Unser letzter Morgen in Berlevåg startet mit flirrender Spannung.
Was ich gestern aus rein magischem Denken (und eigener Nervenschonung) nicht erwähnte, lässt sich heute Morgen leider nicht mehr ignorieren.
Die große Bauchwehfrage: Macht der Magicbus wieder Faxen beim Starten?!
Bei den letzten drei Anlassversuchen hat er sich (mal wieder) ein neues Geräusch ausgedacht hat. Eins, was einfach nicht dahin gehört.
Diesmal: schleifendes Kreischen aus der Keilriemengegend.

Ach, lieber Magicbus.
Warum eigentlich machst du so etwas am liebsten, wenn wir am Ende der Welt sind?
So, wie vor gut einem Jahr tief im Yukon … und noch 400 Kilometer bis ins nächste Dorf, und noch 700 Kilometer ohne Telefon- oder Internetz, und noch 2000 Kilometer bis zur nächsten VW-Werkstatt.
Zugegeben: eine Panne in Berlevåg käme im Vergleich nicht auf ein Elftel des Abenteuers von damals.
Denn hier –am Arsch von Norwegen—gibt es zumindest Telefon, Internet, ADAC Goldkarte, die Hurtigruten, die uns für entsprechend großes Kleingeld gen Oslo schippern könnte. Vor allem aber hat´s hier das allerwichtigste: Mitmenschen.

Auf kurzen Nägelchen kauend –ganz ohne Unterlippe, die ist schon weg—zögern wir die Abfahrt hinaus.
Einen Kaffee noch, erstmal Brötchen aufbacken, eine Dusche. Es geht soweit, dass ich mir sogar die Haare wasche: morgens! Haare, die seit fünfundzwanzig Jahren nur Shampoonieren am späten Abend kannten.
Irgendwann aber fassen wir uns ein Herz: wir müssen ja!
Mit zugekniffenen Augen starten wir hochangespannt den alten Bulli-Schiffsmotor.
Es knattert und dieselt über den Platz. Wir horchen. Und lauschen. Wir hören ganz genau hin.
Und hören: nichts. Nichts, das irgendwie außergewöhnlich wäre.
Ein alter Traktor, der startet, ein Keilriemen, der geräuschvoll schwingend schlackert—boomshakalaka. Alles ist wie eh und je.
Das schleifende Kreischen, das der Magicbus die letzten drei Male zunehmend zum Besten gab, bleibt aus. Gänzlich.
Er war, ist und bleibt ein großes Mysterium. Unser Magicbus.

Mit aufgerissenen, staunenden Augen rollen wir vom Platz.
Zwei Koboldmakis in der Fahrerkabine –mit Ohren, groß wie die der Wüstenfüchse, mit Nägeln wie Faultiere nach zu engagierter Maniküre, mit dem Herzklopfen von Kolibris. Nur der Magicbus tut so, als ob niemals irgendetwas gewesen sei…

Adieu, zauberhaftes Berlevåg mit all deinen Menschen:
Adieu, lieber norwegischer Nachbar, der uns –entschleunigend wie ein Bergflüsschen–von seiner Nordkapperfahrung im Nebel berichtet.
Adieu, verlorene Schweizerin, die auf der Suche nach einer neuen Zukunft ist.
Adieu, finnische Anglerboys mit Alphamentalität.
Adieu, sanfter Althippie mit Hund in einem T4, der noch schröddeliger als der Magicbus ist.
Adieu Ingo und Ute im Husky-Club-Partnerlook. Er (möglicherweise) stumm, sie als Kind in Hamburger Brabbelwasser gefallen. „Ich komm kurz klönen,“ sagte sie, schnappte sich ihren Campstuhl und erzählte uns dann ihre ganze Lebensgeschichte ohne, dass wir auch nur eine einzige Gegenfrage stellten.
Ute trägt jeden Tag Rentierohrringe in großen Ohrläppchen und bunte Federn am Cowboyhut. Sie ist mit dem Weihnachtsmann befreundet, sagte sie. Und Frühaufsteherin, Neufinnin und 15Kilometerläuferin mit Rückenproblemen. Ihr Husky haart stark und liegt genauso stumm wie Ingo zu ihren Füßen.
Nach einer halben Stunde hatte Ute fertig, sie musste Mittagsschlaf machen: „Schön, Euch kennengelernt zu haben. Ich mag alternative Leute.“ Wie auch immer Ute darauf kam. Denn weder der Husky, noch Ingo, Chouchou oder ich hatten in den dreißig Minuten unserer Begegnung etwas gesagt. Wir alle haben einfach still die Ute-Show genossen.

