Mit vollem Herzen haben wir gestern Hamburg verlassen.
Unterwegs gen Norden, ohne genaueren Plan. Es war eher ein Zufall, dass uns der Campingplatz an der Schlei über den Bildschirm hoppelte. Die Schlei?! In meiner Erinnerung bin ich dort noch nie gewesen…

Bereits kurz hinter Hamburg wird es deutlicher leerer. Blauer Himmel, weites Grün, altes Land.

Intuitiv hätte es uns eigentlich zum ersten Sortieren des Bullis (und unser selbst) an die Nordseeküste gezogen – weil Nordsee bekanntes Terrain, weil Husum geheime Lieblingsstadt ist, weil Wattenmeer wegen Schlamm und Wind etwas globetrottelig passendes hat.
Irgendetwas aber schlug die andere Richtung vor. An die Ostsee. Ans angeblich einzige Fjord Deutschlands. Unter einen Erdbeermond an der Schlei. Schlei!? Bin ich noch nie gewesen…

Der Campingplatz Wees liegt in Missunde, einem kleinen Dorf mit hutzeligen Reeddachhäusern, wilden Blumen und Schafen in den Vorgärten, einem Hünengrab und einer Fähre nach Brodersby.

Broders- bitte was? Brodersby?! Das kann doch nicht sein!?
Und plötzlich klappt eine Erinnerungskaskade im Kopf auf.

Das kleine Bauerndorf Brodersby –nahe bei Schleswig, weit weg von allem anderen—ist für mich Schauplatz unvergesslicher Kindheitserinnerungen gewesen. Die schönsten Bauernhofgeschichten, die ich live erleben durfte; Erinnerungen, die bis heute jeder meiner Hofphantasien ein Gerüst geben, ein inneres Bild.

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte der alte Hof der Familie Greve. Mama Frauke –viel eleganter, als man sich jemals eine Bauersfrau malen würde– bewarb sich in den 80ern bei Dieter-Thomas Hecks „Die Pyramide“. Sie wurde genommen und durfte spielen –gemeinsam mit der Stimme von Alf—gegen meinen Papa, der mit Schwester Elke aus der Schwarzwaldklinik antrat. Frauke gewann die Show und wir als Familie gewannen neue Freunde. Freunde im Norden, die auf einem alten Bauernhof lebten.

Bis heute rieche ich das frische Heu. Ich kann die Wärme der Eier in der Hand fühlen, die wir aus dem Hühnerstall klauten. Noch immer höre ich das Maunzen der kleinen Katzen im Ohr, die wir aus der alten Scheune retteten. Das pieksende Stroh unter nackten Füßen, der feuchtnasse Geruch des Schmutzfangs am Hintereingang, der Geschmack des „falschen Hasens“ im knorrigen Esszimmer, das Schnaufen der Bullen in der Scheune.
Es ist klar, wie wir diesen Tag gestalten…

Unser Weg führt uns zu Fuß mitten in die Vergangenheit. Wir nehmen die Fähre über die Schlei, Brodersby begrüßt uns mit einem kleinen Leuchtturm. Vorbei an Reeddachhäusern, über eine tiefgrüne Landstraße, an der Mitfahrbank weiter geradeaus über die welligen Felder.

Es sind 5km zu Fuß und über 35 Jahre zurück, um herauszufinden: Den Hof gibt es noch immer. Verkauft und saniert. Im alten Bullenstall befinden sich heute moderne Ferienwohnungen, der Heuboden aber atmet noch die gleiche Luft aus wie vor beinahe vier Jahrzehnten. Und auch ich habe mich kaum verändert – sagt mein Herz und läuft über.

Frauke können wir heute leider nur noch auf dem alten Brodersbyer Friedhof besuchen. Eine alte Dame führt uns zu ihr.

Danke, liebe Frauke, für diese wunderschönen Erinnerungen. Es war eine so schöne Zeit, damals. Vielleicht spielst Du mittlerweile ja wieder gegen Papa im Himmel … und dann lacht ihr beide wie verrückt, weil´s im Endeffekt ja immer ein Spielen mit- und niemals gegeneinander ist. Auch das ein schöner Gedanke. Ihr zwei zusammen dort oben, während wir anderen hier unten noch die Stellung halten.

Nach dem Friedhof gibt es für uns nur noch ganz viel Leben: in der Sonne über die Felder, die Schlei wirft windige Wellen. Ein Rhabarbarkuchen selbst gemacht mit Stangen aus dem Garten des „Geeler Kroogs“ mit ordentlich Sahne, danach Fischbrötchen, die hier natürlich als „vegan“ getaggt werden. Nur das Hünengrab am Rande von Missunde erzählt noch von gestern: ein vorvorgestern, das knappe 4000 Jahre alt ist. Das macht nicht mehr melancholisch, weil viel zu viel Auferstehungen zwischendrin passierten.

Zurück auf dem Campingplatz haben „Kuschelcamper“ neben uns eingeparkt. So nah, dass wir nicht mal mehr den Kofferraum öffnen können, auf einer leeren Wiese, die so groß wie ein Fußballfeld ist. Menschenherz – wie unterschiedlich kannst du sein.

Danach kommen die Zirkuskinder: ungefähr fünfzig an der Zahl. Wir wechseln den Ort, ohne uns bewegt zu haben: von der besinnlichen Schlei mitten hinein in ein wildes Jugendzeltlager.

Dank Telekomflatrate zur EM können wir das heutige Em-Spiel im Magicbus streamen. Wir freuen uns für die Schweizer Underdogs und die deutsche Mannschaft gleichzeitig und staunen darüber, dass für manche beim Sport der Spaß schmerzlich aufhört.

Ach Menschenherz – wie unterschiedlich kannst du sein.
Ein Sammelsurium aus Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen.
Und ich rieche den Heuboden der 80er.
Brodersby – hier bin ich schonmal gewesen…