Und so schnell wie alle im Herbergswohnzimmer saßen, waren alle kurz nach neun genauso schnell auch schon wieder weg. Ab in die Pilgerfalle an des Pilgers Mitternacht.
Wir hingegen eiern noch bis halb elf in der Gegend herum und tapsen dann auf leisen Pfoten in ein stockdunkles Zimmer.
Unser Bettnachbarn haben mit den Jalousien die Nacht hermetisch abriegelt. Lustig, wie unterschiedlich Menschen doch sind. Wenn’s nach uns ginge, würden wir eher alle Fenster komplett rausreissen als in stockdunkler Dose schlafen zu müssen. Aber wer zuletzt kommt, malt zuletzt. Heute Nacht also Globetrottels in der Dunkeldose….
Oropax rein, Schlafbrille auf — trotz allem. Weil Pilger das halt so machen…
Wildeste Träume in der Nacht:
Ein Alligator im Maisfeld wird von einem Flugsaurier gerissen und davon getragen. Vor unserer Bonner Haustür gibt es plötzlich einen See, in dem wilde Braunbären baden: gerade aus dem Winterschlaf erwacht, rutschen sie vom gegenüberliegenden Dach ins Nass. Chouchou stürzt unbekleidet mir dem Fahrrad und hat danach eine schnittige Kurzhaarfrisur. Im stockdunkelen Dosenzimmer schlafen alle Pilger inklusive uns bis nachmittags um halb drei. Da es da schon wieder dunkelt, wir bleiben alle einfach liegen…
Unergründliches Menschenherz — was Du so träumen kannst.
Erwachen mit dem Gefühl, in der Nacht einen zu eng geschnallten Rucksack auf dem Rücken gehabt zu haben. Unergründlicher Menschenkörper.
Zum Trost um halb sieben aus dem oberen Etagenbett runterschleichen, um für zehn Minuten bei Chouchou unten ins Bett krabbeln. Fühlt sich an, wie das Anarchistischste, was ich seit Mitte der 90er gemacht habe.
10 Minuten weiter träumen….von frischer Luft, Sonnenaufgangslicht und weit geöffneten Fenstern.
In der Küche sind wir am Morgen allein. Schnell verstanden: die Dynamik der Herberge. Wer sich initial als Platzhirsch aufführt, dem gehört am Morgen auch der Wasserkocher.
Wir retten unsere Schlafsäcke auf die Wäscheleinen, um den Dosendunst der Nacht auszuschütteln, dann gibts Kaffee.
Sich so bewegen als wäre man zu Hause. Vielleicht ist das schon ein kleines Geheimnis!?
Schritt eins: diese Welt zu der unseren zu machen. Und darin einfach nur wir selbst bleiben…
Als allerletzte stiefeln wir um halb zehn los — ungefähr zwei Stunden nach den echten Pilgern. Tatsächlich ist es die Putzfrau, die uns aus der Herberge kegelt. Sonst wären wir wohl noch länger geblieben.
Erster Pilgertag startet unter dem Schutz aller Wandersgötter: bei strahlendem Sonnenschein geht es weiter die Hochebene hoch.
Die Gegend ist noch genauso schön, wie wir sie von 2022 in Erinnerung haben. Damals Ende September waren einige Wandersleut mit uns hier oben — und sehr vielem wunderschöne Kühe.
Heute sind wir gänzlich allein. Die Pilger sind lange vor uns weg und die Kühe kommen erst wieder im Mai nach dem Almauftrieb.
Sonnenschein, ein paar Vögel, Schneeschmelzbächlein im Feld und allerletzte Schneefelder. Sehr viel Ruhe unter einem sehr weiten Himmel.
Nach 7,5km die erste Pause zwischen Fliegen und mit Aussicht. Email der morgens angefragte Herberge: „Désolé nous sommes fermés aujourd’hui 🙏“.
Auch wenn Gegenteiliges auf der eigenen Webseite steht.
Es ist exakt die gleiche Chose wie gestern — heute aber waren wir etwas schlauer und haben vorher per Mail angefragt. Das Ergebnis aber bleibt das Selbe: bisher keine Herberge für die Nacht für uns.
