Unterwegs im Magicbus

Monat: März 2024 (Seite 2 von 2)

Und der Yogitee sprach: Der Weg versorgt dich…

Und so schnell wie alle im Herbergswohnzimmer saßen, waren alle kurz nach neun genauso schnell auch schon wieder weg. Ab in die Pilgerfalle an des Pilgers Mitternacht.
Wir hingegen eiern noch bis halb elf in der Gegend herum und tapsen dann auf leisen Pfoten in ein stockdunkles Zimmer.
Unser Bettnachbarn haben mit den Jalousien die Nacht hermetisch abriegelt. Lustig, wie unterschiedlich Menschen doch sind. Wenn’s nach uns ginge, würden wir eher alle Fenster komplett rausreissen als in stockdunkler Dose schlafen zu müssen. Aber wer zuletzt kommt, malt zuletzt. Heute Nacht also Globetrottels in der Dunkeldose….
Oropax rein, Schlafbrille auf — trotz allem. Weil Pilger das halt so machen…

Wildeste Träume in der Nacht:
Ein Alligator im Maisfeld wird von einem Flugsaurier gerissen und davon getragen. Vor unserer Bonner Haustür gibt es plötzlich einen See, in dem wilde Braunbären baden: gerade aus dem Winterschlaf erwacht, rutschen sie vom gegenüberliegenden Dach ins Nass. Chouchou stürzt unbekleidet mir dem Fahrrad und hat danach eine schnittige Kurzhaarfrisur. Im stockdunkelen Dosenzimmer schlafen alle Pilger inklusive uns bis nachmittags um halb drei. Da es da schon wieder dunkelt, wir bleiben alle einfach liegen…
Unergründliches Menschenherz — was Du so träumen kannst.

Erwachen mit dem Gefühl, in der Nacht einen zu eng geschnallten Rucksack auf dem Rücken gehabt zu haben. Unergründlicher Menschenkörper.
Zum Trost um halb sieben aus dem oberen Etagenbett runterschleichen, um für zehn Minuten bei Chouchou unten ins Bett krabbeln. Fühlt sich an, wie das Anarchistischste, was ich seit Mitte der 90er gemacht habe.
10 Minuten weiter träumen….von frischer Luft, Sonnenaufgangslicht und weit geöffneten Fenstern.

In der Küche sind wir am Morgen allein. Schnell verstanden: die Dynamik der Herberge. Wer sich initial als Platzhirsch aufführt, dem gehört am Morgen auch der Wasserkocher.
Wir retten unsere Schlafsäcke auf die Wäscheleinen, um den Dosendunst der Nacht auszuschütteln, dann gibts Kaffee.
Sich so bewegen als wäre man zu Hause. Vielleicht ist das schon ein kleines Geheimnis!?
Schritt eins: diese Welt zu der unseren zu machen. Und darin einfach nur wir selbst bleiben…

Als allerletzte stiefeln wir um halb zehn los — ungefähr zwei Stunden nach den echten Pilgern. Tatsächlich ist es die Putzfrau, die uns aus der Herberge kegelt. Sonst wären wir wohl noch länger geblieben.

Erster Pilgertag startet unter dem Schutz aller Wandersgötter: bei strahlendem Sonnenschein geht es weiter die Hochebene hoch.
Die Gegend ist noch genauso schön, wie wir sie von 2022 in Erinnerung haben. Damals Ende September waren einige Wandersleut mit uns hier oben — und sehr vielem wunderschöne Kühe.
Heute sind wir gänzlich allein. Die Pilger sind lange vor uns weg und die Kühe kommen erst wieder im Mai nach dem Almauftrieb.
Sonnenschein, ein paar Vögel, Schneeschmelzbächlein im Feld und allerletzte Schneefelder. Sehr viel Ruhe unter einem sehr weiten Himmel.

Nach 7,5km die erste Pause zwischen Fliegen und mit Aussicht. Email der morgens angefragte Herberge: „Désolé nous sommes fermés aujourd’hui 🙏“.
Auch wenn Gegenteiliges auf der eigenen Webseite steht.
Es ist exakt die gleiche Chose wie gestern — heute aber waren wir etwas schlauer und haben vorher per Mail angefragt. Das Ergebnis aber bleibt das Selbe: bisher keine Herberge für die Nacht für uns.
Wir lernen: Vertraue nicht dem Internet. Und schreiben zwei weiteren, potentiellen Herbergen eine SMS und WhatsApp, da telefonisch niemand dran geht.