In zweihundert Kilometern Traumfahrt beruhigen sich unsere Nerven wieder. Wegen des Bullis, Ute war schon gestern da und hat uns gar nicht aufgeregt.
Wir rollen die Straße zurück, die wir gekommen sind: am Strand mit den Rentieren vorbei (ein Lesender mag dieser langsam müde werden, einem Sehenden passiert das wohl nie), eine Entenfamilie kreuzt unseren Weg.

Die Welt sieht genauso verzaubert aus wie bei Anfahrt – nur andersherum.
Perspektivwechsel…ist nie langweilig.

In Tana Bru biegen wir ab in Richtung Varangerfjord, auf die Panoramastraße E75, die von Norwegen bis Kreta führt und kurz hinter dem Ort einen Wimpernschlag lang fast savannenartig anmutet.

Am Fjord selbst ist dieser Eindruck natürlich direkt wieder verflogen. Wir werden mit dem Blick in Richtung Barentsee wieder am Wasser ausgespuckt.

Deutlich wärmer als am offenen Polarmeer ist´s hier. Davon zeugen die „pink power“-Blümchen am Straßenrand und auch die dichtere Zivilisation. Was auch immer man in Norwegen denn so „dicht“ nennen kann…

Wir rollen bis Vadsø immer am Fjord entlang. Der Campingplatz dort ist leider „midlertidig stengt“, steht an der Tür: Vorübergehend geschlossen. Uns bleibt für die Nacht –wollen wir nicht 110 Kilometer weiter gen Nichts fahren (wollen wir heute nicht!)– also nur noch das Missionscamp in Vestre Jakobselv.
20 Kilometer wieder zurück, zu den christlichen Jakobselfen. Als Ex-Pilger.

Über der “Resepsjon” prangert ein großes Kreuz. Wir stellen uns auf Nonnen hinter der Theke ein und sind mit einer Liedzeile aus „Walking in Memphis” bestens vorbereitet:
„Tell me are you a Christian child?
And I said “Ma´am, I am tonight”…”

Ma´am, we are tonight!
Ein Opportunismus, den man nur auf dem Jakobsweg lernt.

Natürlich aber steht keine Ordensschwester hinterm Tresen. Eine freundliche, junge Frau ohne offensichtliche Gesinnung heißt uns “Velkommen“ – ohne auch nur ein Wort über Jesus zu verlieren.
Auf der Wiese parken wir vor einem Hang, auf dem schmalblättrige Weidenröschen explodiert sind, ein. In der Grillhütte liegen Trockenblumen.

Spaziergang ins Dorf.
In Vestre Jakobselv gibt’s eine Kirche (geschlossen) und ein Fischrestaurant (geöffnet sonntags von 13h bis 19h), vor dem ein paar Norweger mit dicken Mützen sitzen und sich zwei Flaschen Schnaps teilen.

Seltsame Gebilde am Strand, auf denen ein paar Möwen lungern, Schneemobile auf gepflegtem Rasen, Wildblumen jenseits der Grundstücksgrenzen, Plastikstühle mit Aussicht.

Am Vogelausguck ist heute nichts los, die Flut drängt sich blubbernd ins Fjord vor und niemand da, der dem Beachtung schenkt. Außer zwei Globetrottels.

Als wir zu unseren christlichen Jakobselfen zurückkehren, sehen wir, dass in der Zwischenzeit ein paar Nachbarn neben uns eingeparkt haben.
Und wir wissen nicht ganz genau, wie dieses Bild zu deuten ist.

Ob Langzeitreisen verändern?
Wer weiß es schon. Zweifelsohne aber gilt:
Perspektivwechsel…ist nie langweilig.