Ich finde es spannend, dass alle Religionen am Ort ihrer Originalschauplätze plötzlich Sinn machen – vollkommen egal, wie abstrus sie abseits derer bei genauerer Betrachtung wirken.
Am Ganges fühlt es sich logisch an, dass nur ein Elefant mit einem Stoßzahn für Glück verantwortlich sein kann. Wer sonst? Im Garten Gethsemane war es klar, dass Gott den Kelch am Sohn nicht wird vorüber gehen lassen. Natürlich hat ein Prinz namens Siddhartha in Bodghaya so lange unter einem Baum gesessen bis er erleuchtet wurde. Und natürlich begegnet uns hier plötzlich Manitou in all seinen Erscheinungsformen. Nicht an jeder Straßenecke, aber täglich. Das geht nicht nur den Hochsuggestiblen so.

Beim ersten Kaffee haben wir das magische Plusterhuhn von gestern nicht mehr präsent. Und auch in Marathon –einziger Versorgungspunkt in hundert Kilometern Umkreis– holt uns das Allumfassende Geheimnis noch nicht ein. Und das, obwohl wir mit nur 80km/h unterwegs sind. Ist morgens scheinbar auch nicht die Flotteste: die Große Kraft, die in allen Wesen enthalten ist.

Marathon für seinen Teil ist gänzlich unmagisch und ziemlich geerdet. Hier hält sich nichts und niemand mit Schöngeistigem auf – und mit Magischem schon gar nicht.
Praktisch quadratische Häuser, farblich entblättert, mit einer verklebten Tankstelle, die jeden Preis nehmen kann, weil alle einfach nur wegwollen – und niemand es mehr schafft wegen der lähmenden Trägheit und Lethargie auf den Bordsteigen. Marathon: Niedergang in Allem, ohne Liebe verputzt, Zentrum der Abhalfterung in der Mitte leeren Nichts. Kanadisches Survival der echten Art: vollkommen untauglich für jede Outdoorwerbung, vollkommen fähig den härtesten Winter zu überstehen.
Hier gehen wir einkaufen. Gegen Barkasse.

Sehr “down to earth” nehmen wir die nächsten 300 Kilometer transkanadischen Highway in Angriff, weiterhin mit 80km/h. Es ist mittlerweile kurz vor Mittag. Unser Mittagstief, eine Morgenmuffelige aber nimmt langsam wieder Fahrt. Im Windschatten der großen Trucks schleicht sie sich unbemerkt von hinten an: die deutlich flotter gewordene Große Kraft, die in allen Wesen enthalten ist.

Ein Marathoner würde nun wohl schreiben: “Da fraß ein Schwarzbär am Highway Nr 17.” Ich aber weiß just in diesem Moment genau, wer dieses zottlige, schwarze Tier am Straßenrand wirklich ist. Und warum er dort hockt. Und was er damit sagen will. Manitou am Motorway.
Man muss das nicht verstehen, man darf aber.

Wer ganz und gar keine Verständnisprobleme bei diesem Thema hat, ist der “Sleeping Giant” – unsere heutige Heimat für die Nacht. Wie ein schlafender Riese ruht dieser Vorgebirgszugs am Rande des Lake Superiors. Seine Geschichte ist kompliziert, kann sehr vereinfacht aber so klingen:
Der große Manitou sendete den Ojibwe (hier ansässige First nation) eine Lehrerin namens Nokomis, die weise Tochter des Mondes. Deren Tochter wurde vom Westwind entführt und starb. Nokomis trauerte unstillbar, bis plötzlich eines weißes Kaninchen vorbeigehoppelt kam. Zum Trost nahm Nokomis es an sich und taufte den kleinen Racker Nanabozho, was passenderweise “mein kleines Kaninchen” heißt. Dieses Karnickel wurde im Laufe seines Lebens ein mächtiger Schöpfer und Magier, der heute versteinert am Lake Superior liegt, die Hände gefaltet, den Blick starr gen Himmel gerichtet: The sleeping giant, der genaugenommen eigentlich ein magischer Riesenhase mit gefalteten Pfoten ist. Für Phantasiearme oder Marathoner zumindest. Man muss auch das nicht verstehen, man darf aber.

Ich könnte nun schreiben, dass wir am Abend ein Lagerfeuer mit Blick auf die untergehende Sonne und den schlafenden Riesen entzünden, um die Geister in den Felsspalten zu besänftigen – so wie die Ojibwe das tun. Tatsächlich aber bringen wir eher ein Rauchopfer gegen die Mücken dar. Marathon statt Manitou.

Und dann, als ich glaube, dass dieser Tag beendet ist –auf dem Weg zur wärmsten und schönsten Dusche im ganzen Mai, einmal durch den tiefen Wald– ist er doch plötzlich wieder da: diesmal im Form eines gigantischen, grauen Rehs, das seelenruhig 3 Meter entfernt äst und mich mit großen Augen anschaut. Ich weiß genau, wer das wirklich ist. Und warum er hier rumäst. Und was er damit sagen will.

Man muss das nicht verstehen, man darf aber: darf jeden Tag aufs Neue entscheiden, woran man eigentlich glauben will.
Manitou oder Marathon?
Heute nehme ich ersteres…