Der Morgen beginnt mit Poesie. Auf dem Weg zu den Katakombenwaschräumen hat ein Wandersmann den Türsteher von gestern abgelöst. In gebrochenem Englisch teilt er seine gestrige Trekkingerfahrung zum einsamen See mit zwei älteren Damen. Sie klingt so:
„This lake was so dark. When I dropped in, I had the feeling, that everyone under the surface knew about me. That was beautiful.”
Und jeder unterhalb der Oberfläche kannte mich. Das war wunderschön.
Was für ein Satz!

Beim Frühstück ist der Polarpiepmatz wieder da. Er hat seine Freundin mitgebracht, wir frühstücken also zu viert.
Danach sind wir bestens gestärkt für die Umrundung des heiligen Bergs Saana. Nachdem wir gestern oben drauf waren, geht’s heute einmal drum herum. Im Uhrzeigersinn – wie beim Mount Kailash in Tibet.
Das einzige Boot des Sees landet in großen Wellen an, wir stiefeln los. Hinein ins große Nichts.

Nach den ersten zwei Kilometern ist es dann soweit. Inmitten endloser Weite lege ich ein Schweigegelübde ab. Bis zum Ende der Wanderung – mit einer einzigen Entlastungausbrabbelpause beim See Saanajärvi, der die Halbzeit der Wanderung einläutet.

Eine neue Erfahrung: sich selbst nicht immer quatschen hören, die Stille einfach mal ertragen, den Gedankenblubber, der ansonsten sofort nach außen drängt, einfach mal unausgesprochen vorbeiziehen lassen. Wie die Wolken. Unfassbar, wie erleichternd das sein kann.
Wie entspannend. Für alle.

Saanajärvi. Heiliger See im Schatten des heiligen Bergs.
Hier gibt’s die angekündigte Brabbelinkontinenz und eine Cola, bevor wieder Stille herrscht.

Weiter schweigend am See entlang. Mit einer tiefen Ruhe, die keine der Pilgeretappen des Jakobswegs je für uns auf Lager hatte. Eine Entspannung, die ich kurzzeitig mit Müdigkeit verwechsele – so ungewohnt ist sie.

Nach dem See folgt ein kleiner Pass mit Ausblick auf der Spitze. Und was für einem!
Die Erhabenheit dieses Bellevues schlägt einem mit ungeahnter Wucht in die entspannte Visage. Eine Aussicht, die aus purer Schönheit zu Tränen rühren kann.

Im Schatten des Saanas steigen wir nicht nur schweigend, sondern auch sprachlos bergab.

Das anschließende Urwäldchen riecht ätherisch, es passt so ganz und gar nicht, dass man hier vor allem eins hört: die einzige Straße weit und breit. Ein Wäldchen, durch das man nicht allzu entspannt dackeln sollte, da ansonsten die Wurzeln nach einem greifen.

Wir stapfen durch ein Feuchtgebiet – theoretisch die perfekte Brutstätte für die weltbekannten finnischen Moskitos. Praktisch hat uns in ganz Finnland noch nicht eine Mücke gezwackt. Auch das bleibt ein unerklärliches Mysteriosum.

Mitten im tiefen Dickicht finden wir Zeichen von Zivilisation. Ein ganz Lustiger hat ein Schild in den Boden gerammt, auf dem steht, dass es zum Betreten des Urwäldchens eines Passierscheins bedarf. In vier Sprachen. Gut zu wissen, dass wir illegal im Nichts unterwegs sind.

Sollte uns also jemand ansprechen (von all denjenigen, die nicht hier sind): Sorry. Wir haben Schweigegelübde.

Nach insgesamt zehn Kilometern spuckt der Wald uns unbefugte Eindringlinge wieder aus. Nach einer der mit Abstand schönsten Wanderungen, die wir jemals unter die Füße bekamen. Nach der ersten, die wir schweigend verbrachten.

Am Abend gibt es Kinderessen für uns: Spaghetti mit Tomatensauce und frisches Brot für die Polarpiepmätze, die mittlerweile zu dritt sind. Die Kunde hat Runde gemacht. Das ist gut so.

Während Chouchou im Magicbus arbeitet, muss ich –kurz vor Damensauna—noch einmal flott an den See. Um herausfinden, wo genau man hier eigentlich schwimmen könnte.

Mit Plastikbirkies schmatze ich mich durch feuchten Morast, bis ich auf dem Gelände der „University of Helsinki, Abteilung: Bio“ fündig werde. Dass ich damit heute bereits das zweite Mal unbefugt irgendwo eindringe, weiß ich allerdings noch nicht. Sondern erst, als Mikko mich anspricht.
Der bärtige, runde Finne, der augenscheinlich schon gemütlich einen in der Krone hat, weißt mich äußerst charmant darauf hin, dass wir uns hier auf Forschungsgelände befinden.
Schwimmen für mich?! Na ja, das wäre eher eine Grauzone. Eigentlich eher nicht, eigentlich aber auch möglich, wenn ich nirgendwo anders einen Einstieg in den See fünde.
Nach kurzem Abwägen einigt Mikko sich mit sich selbst darauf, dass ich morgen wieder kommen kann. Er hat dann nichts gesehen.
Unsere kleine Verhandlung endet mit einem Dialog, der finnischer nicht sein könnte:
„So. Ich muss jetzt los. Sauna!“
„Jojo. Da war ich gerade schon.“
„Schön. Bis morgen dann.“
„Jojo, bis morgen.“
Wir sehen uns in der Grauzone.

In der Stille des Laufens kam mir heute ein loser Gedanke:
Vielleicht hängt die Qualität unseres Lebens manchmal auch ein Stückchen davon ab, was wir der Welt aktiv von uns aus anbieten. Weil das die Resonanz beeinflusst.
Das muss ja nicht immer viel sein: ein Lächeln, ein poetisches Wort, vielleicht tut´s manchmal auch einfach ein Schweigen im richtigen Moment.
Je mehr wir von uns geben und zeigen, desto eher werden wir alle miteinander bekannt – gekannt.
Ein erster Schritt zu:
Und jeder unterhalb der Oberfläche kannte mich. Das war wunderschön.
Ich finde, das ist ein netter Gedanke. Manchmal einfach ein bisschen –nur ein kleines bisschen– jenseits der Nehmermentalitäten…