedermannsrecht—so missbrauchen kann! Während das bereitgestellte Holz eigentlich für alle sein sollte, die hier ein Feuerchen machen wollen, packt der Dortmunder sich den gesamten Wagen damit voll. Bis der Vorrät leer ist und ohne überhaupt ein Feuer zu machen.
Tatsächlich können wir diesen Ärger gut verstehen. Wer Lagerplätze leer räubert, sorgt auf Dauer dafür, dass diese freundliche,schwedische Freiheit irgendwann ein Ende haben wird. Weil Jedermannsrecht Gemeinschaftssinn voraussetzt, wo ein „Ich zuerst“ leider vollkommen fehl am Platze ist.
An uns hat der Outlaw –Gott sei Dank—Freude. Schlussendlich teilt er nicht nur seinen Ärger mit uns, sondern vor allem sehr viele inspirierende Ideen, wohin unsere Reise in Richtung Norden weitergehen könnte.Nach dem Sonnenaufgang um 2:49h.

Der ersten Empfehlung folgen wir an diesem Morgen sogleich: das Navi will uns 105 Kilometer über die „Hauptstraße“ schicken, der Schleichweg mittendurch aber ist 25 Kilometer kürzer.
Das sind fünfundzwanzig sehr abenteuerliche Kilometer, wie wir in den nächsten eineinhalb Stunden herausfinden werden: über jegliche Form von Schotter.


Auf dem einsamen Rappelweg kommen uns in der gesamten Zeit drei Autos entgegen. Asphalt wird erst zu leichtem Schotter, der sich irgendwann verliert. Lange zehn Kilometer rattern wir über apfelgroße, spitze Steine.

Der Magicbus schüttelt sich tapfer mit 30km/h voran. Ein schwedisches Huhn am Straßenrand macht einen auf Roadrunner und glotzt dem ächzenden, stöhnenden Mobil mit großen Augen hinterher. Sowas hat es anscheinend noch nie hier gesehen. Während wir im Fahrerhaus beginnen, ungeplante Abenteuer auszuschwitzen.
An der Landstraße 311 kommt rettender Asphalt in Sicht. Und wir haben plötzlich Hunger: ein Post-Angst-Schlotter-Appetit. Sofort muss dringend Polarbröd her. Nach der nächsten Bande Rentiere im Sommerfjellfell, die die Straße blockiert, halten wir am Lichtfluss und frühstücken. Danach kann es entspannt weiter gehen – auf Flüsterasphalt.



Bis Tännäs ist es nun nicht mehr weit. Rechts ein Holztroll mit Sense, links ein Plastiktipi und schon sind wir da. An unserem Tageshighlight, auf das wir uns seit einer Woche freuen!
Um diese Geschichte zu erzählen, müssen wir etwas zurückgreifen; genau genommen drei Jahre.
Im späten Frühling 2021 sind wir das erste Mal in Schweden gewesen. An unserem damals nördlichsten Punkt unserer Reise haben wir uns zu Fuß in die Wälder geschlagen. Irgendwo hinter Vålådalen, in Richtung eines verlassenen Samendorfs kurz vor den Jämtlands Pyramiderna.
In diesen zwei Tagen ist uns keine Menschenseele begegnet. Wir trafen lediglich ein weiteres Wesen –und dieses gleich zweimal—das größer als ein Rennhuhn war. Und das war Brutus.