Aubrac.
Das erhoffte Café hat geschlossen. Außer einer Dame, die an einem zerrütteten Haus werkelt, sieht man keinen Menschen weit und breit. Natürlich auch keine Pilgerherberge — versteht sich von selbst. Also weiter.

Hinter Aubrac geht es knallhart bergab: genau genommen 600 Höhenmeter auf bösen Kullersteinen. Eine Haxenbrechstrecke durch den Wald. Alles sehr fuss- und kniegefährlich, aber äußerst idyllisch, auch das muss gesagt sein.
Ein Flüsschen furten und dann noch eins. Schmetterlinge und Vögel als einzig Lebendiges neben Bäumen und Gras. Der Mensch hat sich auch hier abgeschafft, wir sehen nur vereinzelte Ruinen. Sehr zauberhaft.

Bis St Chely d‘Aubrac, unserem Tagesziel nach 17km, hat sich keine weitere Herberge auf unsere Anfrage zurückgemeldet. Die, die wir telefonisch im Laufe des Tages dann doch noch erreichten, sind momentan auch noch geschlossen. Während des Abstiegs ins Dorf halten wir die Augen nach potentiellen, wilden Zeltcampörtchen offen. Und finden —auf Grund des Dauergefälles— kein einziges.

St Chely d‘Aubrac Zentrum, halb fünf.
Wir haben keine Ahnung, wohin jetzt mit uns. Also bestellen wir erstmal ein Bier in der einzigen Brasserie weit und breit. Eine vorgezogene „unter der Brücke“-Nummer. DIE immerhin hat St Chely. Keine offene Herberge, aber eine „Pont des pèlerins“ — eine „Pilgerbrücke“. Eine Pilger-unter-der-Brücke. Verstehste?

Schlussendlich wird natürlich alles wieder gut. In der Bar gehen wir nochmal alle Übernachtungsmöglichkeiten durch, die dieses Dorf zu bieten hat:
Sieben Herbergen: alle kontaktiert, alle geschlossen.
Campingplatz: zu. Wildcampen auf der Abschussrampe fällt auch raus. Genauso wie die „Unter-der- Brücke-Pilgerei“.
Ein Hotel: geschlossen. Kurz nach 17h sind wir allerdings so verzweifelt, dass wir trotzdem einfach klopfen.
Der Wirt öffnet und überlegt. Eigentlich sei das Hotel ja zu!? Aber wer, wenn nicht er, könne ein einziges Hotelzimmer einfach für geöffnet erklären!? Also, wenn es uns nichts ausmacht, dass des nachts niemand dort sein wird. Nee, das macht uns gar nix.
Gut. Ob wir Hunger haben? Ja. D´accord. Später stellt er uns etwas zu Essen einfach auf die Theke. Wein trinken wir dann so viel wie wir wollen.
Augen knipsen — ob ohne Steuer ok für uns sei!?
Natürlich. So haben wir heute alle etwas davon.

Schon gestern begegnete uns der Yogiteequatsch von wegen: Der Weg versorgt dich mit dem was du brauchst. Einfach vertrauen…
Heute mögen wir —um halb sechs abends—ja fast daran glauben.

Abends —frisch geduscht— in der einzigen Bar des Orts. Gefühlt sind alle Männer des Dorfs hier. Wir auch. Sie trinken herbes Bier, wir auch. Sie sprechen ein hartes Französisch, wir leider, leider nicht.
Der Abend ist Sommer lau, das Örtchensterben ist hier noch lange nicht angekommen.
Und unter dem Glockengeläut der verwitterten Kirche und dem Gezirpe der sich gleich schlafenlegenden Vögelchen der Midi-Pyrenées fühle ich für einen Moment:
Das Leben könnte eigentlich nicht schöner sein.
Zustand nach erstem Tag auf dem Jakobsweg.


Pilgerabend ganz ohne gepilgert zu sein

Der Wecker in Clermont Ferrand geht um halb acht, ein kollektives Geraunze aus den Kissen schallt zurück. Der erste Gedanke des Tages: warum zum Teufel machen wir das hier überhaupt?
Dringend liegen bleiben wollen…

Der Blick aus unserem Fenster geht auf den Exerzierplatz des 92. Regiments der französischen Infanterie. Junge Menschen joggen durch einen zarten Frühlingsmorgen im Zentralmassiv — bestenfalls für den Frieden. Nun gut, dafür macht es ja vielleicht auch Sinn aufzustehen: für megalomanes Pilgern für den Weltfrieden. Die Vulkankathedrale in der Ferne blickt stumm und dunkel.

