Als wir am Morgen zusammenpacken, frage ich mich plötzlich, ob wir mittlerweile –möglicherweise– die Vagabunden sind, vor denen sich alle so fürchten? Stille Gestalten, die in unverständlichen Zungen sprechen. Die in ein ranziges Motel am Ende der Welt einchecken, außer den vier Wänden aber nichts in Anspruch nehmen. Die, die die automatische Laundry verschmähen, die handgewaschene Wäsche aber meterweit an der Reling aushängen. Die, die galonenweise Frischwasser aus der Wanne abzapfen und mitnehmen. Die, die in einem Auto leben, meist ungeduscht und fern der Heimat sowieso. Sind wir möglicherweise die Vagabunden, vor denen sich alle fürchten?
Der Mann an der Bar, der eine fleckige Stoffbinde vor Mund und Nase trägt und verzweifelt Abstand hält. Sollten wir dem sagen, dass Chouchou gestern erst abgestrichen ist und kein Corona in seine Hallen hineinpustet!? Sind wir möglicherweise die, denen man nicht mehr ansieht, dass das hier alles eigentlich nur Teilzeit-Vagabundie ist. Ich weiß es nicht.
Heute möchte ich über die Straße schreiben. Über den Alaskahighway zwischen Destruction Bay und Beaver Creek. Bereits hinter Burwash Landing warnen große Schilder immer wieder, dass ab nun eine wirklich raue Straße („rough road“) folgt. Achtung, folks: eine Menge lockerer Schotter („Loose gravel ahead“) und extrem staubige Umstände („Extreme dusty conditions“) erwarten Euch. Der Magicbus muss sich warm anziehen.
Was als »Highway to hell« angekündigt ist, entpuppt sich allerdings als gar nicht mal ganz so schlimm.
Zugegeben eignet sich Schotterstraße auf Permafrostboden nur wenig für frischlackierte, 12 Tonnen schwere WoMos, die einen SUV im Schlepptau haben und am liebsten mit Tempomat auf 95km/h fahren. Aber so einer ist der Magicbus ja nicht.
Es wäre gelogen, würde ich von „gleiten“ schreiben, aber wir düsen mit durchschnittlich 40km/h über eine hoppelige Straße, die –dafür, dass sie auf Permafrostboden erbaut ist—nur so viel staubt, wie das Auge nehmen kann. Vereinzelte Radler (ja, es gibt sie wirklich. Oft um die 30, meist asiatischer Herkunft, am ehesten mit Samuraigenen ausgestattet!?) tun mir da schon sehr viel mehr leid. Another one bites the dust ohne Windschutzscheibe – die bloggen den Straßenabschnitt womöglich etwas anders. Und haben auch nicht so lecker Mittagessen wie wir…
Für 200 Kilometer brauchen wir fünf laute Stunden. Ist ja schließlich auch kein Flüsterasphalt.
Der Magicbus rappelt in einer permanenten Soundkulisse aus hochfrequentem Dauerdonnergrollen und wehleidigem Quietschen des unnötigsten Tisches der Welt, der seit Halifax nur halbseiden auf unserem Dach rumrutscht. Nur ab und an knallt´s, wenn man zielsicher eines der wenigen Schlaglöcher erwischt. Ein Traumhighway – wenn man den hier mit Straßen in Indien, Albanien, dem Iran oder weiteren 85% der weltweiten Straßen vergleicht. Mindestens.
Kurzum: „Rough road, loose gravel, dusty“…aber passt schon.
Ohne größere Malaisen rollt der Magicbus gegen halb vier in Beaver Creek ein. Die größten Malaisen von uns dreien hat noch immer der arme Chouchou, dem es leider nicht sehr viel besser geht. Also muss es hier –noch 30 Kilometer bis Alaska– wieder ein Motel für die Globetrottels sein. Den Husten kriegen wir schon noch klein. Mit warmen Wänden und einem heißen Bad oder sonst irgendwie.
Beaver Creek, 93 Einwohner, letzte und westlichste Gemeinde Kanadas. Außer einer Tanke und einem indisch geführten Motel gibt es hier noch ganz viel EsWarEinmal: es war einmal ein Wohnmobilstellplatz, es war einmal ein WestmarkInn Hotel, es war einmal eine Kirche.
Ins indisch geführte Motel ziehen wir ein. Das ist ja noch.
