Als allererstes wird ausgeschlafen. In weichen Decken, auf flauschigen Kissen, mit dem Geruch von Frische in der Nase.
Den ersten Kaffee kocht heute Morgen eine Nespressomaschine, beim ersten Augenaufschlag bin ich bereits entzückt: wie viel Luxus ein solches Zimmerchen doch bietet!
Beim ersten Schlückchen schwarzes Gold –im kuscheligen Bett– denke ich mir:
Eines der abertausenden von wunderbaren Dingen auf dieser Reise ist, dass der Magicbus ein dankbares Herz macht. Dass wir auf dieser Reise jeden Tag aufs Neue erfahren dürfen, dass all diese im Alltag so „normal“ wirkenden Dinge genau das eigentlich nicht sind. All diese kleinen, alltäglichen Annehmlichkeiten wie warmes Wasser, ein eigenes Bad, eine Maschine, die uns den Kaffee kocht – der Kaffee selbst! Das alles ist so ganz und gar nicht selbstverständlich.
Eigentlich müssten wir jeden Tag aufs Neue zergehen –vor Dankbarkeit und Freude: über so unglaublichen, nicht selbstverständlichen Komfort.
Nach Kaffee Nummer zwei räumen wir den Wäschetrockner aus. Den Wäschetrockner!!! Wahnsinn.

Frisch geduscht sind wir am Mittag bereit –so schick, wie es uns möglich ist– in die City zu taumeln.
Dafür muss man erstmal an einer Menge Ostblockcharme –alt und neu– entlang schrabbeln.

Bis zu Blumenlädchen an den großen Türmen, die die Altstadt säumen: ab hier herrscht bestens erhaltenes Mittelalter.

Wir reihen uns in die Schlangen der Touristen ein – ein Aufmarsch, mit dem wir so nicht gerechnet haben.
Hätten wir ein klein wenig vorab recherchiert, so hätten wir vielleicht ahnen können, dass wir in einer der besterhaltensten Mittelalterstädte Europas, die obendrein zum UNESCO Weltkulturerbe gehört, nicht ganz alleine sein würden.
Memo an uns: Reiseführer vor der Reise lesen, nicht immer nur danach…

Zwischen geführten Reisegruppen tippeln wir Slalom durch die ruppigen Kopfsteinpflastergassen.

Erst durch die Unterstadt mit dem Covent (inklusive Appell: Ora et labora), der Nikolaikirche, den zahlreichen Tourishops (inklusive Puppen, die den Ästhetiksinn herausfordern), der Tüssütür und dem Rathausplatz…

…dann über den Domberg mit der einzigen Kirche, für die kein Eintritt verlangt wird: die Alexander-Newski-Kathedrale.

Halb Asien ist bereits hier und ärgert sich, dass drinnen nicht fotografiert werden darf: ein Aufpassermann mit Argusaugen achtet genauestens darauf.

Sein zweiter Aufgabenbereich: bei Bedarf den Touristen die Hüte vom Kopf pfeifen. Auch hier kennt er kein Pardon! Ein Mensch, vermutlich aus dem Reich der Mitte, kassiert einen mächtigen Anpfiff und ist so erschrocken über die deutliche Ansprache, dass er mir vor Schreck mitten ins Gesicht niest. Eine Einladung, sich nach dem Panoramaausblick ein kleines bisschen aus den Touristenströmen wieder heraus zu bewegen…

Jenseits der Bahngleise liegt das Hipster- und Künstlerviertel Kalamaja. Hier gönnen wir uns erstmal ein Immunsüppchen auf dem Streetfoodmarkt.

Im alten Industriegebiet dahinter –an der Telliskivi– wird mittlerweile Kunst, die sich nicht schert, geboren.

Vegane Cafés und kleine Handwerksläden, Ausstellungen und Musikstudios und jede Menge feinster Graffiti.

Ein öffentlicher Platz, auf dem Urban Gardening betrieben (Palme unter Glas) und gleichzeitig an den „Baltischen Weg“ erinnert wird: Erinnerungen an den 23. August 89, an dem Hundertausende Menschen aus Estland, Lettland und Litauen eine 600 Kilometer lange Menschenkette bildeten um für ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu demonstrieren.

Aus dem Vintageshop riecht es nach gestern, für heute finde ich leider nichts. Außer Erinnerungen.

Zehn Kilometer sind wir zu Fuß unterwegs durch Tallinns verschiedene Gesichter: von Ostcharme über mittelalterliche Hanse bis hin ins Hipsterviertel und wieder zurück.
Zehn Kilometer durch den sommerlichsten Tag, den wir hier im Norden bisher erlebt haben.
Zehn Kilometer durch alte und neue Geschichte, Gegenwart und ganz bestimmt durch sehr viel Zukunft:
Vor knappen zwei Jahren wurde die Stadt vom „fDi Magazin“ der Financial Times unter die Top 10 der „mittelgroßen europäischen Städte der Zukunft“ gewählt.
Es lohnt sich also, auch morgen nochmal einzuschalten.