Frühstück.
Nacheinander fallen mir diverse Utensilien aus der Hand: die Kaffeetassen, ein Glas, die Saftkaraffe. Es kommt einem Wunder gleich, dass nichts nachhaltig zerstört wird. Eine aufrichtige Entschuldigung beim netten Servicemenschen für meine unerklärliche Tapsigkeit folgt. „Pas de problème“, sagt der. Ich sei doch nicht tapsig, sondern lediglich „stark im Ausdruck“. Wie freundlich und aufbauend.

Die erste Überforderung des Tages setzt bereits mein Zusammenpacken der Rucksäcke ein.
Kaum was dabei, machen gerade die wenigen Überschaulichkeiten einen riesigen Schlamassel. Warum bloß? Ich weiß es nicht.
Beim Anziehen der Schuhe die erste Mittelfusspanikattacke: einen Moment lang bin mir ich mir sicher, bereits jetzt schon eine Marschfraktur zu haben. Im Kopf. Dort, wo der Weg anfängt.

Nächste Herausforderung: Handling der Zahnbürste.
Aus Gewichtsspargründen haben wir keine Zahnpasta dabei, sondern lediglich Zahnputzdragees, die lustigerweise wie überdimensionierte Valiumtabletten aussehen. Auch äußerst passend.

Am Busbahnhof gibt’s unverständliche Querelen, den Bus nach Aumont-Aubrac (140km für unglaubliche 2€) erwischen wir trotzdem pünktlich. Wie es von dort aus weiter geht, wissen wir allerdings noch nicht. (Geschweige denn, wo wir heute Nacht unterkommen.)
Am liebsten würden wir in St Chély d‘Aubrac wieder auf den Jakobsweg einsteigen. Dort, wo wir 2022 ausgestiegen sind. Allerdings scheint es bis dorthin keinen öffentlichen Nahverkehr zu geben. Stichwort: Hyperländischer Raum Frankreichs.
Ob wir ab mittags die 50km von Aumont-Aubrac bis St Chély nochmals zu Fuß gehen müssen? Peut-être.
Vielleicht aber finden wir noch einen Tingelbus, der uns weiter heranträgt an unseren Wunsch-Jakobswegwiedereinstiegpunkt. Zumindest bis Nasbinals!? Von dort wären es bis St. Chély d’Aubrac nur noch schöne 16km…
Das heutige Programm also lautet:
Mit Öffis so weit es geht wieder Anpirschen an St Chély d‘Aubrac. Was wie wo wann wohin geht, wird sich auf dem Weg ergeben. Ergo: das Abenteuer hat bereits begonnen.

Im Bus nach Aumont-Aubrac.
Schlierige Sonne über dem Zentralmassiv, ungewöhnlich warm mit 17 Grad für Ende März. Auf fernen Bergkuppen aber liegt noch Schnee.

Bus fahren über Hügel ist fein. Weil man Höhen bestaunen kann, die man nicht zu Fuß hoch oder runter muss.
Ein Greifvogel über Aubrac-Kuh, eine der schönsten Rinderart der Welt mit großen, weiß umrahmten Kulleraugen, tollen Hörnern und flauschig braunem Fell. Da sind sie wieder: die Wunderkühe, in die wir uns 2022 —beim Überwandern der Hochebene— unsterblich verliebten.

Busstopp: St Chely d‘Apcher.
Der Geruch von Rasierwasser wird geboardet. Alte, verwitterte Steinhäuschen, rau pittoreskes Dorf im Zentralmassiv. Ab hier pest der Bus nun über Land. Zackige Kurve, enge Holperstrassen, eigentlich müsste man ab hier anfangen, den Passagieren Tüten anzubieten.

Bahnhof Aumont Aubrac:
Ein eisiger Wind pfeift über den verlassenen Bahnhofsplatz. Auf 1000 Höhenmetern wirken die 17 Grad gleich deutlich frischer.
Wie befürchtet, fahren von hieraus tatsächlich keine Öffis mehr weiter nach Nirgendwo. Also in den Ortskern eiern in der Hoffnung auf eine taxieske Transportmöglichkeit. Denn klar ist: um eins am Mittag wollen wir die 26km bis Nasbinals zu Fuß auf keinen Fall mehr antreten. Nicht in unserem Trainingszustand, wir kämen heute nicht mehr an. Und ein wildes Zeltcamp auf der Aubrac’schen Hochebene ist uns am ersten Tag bei 5 grad nachts ein etwas zu abenteuerlicher Start.