In Schweden leben insgesamt 12 Moschusochsen. Sieben davon in Obhut des Menschen, fünf in freier Wildbahn.
Zum wilden Fünfertrupp gehörte ursprünglich auch Brutus. Leider aber gab es in der Urviecherwelt irgendwann Zank, der unschön endete: Brutus wurde aus der Herde verstoßen.
Daraufhin irrte er viele Jahre alleine durch die Wälder um Vålådalen, auf der verzweifelten Suche nach neuen Artgenossen. Brutus wusste nicht, dass er außerhalb seines Trupps ziemlich alleine auf weiter Flur stand.
Einige Winter wurde er von niemandem gesehen: man glaubte schon, Brutus hätte sein einsames Dasein in den harten Wintern nicht überlebt. Aber Brutus war stark und widerstandsfähig. Er ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen, Brutus stand immer und immer wieder auf, moschusochsenstarrsinnig an seiner Suche festhaltend.
Seine Laune wurde über die lange Zeit der Einsamkeit –verständlicherweise– nicht besser.
Mal pflügte er ungefragt blumenreiche Vorgärten, mal hängte er die Wäsche bei den Nachbarn ab.
Als wir ihn erstmalig trafen, stand er ungefähr 200 Meter entfernt auf der Straße vor uns. Nicht wissend, dass es überhaupt Moschusochsen in Schweden gibt, hielten wir ihn zuerst für einen Bären und machten einen großen Bogen um ihn herum.
Eine Nacht senkte sich und fiel, wir bauten unser Camp im verlassenen Samendorf auf und wuschen uns in kalten Quellen am Morgen danach. Unser Weg zurück in die vermeidliche Zivilisation führte über Trampelpfade, rechts und links Blaubeersträucher, der Tritt ungefähr fünfzig Zentimeter breit, drumherum endloses Dickicht und Unterholz. Wir sprachen nicht viel in diesen Tagen. Bis zu dem Zeitpunkt, da Chouchou folgender Satz rausrutschte; ein Satz, der für die Globetrottels legendär wurde: „Das Tier steht auf dem Weg.“
Brutus war in unser Leben getreten – in zehn Meter Entfernung.
Die folgenden Minuten lassen sich nur stakkato abreißen: wir flüchten ins Unterholz, unmöglich uns zu verstecken, denn Brutus hat uns bereits erblickt. Alte Augen folgen uns, er ist derjenige, der hier nun die Hosen anhat und das zeigt er uns. Dickes Moschusochsenfell wird an einem Baum gerieben, der ächzend knarzt. Ein Moschusochse senkt den Kopf und macht sich auf den Weg in Richtung Dickicht. Dorthin, wo wir geflüchtet sind.
Schlussendlich ging alles glimpflich aus. Brutus drehte irgendwann ab als er spürte, dass von uns keine echte Gefahr ausging. Woher auch? Carbonwanderstöcke gegen Moschusochse?
Schlussendlich hat Brutus einfach Gnade mit uns gehabt…
Sommer 2024: Die Globetrottels sind unterwegs in einen skandinavischen Sommer. Natürlich kommt uns Brutus wieder in den Sinn. Was ist wohl aus ihm geworden?
Der Investigativjournalist im Team aka Chouchou wirft sich ins Internet und findet heraus:
2022 wurde es den Schweden zu bunt mit dem verzweifelten Moschusochsen. Brutus hatte es sich auf einem Pausenhof der lokalen Grundschule gemütlich gemacht, noch immer auf der Suche nach seiner Herde. So ging es natürlich nicht. Man entschied: Brutus musste aus der Wildnis „entnommen“ werden. Tot oder lebendig. Dem guten Herz einiger Tierliebhaber ist es zu verdanken, dass es –Gott sei Dank– zweiteres wurde.
Heute lebt Brutus im Wildreservat Myksoxcentrum in Tännäs.

Sein Beginn im Gehege: etwas holprig, aber Brutus wäre nicht Brutus, wenn die Geschichte kein Happy end fände. Zu lange hat er darauf hingearbeitet, zu lange hat er gesucht.


Erste, zarte Annäherungsversuche an die Weibchen wurden mit einer Geduld, die nur Stirnwaffenträgern der Urzeit inne wohnt, irgendwann erwidert. So erfolgreich, dass Brutus seit diesem Jahr sogar dreifacher Papa ist.

Es lässt sich kaum beschreiben, was durch unser Herz geht, als wir Brutus nach drei Jahren das erste Mal wieder sehen: Freude und Wiedererkennen, Verbundenheit und Erleichterung, Rührung und auch ein bisschen Stolz. Stolz darauf, dass Brutus nie aufgegeben hat.
Unser Moschusochse hat endlich seine Herde gefunden. Endlich ist er zu Hause.


Ein Tränchen ist hier durchaus angebracht. Auf beiden Seiten des Zauns – ich hab´s genau gesehen…