Wir lernen: Vertraue nicht dem Internet. Und schreiben zwei weiteren, potentiellen Herbergen eine SMS und WhatsApp, da telefonisch niemand dran geht.
Aubrac.
Das erhoffte Café hat geschlossen. Außer einer Dame, die an einem zerrütteten Haus werkelt, sieht man keinen Menschen weit und breit. Natürlich auch keine Pilgerherberge — versteht sich von selbst. Also weiter.
Hinter Aubrac geht es knallhart bergab: genau genommen 600 Höhenmeter auf bösen Kullersteinen. Eine Haxenbrechstrecke durch den Wald. Alles sehr fuss- und kniegefährlich, aber äußerst idyllisch, auch das muss gesagt sein.
Ein Flüsschen furten und dann noch eins. Schmetterlinge und Vögel als einzig Lebendiges neben Bäumen und Gras. Der Mensch hat sich auch hier abgeschafft, wir sehen nur vereinzelte Ruinen. Sehr zauberhaft.
Bis St Chely d‘Aubrac, unserem Tagesziel nach 17km, hat sich keine weitere Herberge auf unsere Anfrage zurückgemeldet. Die, die wir telefonisch im Laufe des Tages dann doch noch erreichten, sind momentan auch noch geschlossen. Während des Abstiegs ins Dorf halten wir die Augen nach potentiellen, wilden Zeltcampörtchen offen. Und finden —auf Grund des Dauergefälles— kein einziges.
St Chely d‘Aubrac Zentrum, halb fünf.
Wir haben keine Ahnung, wohin jetzt mit uns. Also bestellen wir erstmal ein Bier in der einzigen Brasserie weit und breit. Eine vorgezogene „unter der Brücke“-Nummer. DIE immerhin hat St Chely. Keine offene Herberge, aber eine „Pont des pèlerins“ — eine „Pilgerbrücke“. Eine Pilger-unter-der-Brücke. Verstehste?
Schlussendlich wird natürlich alles wieder gut. In der Bar gehen wir nochmal alle Übernachtungsmöglichkeiten durch, die dieses Dorf zu bieten hat:
Sieben Herbergen: alle kontaktiert, alle geschlossen.
Campingplatz: zu. Wildcampen auf der Abschussrampe fällt auch raus. Genauso wie die „Unter-der- Brücke-Pilgerei“.
Ein Hotel: geschlossen. Kurz nach 17h sind wir allerdings so verzweifelt, dass wir trotzdem einfach klopfen.
Der Wirt öffnet und überlegt. Eigentlich sei das Hotel ja zu!? Aber wer, wenn nicht er, könne ein einziges Hotelzimmer einfach für geöffnet erklären!? Also, wenn es uns nichts ausmacht, dass des nachts niemand dort sein wird. Nee, das macht uns gar nix.
Gut. Ob wir Hunger haben? Ja. D´accord. Später stellt er uns etwas zu Essen einfach auf die Theke. Wein trinken wir dann so viel wie wir wollen.
Augen knipsen — ob ohne Steuer ok für uns sei!?
Natürlich. So haben wir heute alle etwas davon.
Schon gestern begegnete uns der Yogiteequatsch von wegen: Der Weg versorgt dich mit dem was du brauchst. Einfach vertrauen…
Heute mögen wir —um halb sechs abends—ja fast daran glauben.
Abends —frisch geduscht— in der einzigen Bar des Orts. Gefühlt sind alle Männer des Dorfs hier. Wir auch. Sie trinken herbes Bier, wir auch. Sie sprechen ein hartes Französisch, wir leider, leider nicht.
Der Abend ist Sommer lau, das Örtchensterben ist hier noch lange nicht angekommen.
Und unter dem Glockengeläut der verwitterten Kirche und dem Gezirpe der sich gleich schlafenlegenden Vögelchen der Midi-Pyrenées fühle ich für einen Moment:
Das Leben könnte eigentlich nicht schöner sein.
Zustand nach erstem Tag auf dem Jakobsweg.