In der Autowerkstatt können wir ein Taxi bestellen. Weil Werkstatt hier auch Tanke und Taxi macht. Mit einem Fahrer. Den muss die Dame an der Theke aber telefonisch erstmal erreichen…

Nach 30 Minuten brausen wir los. Schnittiger Mann um die sechzig am Steuer, ein Typ, der in einer Welt ohne Mittelstreifen und Fahrbahnbegrenzung lebt. Lockeres Steuerverreißen im angeregten Gespräch, um kurz vor drei schaffen wir drei es lebend bis nach Nasbinals. Über diese zauberhafte Aubrac‘sche Ebene— wir haben nie vergessen, wie wunderschön es hier ist. Und wie besonders. Nicht nur wegen der Kühe.

Nasbinals, 15h.
Unsere anvisierte Herberge hat zu. Sehen wir an den Bettskeletten im Garten, hören wir am Telefon — das Internet hat geflunkert bezüglich der Öffnungszeiten „toute de l´année“.

Gegenüber dem Hotel de France aber hat’s noch zwei Bettchen für uns. Stilecht übereinander mit knallbunten Filzdecken. Bisher ist nur Evan hier. Er arbeitet temporär in einem der zwei Restaurants des Orts und spielt für uns Bob Marley ein. Noch hoffen wir, dass der Rest der Gite heute Nacht für uns drei bleibt. 15 Euro pro Nacht inklusiver privater Delphintasse, die ich mir sofort für morgen reserviere, nachdem ich sie nochmal gespült habe. Zusammen mit Evans Müslischüssel, die anscheinend schon etwas länger auf einen Schuss Spüli einsam im Küchenbecken wartet.

Da wir noch nicht wissen, was Pilger nach dem Einchecken in eine Herberge sonst noch so tun, waschen wir erste Unterwäsche und T-Shirts im Waschbecken — eher aus Verlegen-, denn Notwendigkeit. Im Hochebenenwind und unter Hochebenensonne flattert sie sich flott frisch. Ein bisschen stolz.

Nasbinals ist schnell durchlaufen:
In der schlichten Kirche verewigen wir uns im goldenen Kirchenbuch und zünden ein paar Hände voll Kerzen an. Für alles Wichtige und gegen Fußangst.

In der Touri-Info holen wir uns den ersten Stempel und verstehen uns ganz wunderbar mit dem Mitarbeiter, indem wir ein Jibbrish aus Französisch, Deutsch und Spanisch anschlagen. Auch er ist schon den Jakoksweg ab Le Puy gepilgert: 40km pro Tag. „Un pocito loco,“ sagt er selbst, ein bisschen stolz, wie unsere Wäsche. „Un pocito loco …. y superb! Wirklich sehr,!“ sagen wir.

Im Minimarkt ums Eck kaufen wir Nüdelchen und Kronenbourg: weil in der Herberge heute auch gekocht und getrunken werden muss. Denn Evans Restaurant öffnet erst um 20h und hat nur Kuh auf der Speisekarte.

Bei der Rückkehr in die Gite hat diese sich —wie durch ein einbrechendes Wanderwunder— plötzlich gefüllt. Sehr gut, dass wir die Delphintasse und den Kuhbecher bereits reserviert haben.
Bei einem ersten Bierchen auf den Terasse bewundern wir die schönen Dächer um uns herum, schauen der Wäsche beim Flattern zu, Restsonne auf der Nase.

Und dann sind wir ganz schnell drin im ersten Pilgersetting. Beim Kochen kommt Liam zu uns, später dann Souvanna. Im Gespräch landen wir zügig unterhalb der oberflächlichen Themen, zackig schnell dran am Leben. Über Schuhangst und Unsterblichkeit..
Ein guter Vorgeschmack auf diesen, unseren, Camino, der eigentlich noch gar nicht begonnen hat.

In 11 Stunden und 11 Minuten nach Clermont-Ferrand mit Fußangst

Schlussendlich waren es kaum Tage Vorbereitung.
Was braucht man für einen Spaziergang für gute tausendfünfhundert Kilometer — wenn denn die Pfoten mitmachen?
Gefühlt haben wir es frei nach Douglas Adams gehalten: „Always take a towel.“ Und drei paar Socken pro Nase.
Mit sechseinhalb Kilo vs zehn ziehen wir heute morgen los: gefühlt einigermaßen unvorbereitet um fünf Uhr.
Möglicherweise ist das die größte Herausforderung!? Zumindest fühlt es sich nach zwei Stunden Schlaf —dank Reiseflöhen und vorauseilenden Fusspanikattacken— durchaus so an. Schön wär’s — wenn auch unrealistisch.

