Dank Schwarmintelligenz finden wir gestern Abend noch heraus, was die Gebilde am Strand sein sollen: Aufhängungen für Stockfisch.
Wir lernen: Schon seit dem 8. Jahrhundert ist es Sitte, in Nordnorwegen den Fisch himmelzubestatten. Sehr spannend.
Außer anscheinend für die Möwen. Warum die sich überhaupt nicht für den Hängekabeljau interessieren, konnte uns leider niemand verraten.
Möglicherweise, da Eingeweide und Kopf nicht mit erhängt werden!? Möglicherweise, da Norwegens Möwen lediglich Sushiliebhaber sind?! Möglicherweise, da in jeder Möwe ein verkappter Parfumeur steckt?!
Letzteres halte ich für am wahrscheinlichsten. Wer kennt sie nicht: die weltberühmten Chanel-Möwen Norwegens…

Fein ausgeschlafen erwachen wir auf der Wiese der Jakobselfen. Quergeparkt.
Beim ersten Kaffee fällt uns auf, dass der Magicbus vom Start dieser Reise in Halifax bis hier her 40.000 Kilometer abgerissen hat.
Vierzigtausend Kilometer: einmal um die Erde!
Beim zweiten Kaffee fällt uns auf: da darf dann auch der Keilriemen mal schlackern.

Tatsächlich tut er es heute aber wieder nicht. Wir starten mit dem altbekannten Tuckern, ohne Kreischen, bereit für eine zweite Weltumrundung. Vielleicht.

Mit großen Plänen in den Backen kommen wir heute mit dem ersten Startuckern nicht sehr weit.
Kurz nachdem wir auf die E75 gen »Ende der Welt, Teil 2« abbiegen gibt´s eine Panne.
Erstaunlicherweise nicht bei uns, sondern beim Captain der norwegischen Marine. Der Magicbus als Pannenhelfer und nicht als Verletzter: das hätte wohl niemand erwartet.

Der Captain braucht Hilfe. Sein linkes Hinterrad hat alle Muttern von sich geworfen und steht schräg in einer Achse, die traurig viel Bremsflüssigkeit unter sich lässt.
„Ziehen!“ meint der Captain.
„Captain, ich glaube, das ist keine gute Idee.“
„Doch. Ziehen!“ schreit der Captain.
Matrosen mucken nicht auf. Na gut, wenn der Captain es sagt.
Also wird der desolate Uraltgeländewagen an die Leine gelegt.
„Ziehen. Jetzt!“ brüllt der Captain. Also ziehen wir.

Weit geht es so nicht, genau genommen erreichen wir nicht einmal die fünf Meter entfernte anvisierte Parkbucht.
Nach einem knappen Meter wirft der Uraltgeländewagen das Rad gänzlich von sich, mit herzzerreißendem Scheppern kippt das Auto auf die blanke Radaufhängung der Achse.

Nicht des Magicbus´ Schuld: er macht so etwas zum ersten Mal.
Der Captain schreit: „Egal. Einfach weiter ziehen!“
„Captain, nein! Das reicht! Wir ziehen Sie nicht mit der blanken Radaufhängung der Achse über die E75.“
Meuterei auf der Bounty. Der Captain muss leider klein beigeben.

Zu dritt sichern wir die Pannenstelle ab, schieben zumindest den Anhänger in die Parkbucht und warten auf eine Pannenhilfe, die bestimmt auch nicht bereit sein wird, den Captain auf der blanken Achse über den Asphalt zu schleifen.
„Bin Jahrzehnte zur See gefahren, hab unter Eisenhower gedient,“ meint der Captain, als wir warten. Kurz überschlagen muss er also Mitte 80 sein, mit 60 Jahren Polarmeererfahrung. Sicherlich hat er schon sehr viele Male seinen Kahn über den nackten Asphalt der E75 gezerrt…

Weiter den Varangerfjord hinauf Richtung Vardø: Schafe an den Straßen, Schafe am Meer, Schafe überall. Kurzum: erstaunlich viel Viehwirtschaft.

Im Hintergrund taucht irgendwann der Ort auf: Vardø. Mit Möwen und Rentieren im Vordergrund.

Hier fahren wir links – auf die letzte Straße der Halbinsel. Einspurig.

Es gibt nicht viele Superlative, die diesen Weg angemessen beschreiben können.
Überwältigend, phänomenal, gigantisch vielleicht – zweifelsohne aber atemberaubend.
Der Magicbus schlängelt sich bergauf, bergab durch Gesteinsformationen, die nicht von dieser Welt scheinen, blaue Teiche im Grün, das blaue Polarmeer immer in Sichtweite.

Praller Sonnenschein über schroffem Geröll. Surreal, fast extraterrestrisch. Und wieder Rentiere am Strand. Sorry.

In Hamningberg, einem verlassenen Fischerort am Ende der Welt, wollen wir heute Nacht bleiben.
Wir müssen auch, weil dieser Abstecher all unsere Kraft gefordert hat. Insbesondere die des Magicbus: 1 Liter Öl auf 120 Kilometer. So viel Durst hatte er noch nie. Armer, tapferer Bulli.

Auf einer Wiese mit Fjordblick parken wir zwischen deutschen Mitcampern ein. Und staunen, dass die deutsche Campermentalität auch 3500 Kilometer weg von zu Hause nicht immer auf der Strecke bleiben muss.
Beim Einparken werden wir aus vier Klappstühlen heraus genauestens beäugt. Als ich winke, wird beschämt wegguckt ohne die Hand zum Gruße zu heben.
Niemand kann aus seiner Haut: Da kannste soweit fahren wie de wills, man nimmt sich immer mit.

Hamningberg wirkt genauso surreal wie die Anfahrt hierher. Der Ort ist leergepustet, die Häuschen aber stehen frisch gestrichen vor der schroffen Felswand. Knallblaues Meer, das scharf schäumt, ein unerbittlicher Wind fegt über eine bunte Szenerei, die scheint, als sei sie –nur für heute– aus einem Märchenbuch geborgt.

Wir laufen die letzte Straße der Welt bis zu ihrem Ende. Dahinter kommt nur noch ein Leuchtturm und Nordpolarmeer. Und Möwen und Wellenrauschen und ein Kuss auf „world´s end“.

Dies ist der östlichste Punkt unserer Reise, auf dem gleichen Längengrad wie Sankt Petersburg, östlicher als Istanbul.
Um hierher zu kommen, darf man sich ruhig einiger Superlative bedienen.
Wie: überwältigend, phänomenal, gigantisch. Atemberaubend.
Und der Captain schreit: „Ziehen!“ Bis ans Ende der Welt!
Heißt auf norwegisch: „Ta meg til jordens ende.“
Da wären wir also….