Zimmer 105 mit Blick auf pinke Blümchen (kein Fireweed) und den leeren Highway. Meine Laune ist grottenschlecht, um nicht zu sagen richtig mies. Wegen EsWarEinmal, Papa ist nicht mehr da. Wegen Chouchous Husten, der immer noch wie ein tuberkulöses Kamel klingt. Wegen keine Heizung in Zimmer 105 bei Preisen, die man eigentlich für einen Palast bezahlt. Außerdem ist´s diese Zeit im Monat.
Am allermeisten kann ich leider nichts ändern. An der Heizung vielleicht schon!? Ich könnte sie erzwingen!?
Eine äußerst grandiose Idee, also poltere ich –wirklich äußerst schlecht gelaunt—los an einen krümeligen Tresen, der Bar und Rezeption zugleich ist. Dahinter der fürs Motel zuständige Herr, circa 60 Jahre alt, im blaubeerblauen Kaschmirpullover, versunken in einen Bollywoodfilm.
„Entschuldigung,“ –mein Maximum an Freundlichkeit ist hiermit schon aufgebraucht. „Entschuldigung, mein Herr.“ Keine Reaktion. Im TV wird noch getanzt, ich warte also 7 Minuten – quasi einen indischen Quickstep lang, dann versuche ich es wieder.
“Entschuldigung. Leider geht im Zimmer unsere Heizung nicht. Wie lösen wir die Situation.“
Ein ungläubiger Blick schießt über ausgebeizten Tresen. „Heizung, Ma´am!? Alle anderen wollen Klimaanlage.“ Ich sage: „Kann sein, die Amerikaner vielleicht. Wir aber sind deutsche Vagabunden, einer davon krank, der andere schlecht gelaunt und wir frieren beide sehr. Leider geht im Zimmer unsere Heizung nicht. Wie lösen wir die Situation?“
Der Herr wirft einen Blick aufs Außenthermometer: „Ma´am. Draußen sind es 18 Grad.“ „Ja, ich weiß, aber….“
Hinter dem Tresen hängt eine Axt. Die ist eigentlich für Kleinholz bestimmt. Ma´am, draußen sind es 18 Grad…perfektes Wetter zum Holz hacken.
Es ist nur der Bruchteil einer Sekunde. In Bollywood schneien Rosenblätter durchs Bild, irgendetwas jauchzt, der Griff ist im ersten Moment ziemlich schwer in der Hand. Macht nichts.
Mit einem Schlag spalte ich als erstes die Theke entzwei. Draußen sind es plötzlich nur noch 16 Grad.
Als nächstes sind die Plastikstühle dran: eins, zwei, drei. 14 Grad Außentemperatur.
Das Elchgeweih löst sich recht leicht von der maroden Spannplattenwand. 12 Grad.
Gut, dass im Aquarium keine Fische mehr waren: 500 Liter Wasser auf fleckigem Teppichboden. 6 Grad.
In der hinteren Ecke des Raums: es war einmal ein Chaiautomat. 2 Grad. Und die Kasse braucht jetzt auch keiner mehr. Hack.
Gefrierpunkt.
Zeit für meine Heizung…
…ganz kurz war ich eingenickt. Kurzer, illustrer Tagtraum…
„Ma´am. Draußen sind es 18 Grad.“ „Ja, ich weiß, aber….“
Ich stammele noch irgendwelche verzweifelten Argumente hervor – vollkommen erfolglos. Die Axt bleibt an der Wand hängen. Und wäre ich nicht so fürchterlich schlecht gelaunt, würde mir nicht der Gag entgehen, mit dem diese Unterhaltung nach zwei weiteren Bollywoodtänzen tatsächlich endet: „Heeting, ma´am!? Maybe later.“
Er hat es wirklich gesagt, er hat sich getraut: “Heeting, ma´am!? Maybe later.”
Ich kann es nicht ändern: plötzlich muss ich lauthals lachen.
Also: Maybe later. Das ist zumindest lang, lange vor EsWarEinmal.
Schlechte Laune?! Ach, lieber „maybe later“.
Und bis dahin kuscheln wir uns grinsend in warme Decken ein. Und noch 30 Kilometer bis Alaska.…bei 22 Grad Innentemperatur.
Sorry Sir, manchmal bin ich wirklich ein doofes Tierchen.