Die Bummelbahn nach Köln fährt um 05:22h. Bis Brühl sind wir die einzigen, die unter der tiefkühlenden Lüftung frieren. Die U18 schafft es trotz fehlender Fahrgäste bereits um diese Zeit eine ordentliche Verspätung rauszufahren. Nach fast eineinhalb Stunden erreichen wir den Dom … und unseren Thalys nach Paris nur äußerst knappig.
Unser einziger zwischenmenschlicher Kontakt bis hierher ist der Herr mit Brillenhämatom und Fahne kurz vor Gleis, der freimütig und ganz selbstverständlich bei uns ein Getränk bestellen will. Siehe: wir treten unsere Pilgerreise anscheinend mit „Eine Nacht mit Kumpels an der Bar“—Gesichtern an.

06:44h, Köln, Gleis 7:
Der Thalys ist bumsvoll. Unsere Sitznachbarin trägt Nackenhörnchen, während sie eine sehr bunte, sehr koreanische Gala durchblättert, der Schaffner spricht freundliches flämisch, lockeres luxemburgisch, heiteres holländisch, flottes französisch, deutsch und oxfordenglisch. Er staunt nicht schlecht und grinst sehr breit, als wir unsere PapierTickets nicht nur aus einer Klarsichthülle, sondern auch aus einem Bauchtäschchen zaubern.

Schau an. Das erste Mal im Leben außerhalb der Heimat unterwegs?!
Fast. „Letztes Mal war Klassenfahrt nach Nütterden“, sehr viel anders fühlt es sich tatsächlich nicht an. Jetzt fehlen nur noch die hartgekochten Eier und die selbstgemachten Frikadellen aus der Tuppabox. Und Serviettchen natürlich.

Gare du Nord, Paris — kurz vor Mittag. Halligalli ist hier der normale Ton, die Schlangen vor den Metroschaltern orakeln von fünfzehn Minuten Wartezeit bis alle ahnungslosen Reisenden ihre Tickets endlich gezogen haben.
Wir haben es nicht eilig. Unser Anschlusszug geht erst um eins. Das entspannt genauso wie die Tatsache, dass wir uns diesmal keinerlei Mühe geben müssen wie non-chalente Pariser aussehen zu wollen: nichts könnte weiter entfernt sein von Prêt-à-Portier als unser Outdoorlook. Ein schamloses Auftreten als Alemans Wanderer, die ab heute ihr Outfit monatelang nicht mehr wechseln werden — auch das nimmt seltsam Stress von einem.

Metro 4 und Metro 14 zum Gare de Bercy. Ab hier gehen nur Züge in die Bourgogne und in die Auvergne, immer zur vollen Stunde.
Zeit für ein spätes Frühstück am ZweiMännekesTisch mit Papiertischdecke im „Bristot du Metro“ ums Eck. Mit Saft und Sonnenschein und butterweichen Croissants, nach denen die Finger in munteren Fettschlieren schillern und die man hemmungslos krümeln darf.
Rechts werden dunkle Zigarillos geraucht, die so riechen, als seien sie bereits in den 90ern aus gesundheitlichen Gründen verboten worden, links wird Pastis mit Eiswürfeln kredenzt.

Am Bahnhof sitzt die Taubenfrau von Bercy. Schwarze Häkeljacke, grauer Zopf, ein altes Gesicht, das erstaunlich wenig Leben gesehen zu haben scheint. Entsprechend glatt die Haut, entsprechend verträumt die blauen Augen, der Blick verhangen in einer eigenen, wahrscheinlich schwer zugänglichen Welt, in der zentral nur ein Nähkörbchen zu stehen scheint.
Die Tauben kennen sie schon, die Träumende. Möglicherweise kommt sie täglich um halb eins, um ihre Linsen ausstreuen. Die meisten für ein einbeiniges Täubchen, das scheint sie besonders lieb zu haben.
Wir beobachten die Szene lange, lüften ein Geheimnis jedoch bis zum Schluss nicht: was bloß befindet sich in dem Nähkorb? Stricknadeln können es nicht sein, die bewegen sich nicht.
Chouchou tippt aus der Lameng auf Hase, ich aber werde den Verdacht nicht los, dass sie die lahme EinbeinTaube fangen und tauschen möchte gegen ein noch behinderteres Exemplar, das sie im Verborgenen schon lange mit sich durch die Stadt der Liebe trägt.

