Unser heutiger Spaziergang soll uns eigentlich nur an einen einzigen Ort bringen. Dass wir auf dem Weg dorthin so viel mehr erleben, war eigentlich nicht geplant. Eines der verrückten Dinge an Städten: überall passiert etwas! Weil jede Ecke quatschen kann, weil Mensch so viel erschafft und überall Spuren hinterlässt.
Ein Stadtrundgang ist immer ein Erlebnishürdenlauf. Selbst, wenn man es nicht vorhat.
Direkt hinter unserem Appartement, hinter der schrägen Methodistenkirche, beginnt der riesige Katharinenpark. Und unser Spaziergang.
Wir wandeln durch gezügelte Natur, an Springbrunnen und liebevoll angelegten Beeten vorbei – kühlen Schatten einatmend gegen die Hitze der Stadt.
Ein Freizeitpark für Kids folgt den Wiesen: entweder noch geschlossen oder aber verwaist!? Ein wunderschön buntes und groteskes Bild unter der brennenden, estnischen Mittagssonne.
Ein Großteil des Grases am Wegesrand ist nicht gemäht: eine Wohltat fürs menschliche Auge, ein Paradies für Insekten. Rasen ist überbewertet, denn erst die Wiese macht echte Natur.
Wir halten auf den „Eichhörnchenausguck“ zu. Eine Enttäuschung. Weitläufig angekündigt befindet sich hier –außer einem endenden Steg– rein gar nichts. Schon gar kein Eichhörnchen.
Hinter dem Park folgt die „Tallinn Song Festival Stage“: eine riesige Openairbühne. Wir erleben unsere 15 Minuten Ruhm nach Warhol: Tanzen vor einem imaginären Publikum. Und tagträumen von tosendem Applaus und Standing Ovations.
Nicht weit entfernt liegt das „Cromatico“: eine Kunstinstallation von Lukas Kühne, einem „accoustic artist“, der aus Beton ein überdimensionales, aufrechtstehendes und begehbares Piano goss. Bewegt man sich singend durch die „Tasten“ soll sich der Ton automatisch der Klaviatur anpassen. Angeblich.

Die nächsten 15 Minuten Ruhm stehen in den Startlöchern: Singen und Luftpiano klimpern für eine eingebildete Hörerschaft. Und tagträumen von Tränen in den Augen der Zuhörenden – aus purer Rührung.
Hinter unseren Tagträumen liegt eine „gated community“, in die wir hineinstiefeln. Sehr reiche Menschen haben sich hier vor dem Rest der Welt verschanzt. Nur ganz manchmal kann man durch eine Lücke im Zaun luken und einen Blick werfen in die ängstlichen Gefängnisse des Reichtums, dauerüberwacht von Kameras.
Wir landen auf einem deutschen Soldatenfriedhof. Dahinter eine Gedenkstätte für die 1944 Gefallenen der Abwehrschlacht Estlands.
Und gleich dahinter steht ein Denkmal für die unter „kommunistischem Terror“ Ermordeten: eine schwarze Mauer mit Einschusslöchern – dort, wo die „Feinde des Kommunismus“ wortwörtlich an die Wand gestellt wurden.

Ein letzter Blick auf die Stadt, ein letzter Blick auf die Ostsee, bevor man sie per Kopfschuss hinrichtete.
Immer wieder macht es sprachlos, wenn man sich vergegenwärtigt, wie barbarisch der Mensch auch sein kann.
Reste kommunistischer Vergangenheit stehen grau und bedrohlich im Rest der sonnigen Parkanlage herum.

An einem hat man versucht, ein aktuelles Graffiti zu entfernen.
Ganz weg bekam man es nicht: das „Z“ über der ukrainischen Flagge.
Und ich frage mich: Warum bloß lernen wir eigentlich kaum aus unserer Vergangenheit?
Eine Frage, die sich nicht nur an die „Z“-Schmierer richtet, sondern auch an ein knappes Fünftel der gesamtdeutschen Bevölkerung, die zu ignorant oder zu dumm ist zu sehen, dass ihr heutiges, politisches Blau in Wahrheit ein tiefes kackbraun ist. Wie damals.
So vergangenheitsvergessen zu sein ist vollkommen unverzeihlich. Nicht nur in Zukunft, sondern schon heute.
Aufgewühlt kommen wir schlussendlich dann doch noch dort an, wo wir eigentlich „nur“ hinwollten: bei den aussortierten Sowjet-Statuen, die man feinsäuberlich zusammengetragen und im Garten des Maarjamäe Palace ausgestellt hat.

Ein Friedhof der Skulpturen, der überschrieben ist mit den Worten:
„Vielleicht mögen diese Schatten der Vergangenheit uns helfen, uns daran zu erinnern, dass Freiheit flüchtig sein kann.“
Vielleicht.
An der Strandpromenade dackeln wir zurück nach Hause, nachdenklich. Sonnenschein und Badende – ein Kontrastprogramm zu dem, was in Kopf und Herz abgeht.
Am Abend gehen wir essen. Ein Highlight auf Hindi, während die Sonne langsam untergeht.

Nach einem Tag, der voller Schatten der Vergangenheit war. Und das ist gut so.
Vielleicht brauchen wir Menschen sie wirklich: diese Schatten.
Um etwas ganz Wesentliches nicht zu vergessen.
Die Zeiten, in denen der letzte Wunsch lautete: „Geh mir aus der Sonne!“, sind vielleicht vorbei.
Die Gefahr geblendet zu werden, ist heutzutage einfach zu groß.
Da hilft auch keine Sonnenbrille.
Leider.














