Ich kann kaum glauben, wie ruhig ein belebtes Örtchen in der Nacht werden kann. Auch in der letzten Nacht war es so still wie in einem Grab. Montreal-en-Gers: das stillste Dorf Südfrankreichs.

Beim Frühstück sitzt eine kanadische Fee. Sie scheint in die Küche geschwebt zu sein: auch sie haben wir nicht gehört. Dass die Kanadiern im Laufe des Tages ihre Nationalität einfach wechselt — je nachdem mit wem sie spricht, wissen wir beim ersten Kaffee noch nicht. Für uns bleibt sie „die kanadische Fee“, für andere wird sie auf dem Camino Schweizerin sein. Zumindest hören wir am Mittag, dass sie sich so bei anderen vorstellt.

Nach der Pilgerkrise der letzten Tag ist der heutige Freitag fast lächerlich perfekt.
Nach einem feinen Frühstück gehts in strahlendem Sonnenschein los. In Montreal ist heute Markt, das gesamte Dorf scheint auf den Beinen. Nur unser 80-jähriger Filmmacherfreund von gestern taucht leider nicht auf. Wir hätten so gerne „adieu“ gesagt.

Der Weg ist den gesamten Tag freundlich zu uns. Nur ein einzige Mal versinken wir heute bis zu den Knöcheln im Matsch, der Rest ist trockenes Gras oder Wirtschaftsweg an Wein vorbei (für den schuheausziehenden Armagnac — lokaler Brandwein mit 40% Wumps) oder Fahrradweg im Schatten. Und den gesamten Tag keine einzige Wolke.

Mittagspäuschen ist in Lamotte. Angeblich gibt es hier eine Kirche und die einzige Picknickbank der gesamten, heutigen Etappe. Sagt der Pilgerführer. Die Realität aber hält eine zauberhafte Überraschung bereit.
Mittlerweile ist Lamotte nicht mehr nur eine einsame Kirche mit schweigendem Friedhof draußen dran, sondern hat sich anscheinend zum Pausenzentrum gemausert für alle, die die Etappe von Montreal nach Eauze pilgern.
Ein augenscheinlich sehr pilgerfreundliches Paar (Bauern oder Friedhofswächter?) hat hier einen Rastplatz improvisiert, mit allen Annehmlichkeiten, die man sich als Pilgerndes an einem sonnigen Freitagmittag wünscht:

Ein schneeweißer Golden Retriever (also eher White Retriever!?) begrüßt die Wanderleut freudig und schnorrt sich —trotz aller Warnungen— natürlich erfolgreich bei uns durch.
Die Pilgermama hat Kuchen und Nüsse und Obst und Sandwichs und Kaffee und kalte Getränke bereit gestellt. Bezahlung auf Vertrauensbasis.
An der Wand hängen abgelatschte Schuhe von ehemaligen Pilgern (teils mit 2500 Kilometern auf den Sohlen) und eine LGTBQ-Flagge.
Kanadische Stühle und Tische vor Aussicht auf ein Weintal. Ein Wasserclosett ohne Spiegel, stattdessen hängt eine Tafel über dem Waschbecken, die in mehreren Sprachen verkündet: Du bist schön. Und alle sind da:
Die Koreaner (sie flott, er Piratenbein), die sogleich mit uns ein Foto machen wollen.
Die kanadische Fee, die sich bei den Koreanern als Schweizerin vorstellt.
Ein neuer Wegbegleiter —graumelierter, biertrinkender Franzose um die 50– der von allen Anwesenden die Glückszahl erfragt, um diese Nummern heute beim Lotto zu tippen. Sollte er gewinnen, wird er mit jedem von uns, den er auf dem Weg wiedertrifft, seinen Gewinn teilen.
Und Claire! Diejenige, mit der wir mittlerweile die längste Zeit auf dem gemeinsamen Weg teilen. Seit mittlerweile 14 Tagen und 180 Kilometern laufen wir mit- und nebeneinander. Teils in der gleichen Herberge, einmal sogar im gleichen Zimmer. Wir haben Claire aus dem Matsch gerettet, sie am Kanal eingeholt — damals als sie mir sagte, dass ich sehr wohl unrecht hätte, wenn ich alle Religionen als einen Brei bezeichnen würde. In Moissac haben wir gemeinsam über ihre zerstörten Schuhe geseufzt (mittlerweile hat sie neue, die sie allerdings im Rucksack trägt. Zu sehr hat sie sich wohl an das Schluppen der mittlerweile ziemlich komplett gelösten Sohle gewöhnt. Und Angst vor Blasen in neuen Schuhen.)
Wir machen das, was wir schon beim vorletzten Treffen fest vereinbart hatten: ein Foto. Schön und wichtig.

Der Nachmittag geht so einfach weiter wie der Morgen. Es ist, als wolle der Weg uns mit allen Kräften zurückgewinnen, so schön präsentiert er sich. Und so viel Freude macht es plötzlich wieder genau hier unterwegs zu sein.

Kilometerweiter, schnurrgerader Radweg bis Eauze. Früher Eisenbahnstrecke, heute Meditationstippelweg im Schatten. Super Pilgerbänke alle zwei Kilometer: Bänke, für die man keinen Zentimeter in die Knie muss. Hier hat jemand mitgedacht: ein wandernder Landschaftsarchitekt sehr wahrscheinlich.
Am Wegesrand wächst wilder Spargel. Wir holen eine ältere Dame ein, die erzählt: den habe ihre Mutter immer gesammelt und teilt freimütig Rezepttipps mit uns. Bis Eauze flücken wir ein Sträußchen fürs Abendessen.

Nach knappen 20 Kilometern sind wir in Eauze.
Bis heute morgen schien es unglaublich unmöglich, irgendeine Unterkunft in Eauze zu finden, die hygienisch UND erschwinglich ist. Wir zogen am Morgen also gänzlich ohne Plan los.
Am Mittag aber meldete sich Arnaud auf unsere Anfrage per mail zurück: in seiner Gite sei heute Nacht noch Platz. Dahin also tippeln wir nach einem Belohnungsankommensbierchen vor der Kirche des Orts.

Um es kurz zu machen: Arnaud gibt uns per Telefon den Code der Haustür durch, er selbst sei heute nicht da. Wir stehen vollkommen alleine in einer verlassenen Herberge — als einzige Gäste heute Nacht. Das ganze Haus gehört uns. Inklusive Küche und Bad und Fußbad (wenn wir wollten). Letzteres aber wollen wir dann lieber doch nicht. 15 Euro pro Person, die vegetarische „DM“ (Demi-Pension = Halbpension) machen wir uns liebend gerne selbst:
Mit wildem Spargel an Cocktailtomaten als Vorspeise, Maccaroni an Tomaten-Parmesan als Hauptgang und Apfelkuchen als Dessert.
Heute kann es nichts schöneres geben, als auf der Via Podiensis unterwegs zu sein.
Happy Pilgern, da sind wir wieder.