Nach Clermont-Ferrand im Sonnenschein.
Beim Einsteigen versuchen mehrere Fahrgäste hochengagiert einer Ukrainerin beim Finden ihrer Platznummer zu helfen, obwohl die schon längst auf ihrem
Plätzchen sitzt. Supportiv und ruckelnd geht’s pünktlich weiter.
Auen fliegen vorbei, ein Storch im Weiher, ein einsamer Mann schleckt Eis auf einer verwitterten Bank an einem Bach ohne Namen. Irgendwo in Frankreich.
Fast alle Passagiere schlafen irgendwann, nur in vereinzelten Reihen wird leise geschnieft. Viele Misteln in den kahlen Bäumen, Ente mit Auffahrunfall auf Container.

Ein netter Bengel mit Milchhaut und roter Fliege kommt irgendwann vorbei und schenkt Kaffee aus, während im hyperländlichen Frankreich vor dem Fenster nicht viel kaputt ist. Ein bisschen so, als sei die Welt für einen Schnellzugmoment vollkommen in Frieden mit sich.
Die Ukrainerin wird von ihrer unbekannten Sitznachbarin auf einen Kaffee eingeladen.

Welt fliegt vorbei. Es tut gut wieder zu schreiben. Auch, weil es von einem selbst ablenkt. Weil die Welt um so viel größer ist, wenn man einfach mal die Augen aufmacht und…ja… sie wirklich reinlässt in den oft so engen Kopf. Obendrein ist’s draußen oft so viel schöner als drinnen. Und auch interessanter.

16:37h.
Nach ziemlich exakten elf Stunden und elf Minuten Reisezeit rollen wir endlich in Clermont Ferrand ein. Vorher nie bemerkt: dieses Örtchen im Schatten des erloschenen Vulkans Puy de Dôme, mitten im Zentralmassiv, mitten in Frankreich.
Die Straßen um den Bahnhof: eher Gebrauchsgegend. Wir nehmen uns ein Zimmer für 44€. Das „Pression“ auf der „Roof top bar“ des Hostels: müde und köstlich, wenn auch nicht wirklich auf dem „roof“ oder „top“. Aber macht nix. Jetzt ist’s eh nur noch die Bar, die interessiert.

Eher zur Probe, denn aus Notwendigkeit wasche ich mir am Abend die Füße im Waschbecken, um sie danach mit Hirschtalg einzusalben. Das machen Pilger so, habe ich mir sagen lassen.
Ob’s was bringt? Woher soll ich’s wissen? Wir sind ja noch nicht gelaufen.
Eines aber ist sicher: gegen Fussangst hilft sie nicht.

Von meinem iPhone gesendet

Ausgepackt. Den Globetrottels ihre Pilgerpackliste

Zelten & Outdoor

  • Zelt Triplex 709g
  • Bodenplane Tyvek 145g
  • Heringe 104g
  • Wanderstöcke 2x290g
  • Schlafsack Hyperion 2x577g
  • Seideninlett 2x157g
  • Isomatten Neoair 2x380g
  • Therm-a-Rest Repair Kit 12g
  • Luftpumpe Xwing 70g
  • Therm-a-Rest Couple Kit 79g
  • Kopfkissen 2x58g
  • Alusitzkissen 2x26g
  • Schaufel The Deuce 17g
  • Rucksack 60l 890g
  • Rucksack 45l 800g
  • Regencover 2x100g
  • Trinksystem Platypus 2l 2x105g
  • Reepschnur, Minikarabiner, Packsäcke, Minirucksack, Bauchtasche …

Küche

  • Gaskocher 25g
  • Spirituskocher 44g
  • Spiritus 300ml
  • Windschutz 20g
  • Topf 650ml 71g
  • Tasse 2x25g
  • Kaffee 200g
  • Messer Opinel 28g
  • Taschenmesser 54g
  • Glöffel 2x9g
  • Faltflaschen 1l 2x25g
  • Faltflasche Rotwein 0,8l 24g
  • Wasserfilter Beefree 0,6l 59g
  • Teller 2x38g
  • Trichter, Feuerzeug, Tuch, …

elektrisches

  • Navi 236g
  • InReach 97g
  • Taschenlampen 2x26g
  • Powerbanks 10000mAh 2x150g
  • Ladegerät 47W 91g
  • USB-Kabel + Adapter 80g
  • Handys
  • Uhr
  • Tastatur 250g
  • Mikrophone 124g
  • Stativ 80g
  • GoPro 172g
  • Kamera 120g
  • Adapter, SD-Karten, Kopfhörer, …

Bad

  • Elektrische Zahnbürste 64g
  • Zahnputztabletten ca. 60g
  • Handtuch 2x40g
  • Seife, Shampoo, Deo, Medikamente, Ohropax, Zeckenzange, Tape, Erste-Hilfe, Nagelknipser, Desinfektion, Brillen, Kontaktlinsen & -flüssigkeit, Haargummis, Rasierer, Mückenstichbruzzler…

Klamotten pro Nase

  • tShirts ca. 3x100g
  • Pullover 2x140g
  • Fleecejacke ca. 300g
  • Windbreakerjacke 110g
  • Daunen- bzw. Synthetikjacke ca. 300g
  • Wanderhose
  • Knuffelhose/Leggins ca. 150g
  • Icebreakerhose ca. 150g
  • Unterhosen 3x30g
  • Regenjacke und -hose 180g
  • Poncho 230g
  • Wanderschuhe
  • Gamaschen 109g
  • Crocs ca. 330g
  • Wandersocken 3x
  • Gürtel, Mützen, Buffs, Handschuhe…

Kleinkram

  • Pilgerausweise 2x24g
  • Christopherusanhänger 8g
  • Geld, Kreditkarten, Ausweise
  • Näh- und Flickzeug
  • Aufkleber
  • Freitag der Orka 10g
  • Stift, Papier, Trillerpfeife, Einkaufstasche, Taschentücher

Was in der Zwischenzeit geschah…

Die Abgabe des Magicbus im Hafen von Baltimore läuft problemlos. Just mit Schlüsselübergabe streiken die Nasen das erste Mal. Es soll ein Auftakt eines langen Nebenhöhlenterrors werden, der uns die nächsten Monate begleiten wird. Das aber wissen wir noch nicht. Die letzten Tage auf amerikanischem Boden verbringen wir im Bett, glaubend, dass es sich lediglich um Reisemüdigkeit handelt.

Am 16. Dezember geht’s über Island nach Paris. Der Vulkan vor Ort bricht nicht aus, so dass wir trotz Verspätung eine Maschine der Play-Airline nach Charles de Gaulle erwischen. In Paris hat sich nichts verändert. Auch nicht unsere Angst vor Taxis. Trotzdem oder weil wir bereits 36 Stunden wach sind. Wir besteigen die Metro und schleppen je 23 Kilo Kilometer quer durch die Stadt. Im Jardin du Luxembourg scheint eine adventliche Sonne. Wir spüren, aber sehen sie nicht, da wir die Augen nicht mehr öffnen können.

17.12.: Hochzeitstag in Paris nach 16 Stunden Schlaf. Am Sacre Coeur singen wir –mittlerweile wieder mit geöffneten Augen—„Imagine“ mit Blick auf die Stadt. Chouchous Frage: Willst Du noch ein Jahr meine Frau sein, wird mit Ja beantwortet. Das Baguette kracht beim reinbeißen, die Patisserie ums Eck führt Schokotörtchen mit Blattgold. Die Welt könnte kaum besser sein. Wenn der glitschige Schnupfen nicht wäre.

Mit dem Zug geht’s nach Bonn, dann nach Bocholt, von dort mit dem Auto nach Potsdam kurz vor den Feiertagen. Das erste Weihnachten ohne Papa. Alle Beteiligten fangen sich Corona ein. Nur wir nicht: unsere Nebenhöhlen sind bereits mit einem anderen Virus infiziert. 2. Weihnachtstag in Eitorf: alle fit, außer uns.

Zwei Tage vor Silvester mit Freunden an der holländischen See. Die Party scheitert einen Tag später an Fieber, Luftnot und notwendiger Präsenz im Heimathafen. Das Meer sehe ich kein einziges Mal, aber die Matratze im Ferienhaus ist weich. Die Reise wird vor Ende abgebrochen.

Silvester / Neujahr. Beim Blick in den Spiegel schaut ein Klingone zurück. Meine Nebenhöhlen haben sich mittlerweile nach außen gestülpt. Wir rufen Claasi an, da ein Gang zum niedergelassenen Arzt noch ausgeschlossen ist: unsere europäische Krankenkasse hat unsere Aufnahme bisher noch nicht rückbestätigt. Die erste Antibiotikakur beginnt.

Erste Januarwoche. Bocholt. Da Mama bald umzieht, wird die alte Wohnung entrümpelt.

Zweite Januarwoche. Hamburg. Ein paar Tage bei Claire, wir sammeln den Magicbus im Hafen wieder ein. Nach zweifachem Mucken springt er bei Schneekälte an.

Dritte Januarwoche. Abfahrt nach Andalusien. Glauben wir noch. Wir kommen bis Südfrankreich. Ein paar sonnige Tage in Meze – mit Blick aufs Meer. Ende des Monats wollen wir uns mit Pia und Werner in Katalonien treffen.
Das Treffen kommt zu Stande: wir verbringen ein paar schöne Tage im Kreis alter Freunde.

Anfang Februar: Weiterfahrt gen Süden scheitert an einem Raubüberfall auf der Autobahn. Die Ortung unseres Handys rettet einen Großteil unserer Sachen, indem wir sie Stunden später wiederfinden. Nicht so der Knaller: die spanische Polizei. Dafür großer Freundschaftsmoment, da Pia und Werner uns zur Hilfe eilen und uns ihre Visakarte als Backup überlassen. Wider Erwarten muss unsere Reise hier nun doch nicht vorzeitig enden.

Erste Februarwoche. Prades. Sonnentage im katalonischen Gebirge. Leider schlägt unerwartet der Nachtfrost im Dachzelt zu. Die nicht gänzlich erholten Nebenhöhlen streiken erneut. Ein paar Tage halten sie sich noch wacker auf Hartschnupfenniveau, das Fieber schlägt erst ab Herault wieder zu – wohin wir uns sonnentechnisch evakuiert haben.

Zweite/ dritte Februarwoche. Das marode Immunsystem zwingt uns aus dem Dachzelt. Zweiter Antibiotikazyklus startet. Wir finden auf dem Campingplatz in Banyuls sur mer ein günstiges Mobilehome mit Blick auf die Pyrenäen: unser Zauberberg. Ab nun heißt es eine Woche komplett flachliegen. Lediglich Antoine – der Campkater—kommt ab und an zu Besuch. Nach 8 Tagen haben wir erstmals wieder einen Funken Kraft, um die zwei Kilometer zum Meer zu laufen. Der Zauberberg soll 12 Tage dauern. Die Nebenhöhlen lassen die Hälfte an Luft wieder durch, nur ein Restschnupfen und tiefe Müdigkeit halten sich hartnäckig.

Vierte Februarwoche. Rückfahrt nach Bonn. Dank endlich erhaltener Krankenkassenkarte schaut sich ein HNO die Gesundheitslage mal an: verschleppt. Pech. Mama zieht in Bocholt um. Jede Hand wird nun gebraucht.

Erste Märzwoche. Bonn. Abklappern von Ärzten, nicht alles läuft so problemlos wie erhofft. Immerhin wird die Nase nach knappen 9 Wochen nun endlich etwas besser. Einer meiner liebsten Kollegen stirbt. Es wird mittlerweile dringend Zeit, auf den Jakobsweg zu kommen.

Zweite Märzwoche. Die Organisation von guten 1500 Kilometern zu Fuß startet. Die gekauften Wanderschuhe stellen sich als zu groß, die entstandenen Mittelfußschmerzen als nicht zu klein heraus. Es kommt einem Wunder gleich, dass ich sie noch umtauschen kann: die Schuhe, nicht die Füße. Aus purer Kulanz. Oder Mitleid.
Zweifelsohne sind wir in der körperlich schlechtesten Verfassung unserer Selbst, um Ende März die letzten 1500km von St Chély d´Aubrac in der Occitanie (bis dorthin sind wir in den Jahren 2018 bis 2022 von Bonn aus schon gekommen) bis Santiago in Angriff zu nehmen:
Immunsystem platt, fünf amerikanische Kilo mehr auf den Rippen als Standard, 10 Monate kein Sport mehr gemacht, Mittelfußschmerzen.
Das einzige, das nun noch helfen kann, sind wohl Gebete.
Immerhin werden wir dafür bald am richtigen Ort sein….

Wir sind dann bald mal weg

Minimalistisches Probebloggen mit Hape:

»Ich bin dann mal weg!« Viel mehr habe ich meinen Freunden eigentlich nicht gesagt, bevor ich gestartet bin. Ich wandere halt mal eben durch Spanien. Meine Freundin Isabel kommentierte das sehr lapidar mit: »Aha, jetzt bist du durchgeknallt!«.
Was, um Himmels willen, hat mich eigentlich dazu getrieben, mich auf diese Pilgerreise zu begeben?

[…]

Wenn ich nur an den langen Fußmarsch denke, könnte ich mich jetzt schon vierzehn Tage ausruhen.

Hape Kerkeling. Die vermutlich einzige vernünftige Vorbereitung auf den Jakobsweg… 

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